3. Theoretische und praktische Begründung

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3.1. Theoretische Begründung

Fantasiereisen sollen pädagogisch eingesetzt, Vorstellungen wecken und nutzen, um jenseits des Symbolischen Gefühle anzusprechen. Des Weiteren sollen sie die Stimmungen der Person ausdrücken und Erlebnisse vermitteln, die überwiegend Spannungen abbauen oder die Kreativität fördern. Hier ist es besonders wichtig, dass die sprachliche Ebene mithilfe von Bildern unterstützt wird, die sich direkt an das Imaginäre wenden und dieses anregen. Solche Vorgänge gehen stets mit Projektionen von Wünschen, Gefühlen, Stimmungen usw. einher. Sie schließen oft Übertragungen auf die beteiligten Personen ein. Daher sollten sich insbesondere die Lehrenden oder Seminarleiter bewusst machen, welche möglichen Übertragungen sie erzeugen, vor allem aber in welche Richtung sie die „Reisenden“ führen. Hier sind manipulative Maßnahmen auf jeden Fall zu vermeiden. Daher müssen die Bilder offen genug sein, um den individuellen Unterschieden der Tagträume einer Lerngruppe einen hinreichend breiten Raum zu gewähren. Für die konstruktivistische Didaktik drücken Fantasiereisen einen Zugang jenseits der Sprachmauer (vgl. Reich, K.: Systemisch-konstruktivistische Pädagogik. Weinheim 2005, Kap. 4) aus. Sie beziehen sich auf die lange Tradition von Metaphern und Bildern sowie Träumen und Mythen, in denen Menschen ihre Wünsche, aber auch Ängste schon lange thematisieren. Auch durch Fantasiereisen können die „Reisenden“ in die Welt ihrer Vorstellungen gelangen. Dort auftauchende Bilder können neue Sichtweisen und Perspektiven für das Handeln in der Außenwelt eröffnen, wenn man sich diese bewusst macht.


Exkurs zum Katathymen Bilderleben

Katathymes Bilderleben (KB), auch Symboldrama genannt, wurde ca. um 1954 von Hans Carl Leuner entwickelt, um mit Hilfe von Imagination und Tagträumen therapeutisch zu arbeiten. Leuner entwickelte das KB aus der Theorie der Tiefenpsychologie und aus den Arbeiten von Freud und Jung heraus.
Als eine Tagtraum-Technik geht das KB grundsätzlich von zwei Prämissen aus:
„1. dass das Erleben des Menschen – und sei es auch nur in der Fantasie – und die damit verbundene Freisetzung emotional-affektiver Impulse gemäß den jeweiligen individuellen Bedürfnissen eine intensive, d.h. tiefgreifende Auseinandersetzung mit sich selbst zu Folge hat;
2. dass diese fantasiegetragene Auseinandersetzung unter den empirisch gewonnenen Einsichten der Tiefenpsychologie zu betrachten und am besten aufzuschlüsseln ist.“ [Katathymes Bilderleben mit Kindern und Jugendlichen / Hanscarl Leuner; Günther Horn; Edda Klessman. Unter Mitarb. Von Gisela Gerber...- 3., völlig neubearb. Aufl. – München; Basel: E. Reinhardt, 1990]
Durch das KB werden Konfliktthemen des Unbewussten aufgedeckt und können auf der Ebene des Tagtraumes mit Hilfe des Therapeuten erkannt und bearbeitet werden. Der Patient soll durch diese Imagination eine Ich- Stärkung erfahren und in der Lage sein, sich mit seinen Problemen auseinanderzusetzen. Zudem soll er kreative Lösungen finden und Entscheidungen treffen.
Ein katathymes Bild ist eine Imagination, die deutlich, dreidimensional und farbig und ohne willentliche Anstrengung vor dem geistigen Auge, der sich in Entspannung befindenden Person entsteht. Dieses Bild kann sich zu einer Bildabfolge verbinden, die, je nach Ver­anlagung und Übung, nahezu lebendig wahrgenommen werden kann. Anders ist es bei willentlichen Vorstellungen, die wir uns nur zwanghaft vor Augen halten können und die auch in ihrer Intensität meist in geringerem Maße lebendig erscheinen.
Es handelt sich bei dem Einsatz dieser Methode um ein dialogisches Setting, wobei sowohl verbale als auch non- verbale Bereiche existieren. Der Patient wird nach einer Ent­spannungsphase zu einem vom Therapeuten ausgesuchten Motiv geführt, wobei die Wahl des Motivs nicht aufgezwungen werden darf. Der Therapeut versucht den Patienten anzuleiten, sich in seinem Motiv umzuschauen. Gleichzeitig soll der Patient dem Therapeuten über sein Erleben sofort berichten, so dass der Therapeut im Kontakt mit dem Tagtraumerleben des Patienten bleibt und selbiges begleiten kann. Der Therapeut sollte weder den Patienten suggestiv in seiner Wahl oder seinem Erleben beeinflussen wollen, noch die notwendige Distanz zu dem berichteten Erleben des Patienten verlieren. Die Intervention des Therapeuten an den Patienten sollte daher möglichst allgemein formuliert sein. Mögliche direkte Nach­fragen können nach dem KB an den Patienten gestellt werden.
Das Katathyme Bilderleben ist eine klar definierte Methode mit einem stufenweisen Aufbau. Nach Leuner gibt es drei Stufen, die der Grundstufe, der Mittelstufe und der Oberstufe. In ihnen unterscheiden sich die Motive. Von einfacheren und einleitenden Motiven, wie z.B. der Wiese oder einem Fluss, können die Motive sich in der Oberstufe bis zu konkreten, tief verdrängten Problemen aus der eigenen Kindheit wandeln. Ebenfalls werden die thera­peutischen Techniken und Kenntnisse erweitert. Eine erfolgreiche Behandlung kann nach Leuner aber auch schon auf der Grundstufe erfolge.
Wie lassen sich diese therapeutischen Begründungen ggf. auf Unterrichtssituationen übertragen? Wird der therapeutische Anspruch entfernt, kann das Bilderleben zu einer Er­weiterung des Wahrnehmungs- und Erlebnishorizontes genutzt werden. Dabei muss der oder die Lehrende jedoch strikt beachten, dass er/sie nicht in tiefenpsychologische Deutungen verfällt, sondern diese Methode ausschließlich als Angebot einer Selbstreflexion und eines Dialoges hierüber versteht.

Bedeutung der Standardmotive der Grundstufe für den Unterricht könnten dann z.B. sein:
Wiese: Sie kann eine aktuelle Gestimmtheit widerspiegeln. Oft dient sie als einleitendes Motiv und bietet die Basis, andere Motive erschließen zu können. Im KB kann sich der Wahrnehmende auf der Wiese ähnlich wie in der Realität bewegen und diese mit allen Sinnen wahrnehmen.
Bach: Wasser besitzt eine sehr enge Beziehung zum Unbewussten und steht für Lebenskraft. Der Bach ist Ausdruck der fließenden seelisch-emotionalen Entwicklung. An das Motiv des Baches kann die Lehrkraft die Aufgabe stellen, dem Bachlauf hin zur Quelle zu folgen oder stromabwärts zum Meer. Konflikte in der emotionalen Entwicklung zeigen sich in der Schwierigkeit der Lösung dieser Aufgabe.
Berg: Der Berg verkörpert Leistungsthemen. Dieses Motiv kann in drei Bereiche aufgeteilt werden. a) Der Aufstieg dient als eigentliches Symbol für die Leistung. Gelingt dieser leicht, so ist der Wahrnehmende meist auch im Alltag relativ unbelastet. Treten bei der Berg­besteigung viele Hindernisse auf, kann von einer Leistungsproblematik ausgegangen werden. b) Der Rundblick gibt einen geistigen Überblick über die innerseelische und emotionale Verfassung. Und c) der Abstieg, in dem besonders Wandlungsphänomene von Bedeutung sind. Eine Ich-Stärkung nach vollbrachter Leistung wird oft durch positive Veränderungen deutlich. Der Abstieg kann aber auch mit Widerstreben vollzogen werden, wenn er in Ver­bindung mit sozialem Abstieg gebracht wird.
Haus: Dieses Motiv sollte erst bei schon vorliegenden Erfahrungen mit der Methode angewandt werden. Das Haus kann als Ausdruck der eigenen Person dienen. Es kann die Selbstwahrnehmung verdeutlichen oder auch ein ideales Selbstbild zeigen. In ihm können unter anderem verborgene sowie unbewusste Triebtendenzen aufgedeckt werden.
Waldrand: Auf der Grundstufe soll die Möglichkeit einer Begegnung mit freien Symbolgestalten gegeben werden. Der Wahrnehmende befindet sich an einem Waldrand und wartet auf die Gestalten, die aus diesem hervortreten können. Der Wald steht als Symbol des Unbewussten. Er sollte daher nicht aufgefordert werden den Wald zu betreten, da sonst Widerstände hervorgerufen werden könnten.

Als Unterrichtsmethode kann das KB auch ohne tiefenpsychologische Deutungsansprüche dazu führen, dass Fantasiereisen als Tagträume unterschiedliche Assoziationen wecken. Wichtig ist dabei, diese Assoziationen offen wirken zu lassen. Es sollte gemeinsam und im Dialog diskutiert werden, was die Einzelnen wahrgenommen haben, welche Deutungen sie sehen, welche Wünsche sich damit verbinden usw. Dabei ist im Prozess darauf zu achten, dass

  • keine negative Übertragungsreaktion zur Lehrkraft entsteht (sie entsteht insbesondere dann, wenn die Lehrkraft eine eindeutige Erklärung versuchen würde);
  • die Vergegenwärtigung der Gefühlslagen der Einzelnen auch auf der Wahrnehmungs­ebene stattfindet und anschließend bearbeitet wird (z.B. durch Zeichnungen, Gestaltungen);
  • die Wahrnehmenden mit ihren Wahrnehmungen konfrontiert werden, um zu einer inneren Auseinandersetzung zu gelangen; hier kann insbesondere der Gruppenprozess und gemeinsamer Dialog vor innerer Regression bewahren;
  • eine Bearbeitung der Wahrnehmungen insbesondere bei Erwartungen, Ängsten, Wünschen eine Möglichkeit darstellt, sich freier gegenüber den eigenen Bildern zu verhalten, wenn man sie als eine Version von Wirklichkeitskonstruktion und nicht als die „Falle des Lebens, in der man ausweglos steckt“ sehen kann; hierzu muss im Dialog dazu angeregt werden, über imaginäre Aktionen und Tätigkeiten schwierige Situationen oder Themen mit neuen Bildern zu bewältigen.

Beim Einsatz dieser Methode benötigt die Lehrkraft in jedem Fall Vorerfahrungen bzw. Weiterbildungen in Bereich der Fantasiereisen.



3.2. Praktische Begründung

Bei Fantasiereisen geht es um Vorstellungen aus allen Sinnesbereichen, z.B. um auditive Vorstellungen, um kinästhetische Vorstellungen, aber auch um Geschmacks- und Geruchsvorstellungen. Der Inhalt der Bilder ist abhängig vom Ziel der Fantasiereise, wobei es in der Literatur viele Beispiele zur Entspannung, zur Lernförderung oder zur Persönlichkeitsentwicklung gibt.
Die in Fantasiereisen angestrebten Visualisierungen sollen die Kreativität anregen und auf diese Art einen Zugang zum kreativen Denken schaffen. Der Reisende lernt so, Alltagsprobleme auf unterschiedliche Arten zu lösen. Fantasiereisen werden aus der Praxis heraus oft als bloße Technik gesehen. Dies erscheint jedoch als problematisch, da in Fantasie­reisen nicht selten Projektionen und Übertragungen ausgelöst werden. Die „Reiseleitung“ sollte sich stets überlegen, welche Auswirkungen die gewählten imaginären Reisen hervorrufen können.