Kurze Beschreibung der Methode
Primäre und sekundäre Quellen
Theoretische und praktische Begründung
Darstellung der Methode
Beispiele
Reflexion der Methode
Praxiserfahrungen

5. Beispiele

>> 5.1 Beispiel: Wetter-Werkstatt
>> 5.2 Lesen durch Schreiben– Schriftspracherwerb im Werkstattunterricht

 

5.1 Beispiel: Wetter-Werkstatt

Im Rahmen eines Referats über Werkstattunterricht an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg führte ich mit Studenten eine „kleine“ Werkstatt durch, um ihnen einen konkreten Eindruck davon zu vermitteln. Diese Werkstatt kann jedoch auch ohne Probleme in der Grundschule verwendet werden (siehe unten).
Im folgenden sollen die Angebote sowie die entstandenen Ergebnisse kurz vorgestellt werden. Anschließend werden die bei einer Übertragung auf die Schule wichtigen Aspekte erläutert. Auch wenn diese Werkstatt nicht in allen Einzelheiten dem Konzept Jürgen Reichens entspricht, so enthält sie doch die meisten wichtigen Elemente des Werkstattunterrichts.


5.1.1 Das Thema

Es handelt sich um eine thematische Werkstatt, mit einem vorbereiteten Angebot an Aufgaben verschiedener Fächer, aus dem die Teilnehmer frei auswählen können, ohne eine vorgesehene Reihenfolge. Das Thema der Werkstatt, „Wetter“, ist ein Thema aus der Grundschule , das dort in der 3. Klasse behandelt wird.


5.1.2 Das Lernangebot

5.1.2.1 Die Aufgaben

Die Aufgaben sind alle mit dem Thema der Werkstatt verbunden und fordern verschiedene Aktivitäten, die sich unterschiedlichen Fächern zu ordnen lassen. Es wurde angestrebt, Aufgaben zu finden, die, wie Jürgen Reichen es fordert, viel Eigenaktivität erfordern sowie selbständiges und problemorientiertes Denken. Wie im Werkstattunterricht ist jedes Angebot mit einer Auftragskarte versehen, die den Titel der Aufgabe trägt und Auskunft gibt über die Sozialform (es kann jedoch auch jeweils eine größere Sozialform gewählt werden: z.B. Einzel- Þ Partnerarbeit), darüber, ob es sich um ein obligatorisches oder freiwilliges Angebot handelt, und wie es kontrolliert wird. Im Folgenden werden die einzelnen Aufgaben kurz vorgestellt:

Ein Windmessgerät bauen

Ein Windmessgerät bauen

J

freiwillig

Selbstkontrolle

Baue ein Gerät, mit dem man messen kann, ob Wind weht, und evtl. auch, aus welcher Richtung er kommt oder wie stark er weht. Prüfe mit dem Fön, ob dein Windmesser funktioniert.

*Anschlussaufgabe: Gestalte deinen Windmesser möglichst ansprechend und phantasievoll und/oder mache ihn regenfest, um ihn einige Tage zur Windbeobachtung draußen aufstellen zu können.

**Zusatzaufgabe: Schreibe eine genaue Bauanleitung für deinen Windmesser, nach der ihn jeder nachbauen könnte.


Ein Wetterspiel erfinden

Ein Wetterspiel erfinden

J J

freiwillig

Selbstkontrolle

Erfindet ein Spiel über das Wetter. Es sollte auch schon von Schülern einer 3.Klasse gespielt werden können! Zur Kontrolle spielt euer Spiel einmal durch, wenn ihr fertig seid.


Wettermusik machen

Wettermusik machen

J J J

freiwillig

Vorführung im Plenum

Sucht und baut euch ein paar Instrumente zusammen, mit denen ihr verschiedenes Wetter nachspielen könnt. (Auch Geräusche mit dem Mund oder Körperteilen sind möglich.) Präsentiert eure Wettermusik anschließend im Plenum.

*Anschlussaufgabe: Spielt ohne Worte eine kleine Wettergeschichte (-abfolge) vor, so dass die anderen Studentinnen erraten können, was gerade passiert.


Freies Angebot

Freies Angebot

J

freiwillig

Selbstkontrolle

Entwirf ein Arbeitsblatt, ein Rätsel, eine Aktivität oder irgendein anderes werkstatt-taugliches Angebot, das zum Thema Wetter (3. Schuljahr) passt.


5
.1.2.2 Benötigtes Material:

Zur Bearbeitung der Aufgaben steht den Teilnehmern verschiedenes Material zur Verfügung, das sie frei wählen und nach ihren Vorstellungen bearbeiten und verwenden können:

  • Papier
  • Schere
  • Tesafilm
  • Klebstoff
  • Klebeband
  • Nadel & Faden
  • Stoffreste
  • Korken
  • Schnur
  • Gummis
  • Holzstöcke
  • Luftballons
  • Zange & Draht
  • Lineal
  • Zirkel
  • Fön
  • Plastik- und Papiertüten
  • Hammer & Nägel
  • Marmeladengläser
  • Flaschen
  • Löffel
  • Becher
  • Strohhalme
  • Alufolie
  • Verschiedene Musikinstrumente: Xylophon, Trommeln, Rasseln, Tamburin,...
  • Wasserfarben
  • Pinsel
  • Karteikarten
  • Stifte
  • Wachsmalfarben
  • Tonpapier
  • Kartons
  • ...

 

 

5.1.2.3 Fachliche Bezüge

Die vier Angebote decken verschiedene Bereiche ab und beinhalten so Aspekte aus verschiedenen Fächern der Grundschule: Beim Bau des Windmessgerätes sind vor allem Tätigkeiten aus der Technik und der Mathematik gefordert, es muss abgemessen, konstruiert, berechnet, kalkuliert,... werden; bei der Anschlussaufgabe geht es mit der ästhetischen Gestaltung des Windmessers um Aspekte aus der Kunst, und die Zusatzaufgabe schließlich verlangt mit der Verfassung einer Bauanleitung Fähigkeiten aus dem Fach Deutsch.
Die zweite Aufgabe lässt sich weniger eindeutig zuordnen. Sie ist freier gestellt und je nach Art des erfundenen Spiels können dabei ganz verschiedene Tätigkeiten oder Wissensfragen von Bedeutung sein. Es wird hierbei sicher mehr um inhaltliche Bereiche des Themas Wetter gehen, also hauptsächlich um Inhalte des Sachunterrichts.
Die dritte Aufgabe enthält vor allem Elemente aus der Musik, beispielsweise werden dabei Rhythmus, Klanggefühl und das Differenzieren und Auswählen verschiedener Geräusche und Töne gefordert.
Das freie Angebot ist völlig offen und kann deshalb alle möglichen Inhalte oder Fähigkeiten fordern.
Oft lassen sich die im Werkstattunterricht ablaufenden Handlungen und Lernprozesse gar nicht eindeutig diesem oder jenem Fach zuordnen. Dies entspricht der eher fächerübergreifenden Unterrichtsform: Die Grenzen überschneiden sich und zudem laufen viele Dinge ab, die gar nicht zugeordnet werden können. Dementsprechend liegt eine besondere Stärke des Werkstattunterrichts vor allem auch in der Betonung des Lernen-Lernens und der Förderung von Schlüsselkompetenzen.

 

5.1.3 Ablauf

Der Ablauf entspricht dem im Werkstattunterricht üblichen: Zu Beginn liegen die Angebote und die Materialien bereit. Die Teilnehmer haben Zeit, herumzugehen und sich einen ersten Überblick zu verschaffen. Anschließend entscheiden sie sich und bilden gegebenenfalls je nach Sozialform Paare oder Gruppen. Nun ist auch noch Zeit, auftauchende Fragen und Probleme zu klären. Dann kann mit der Arbeit begonnen werden. Nach einer vereinbarten Zeit werden die Werkstatt beendet und die Materialien aufgeräumt. Zum Schluss treffen sich alle im Forum, wo die Ergebnisse vorgestellt werden.


5.1.4 Ergebnisse

Die Vorstellung der Ergebnisse war spannend und sehr ertragreich. Es war erstaunlich, welch gute Ergebnisse in der kurzen Zeit entstanden waren. Interessant war auch, dass sowohl in Einzel-, Partner- und auch Gruppenarbeit gearbeitet worden war. Insgesamt wurde diese Art zu arbeiten von allen Teilnehmern als sehr positiv bewertet.

Zu Aufgabe 1: Das Windmessgerät
Diese Aufgabe wurde zweimal bearbeitet:Eine Studentin beschloss, diese Aufgabe in Einzelarbeit zu erledigen. Ihr Windmesser bestand aus einer Plastiktüte, die sie mit einem Loch versehen hatte und mit einer Schnur an einem Stock befestigt hatte. Wie sie uns berichtete, hatte sie ähnliche Konstruktionen am Rand von Autobahnen gesehen und nun versucht, diese nachzubauen. Bei der Demonstration des Windmessers fiel jedoch auf, dass es von großem Nachteil war, dass die Tüte nicht drehbar war: der Windmesser funktionierte so nur, wenn der Wind aus einer ganz bestimmten Richtung kam, sobald er aus einer anderen wehte, wurde das nicht mehr angezeigt. Die Studentin gab zu, dass sie sehr schnell und flüchtig gearbeitet hatte und sich gar nicht richtig in die Arbeit vertieft hatte, um dann möglichst schnell noch bei der Gruppe mit der 3. Aufgabe mitmachen zu können.
Die gleiche Aufgabe wurde von zwei Studentinnen, die beschlossen hatten, in Partnerarbeit zu arbeiten, ganz anders gelöst. Sie konstruierten ein Kreuz, auf dem die vier Himmelsrichtungen eingetragen waren. Dieses sollte draußen entsprechend den Himmelsrichtungen ausgerichtet und fest installiert werden. An jedem Ende des Kreuzes hatten sie lange Streifen aus buntem leichten Stoff befestigt, die schon bei wenig Wind bewegt wurden. Anhand der Himmelsrichtungen ließ sich damit die Himmelsrichtung bestimmen, und je nachdem wie hoch die Stoffstreifen wehen, auch die Windstärke. Bei der Vorstellung konnte dies problemlos mit dem Fön als Wind demonstriert werden. Zudem hatten sie noch mit der ersten Anschlussaufgabe begonnen, und den Windmesser bunt gestaltet, sowie mit einem Stern verziert. Die beiden Studentinnen berichteten von sehr positiven Erfahrungen. Sie hatten sich die gesamte Zeit allein mit dieser Aufgabe beschäftigt und waren ganz darin vertieft. Sie erlebten die Partnerarbeit als sehr positiv und fruchtbar und kamen durch den ständigen Gedankenaustausch zu immer neuen Ideen. Sie erzählten auch, dass sie zu Beginn noch sehr komplizierte Ideen gehabt hätten, die sie evtl. weitergeführt hätten, wenn ausreichend Zeit gewesen wäre. So z.B. die Idee einer Windmühle, die durch ihre Drehung einen Hampelmann bewegt.

Zu Aufgabe 2: Das Wetterspiel
Für diese Aufgabe entschied sich eine Gruppe von drei Teilnehmern. Wie sie berichteten, beschäftigten sie sich zunächst einige Zeit mit den Vorüberlegungen über die Art des Spiels. Sie überlegten, ob sie ein Brettspiel, ein Wissensspiel oder ein Bewegungsspiel erfinden sollten und entschieden sich schließlich für letzteres. Sie erfanden ein Bewegungsspiel, bei dem die verschiedenen Wetterarten durch bestimmte Geräusche oder Musikimpulse dargestellt wurden. Bei jedem Impuls musste eine wetterbezogene Bewegung ausgeführt werden. Diese Bewegungen konnten vorher festgelegt oder frei gelassen werden. Die Gruppe überlegte sich zu verschiedenen Wetterarten passende Geräusche, sowie auch mögliche Bewegungen, wobei sie öfters Probleme beim konkreten Formulieren ihrer Ideen hatten.

Wetter:

Geräusch:

Bewegung:

Sonne

Helle, freundliche Töne auf dem Xylophon

In die Sonne legen; sonnen

Regen

Rasseln

Geduckt rennen; versuchen, sich vor dem Regen zu schützen

Nebel

Stille

Vorsichtig durch den Raum tasten, als ob man nichts sieht

Glatteis

Ein Glas über einen glatten Tisch schieben

Schlittern; wie auf Eis laufen

Sturm

Pusten, blasen, heulen

Sich gegen den Wind vorkämpfen

Gewitter (Donner)

Schläge auf Tamburin

Sich klein machen

Wir spielten das Spiel zur Probe einmal durch. Es machte allen sehr viel Spaß, doch wir erkannten, dass eine passende Hintergrundmusik wichtig wäre, um noch mehr Atmosphäre zu erzeugen.

 

Zu Aufgabe 3: Die Wettermusik
Für dieses Angebot entschieden sich die meisten Teilnehmer. So fand sich hierbei eine Gruppe von vier Studentinnen zusammen. Sie spielten zunächst vor, welches Wetter sie mit welchen Geräuschen darstellen wollten:

Sonne:

Tröpfeln:

Starker Regen:

Sturm:

Donner:

Blitz:

Melodische Töne auf Xylophonen

Wasser in Marmeladengläsern schütteln, Rasseln

Wildes Wasserschütteln/ Rasseln, mit Xylophon

Knistern mit Alufolie; Pusten

Schläge auf Tamburin

Lampe ein- und ausschalten; kleine Becken aneinander schlagen

Anschließend spielten sie eine Wetterabfolge: Bei ruhigem schönen Sonnenwetter kam langsam ein Unwetter mit Sturm, Gewitter und Regen auf, dies ließ langsam nach und zum Schluss kam die Sonne wieder heraus. Es fiel den Zuhörern jedoch nicht immer leicht, dies alles zu erkennen, weil das „Musizieren“ der Gruppe meistens sehr laut und ziemlich chaotisch ablief. Trotzdem gefiel die Vorstellung allen. Die Gruppe hatte selbst viel Spaß an dem Lärm, den sie produzierte und außerdem ein gutes Gruppengefühl, was sie auch nach außen ausstrahlte. Deshalb übertrug sich ihre Begeisterung und gute Laune auch auf die Zuschauer.

Zu Aufgabe 4: Das freie Angebot
Niemand entschied sich für das freie Angebot. Dies ist typisch bei „Werkstattanfängern“. Die Fähigkeit, sich selbst eine passende Aufgabe zu stellen, muss erst mit der Zeit erlernt werden. Dennoch sollte die Möglichkeit eines freien Angebots immer gegeben sein.

 

5.1.5 Übertragung auf die Grundschule

Diese „kleine“ Werkstatt war für die Studentinnen eines Seminars in der Lehrerbildung konzipiert. Sie lässt sich jedoch problemlos auch in der Grundschule verwenden: So könnten die vier Aufgaben unverändert übernommen werden; sie sind auch für Kinder der 3. Klasse geeignet. Auch der Ablauf stimmt im Prinzip mit Jürgen Reichens Konzept überein und könnte so in der Grundschule durchgeführt werden.
Einige Änderungen und Ergänzungen wären jedoch wichtig, da im Seminar beispielsweise Zeitrahmen, Teilnehmerzahl und Räumlichkeiten doch recht begrenzt waren. Klar ist, dass nur vier Angebote für eine „echte“ Werkstatt in der Schule nicht ausreichen. Die Angebote decken zwar bereits verschiedene Bereiche ab, zusätzlich wären jedoch noch verschiedene Arbeitsblätter sowie Experimente zum Thema Wetter nötig, um auch den eigentlichen inhaltlichen Teil des Themas und die Frage, wie das Wetter entsteht, zu klären und mehr in den Mittelpunkt zu stellen. Gegebenenfalls könnte es in diesem Zusammenhang auch ein obligatorisches Angebot geben, dass bei dieser Werkstatt gar nicht vorkam. Dies ist jedoch nicht unbedingt nötig, weil auch Jürgen Reichen empfiehlt, die obligatorischen Angebote möglichst zu begrenzen.
Auch das Chefsystem konnte in diesem Rahmen nicht verwirklicht werden, wäre aber in der Grundschule möglich und empfehlenswert. Eventuell könnten verschiedene Aspekte des Wetters durch Vorträge von einzelnen Schülern oder Schülergruppen dem Rest der Klasse vorgestellt werden, um so eine Grundlage an Vorwissen zu schaffen.
Die Vorstellung von Ergebnissen zum Schluss im Plenum ist sinnvoll und wichtig und sollte deshalb auf jeden Fall auch in der Grundschule durchgeführt werden. Die Präsentationen sollten dort jedoch begrenzt werden. Eine so ausführliche Vorstellung aller Ergebnisse wie bei uns im Seminar ist natürlich normalerweise schon aus zeitlichen Gründen nicht möglich und auch nicht sinnvoll. Im Unterricht sollte man deshalb mehr Wert auf Selbstkontrolle oder Kontrolle durch die jeweiligen Chefs legen.

Weitere Beispiele nach Reichens Konzept finden sich auch unter 7. Praxiserfahrungen.

 

5.2 Lesen durch Schreiben – Schriftspracherwerb im Werkstattunterricht

Das Konzept „Lesen durch Schreiben“ wurde ebenfalls von Jürgen Reichen entwickelt und stellt eine Anwendung des Werkstattunterrichts dar. Dahinter steht zum einen ein „anderer“ Leselehrgang, der in vielen Punkten in völligem Widerspruch zu den klassischen Leselernmethoden steht und deshalb nicht unumstritten ist. So gab „Lesen durch Schreiben“ immer wieder Anlass zu Diskussionen, Untersuchungen und der Dokumentation von Erfahrungen mit dieser Methode. Zum anderen möchte „Lesen durch Schreiben“ aber mehr sein als nur ein Leselehrgang. Zur Verwirklichung der angestrebten Ziele baut Reichen „Lesen durch Schreiben“ auf dem Konzept des Werkstattunterrichts auf. Werkstattunterricht und „Lesen durch Schreiben“ hängen deshalb eng miteinander zusammen; sie sind zudem verbunden durch Reichens Vorstellungen und Ziele von Lernen und Unterricht.
In der genaueren Betrachtung und Analyse von „Lesen durch Schreiben“ kristallisieren sich deshalb auch die Ziele und Hintergründe des Werkstattunterricht-Konzepts erneut deutlich heraus. In diesem Sinne soll das Konzept „Lesen durch Schreiben“ im Folgenden genauer beleuchtet werden, wobei untersucht wird, wo und in welcher Weise Verbindungen zum Konzept des Werkstattunterrichts bestehen.


5.2.1 Beschreibung

„Lesen durch Schreiben“ bezeichnet das Lesenlernen auf dem Weg des „Verschriftens“. Reichen versteht darunter aber mehr als nur einen Leselehrgang, sondern vielmehr eine „Methode“, ein Lernkonzept: „in erster Linie ist es der Versuch, einen offenen, kommunikativen und selbstgesteuerten Unterricht zu ermöglichen“ (Reichen 1992, S. 6). Die Kinder sollen dabei nicht nur das Lesen, sondern vor allem auch das Lernen lernen. Ausgehend von seiner pädagogischen Grundüberzeugung, dass fast jedes Kind neugierig und lernwillig in die Schule kommt und bei richtiger Anregung und Anleitung den Lernstoff selbständig erarbeitet, stellt Reichen (1988a, S.5) an den Unterricht folgende Forderungen:

  • Individualisierung des Lernens
  • Gemeinschaftsbildung
  • Gesamtunterrichtlichtes Lernangebot.

Diesen Forderungen entsprechend stützt sich „Lesen durch Schreiben“ auf drei grundlegende Prinzipien, die in ihrem Zusammenwirken eine Öffnung des Unterrichts bewirken:

Lesedidaktisches Prinzip: „Lesen durch Schreiben“
Reichen (1988a, S. 5) geht von der Überlegung aus, dass Lesen und Schreiben nicht als isolierte Vorgänge zu betrachten sind, sondern prozesshaft zusammengehören. Die Schüler lernen deshalb in seinem Lehrgang zunächst nicht Lesen, sondern ausschließlich Schreiben. Reichen versteht jedoch „Schreiben“ nicht als motorische Fertigkeit, sondern als Kodierung: als der geistliche Akt, gesprochene Sprache mit Schriftzeichen auszudrücken.
Anstelle von Leseforderungen gilt als das wichtigste Lernziel „die Fähigkeit des Kindes, ein beliebiges Wort in seine Lautabfolge zu zerlegen und phonetisch vollständig aufzuschreiben“ (Reichen 1984, S. 233).
Der Lehrgang vermittelt den Schülern deshalb von Anfang an Einsicht in das Prinzip unserer Lautschrift und stellt die Hinführung zur Lautstruktur in den Mittelpunkt der Lernanstrengungen des Anfangsunterrichts (vgl. Reichen 1984, S. 233).
Das zentrale Arbeitsmittel ist eine Bilder-Buchstabentabelle (vgl. Abb.8), mit deren Hilfe die Kinder selbständig jedes beliebige Wort schreiben können. Sie müssen dazu das jeweilige Wort zunächst in seine Lautkette zerlegen, die entsprechenden Anlaute in der Tabelle wiederfinden und können dann die zum Schreiben notwendigen Buchstaben von der Tabelle abmalen. Auf diese Weise können die Schüler prinzipiell alles schreiben, was sie wollen. Es wird also von Anfang an mit dem gesamten Laut- und Buchstabenbestand gearbeitet, so dass der Wortschatz durch nichts eingeschränkt wird.
Darüber hinaus macht die Buchstabentabelle Übungen zur Buchstaben-Laut-Zuordnung überflüssig. Der Schüler soll die Tabelle solange benutzen können, wie er will. Wenn er mit ihrer Hilfe immer wieder selbstgewählte Wörter und Texte schreibt, speichert er mit der Zeit die Buchstaben-Laut-Zuordnung und kann bald auch ohne Tabelle schreiben (vgl. Reichen 1992b, S.6).
Wenn dieses Verfahren beherrscht wird, stellt sich die Lesekompetenz als automatisches Begleitprodukt des Schreiben von selbst ein.

Abbildung 4: Buchstabentabelle (Reichen 1988a, S. 17)

Das Lesen im engeren Sinne wird deshalb zunächst aus dem Unterricht ausgespart; man wartet konsequent, bis der Schüler von sich aus liest. Reichen betont immer wieder, wie wichtig es ist, Kinder niemals zum Lesen aufzufordern oder gar zu zwingen. Der Lehrgang enthält jedoch vielfältige indirekte Leseanreize, die die Lesemotivation der Kinder indirekt steigern sollen (vgl. Reichen 1992b, S.6).
Reichen (1988a, 16) bestreitet nicht, dass der Lehrgang „Lesen durch Schreiben“ eine sehr anspruchsvolle Lernarbeit von den Schülern verlangt: Der Erwerb eines differenzieren Artikulationsbewusstseins ist unabdingbar. Lauterkennung, -unterscheidung und -zerlegung sind von grundlegender Bedeutung. Besonders aber das Auflautieren, d.h. das Abhören der Lautgestalt eines Wortes und deren phonetische Aufgliederung in eine Wortkette, bereitet manchen Kindern zunächst große Schwierigkeiten.
Reichen weist deshalb darauf hin, dass diesem Punkt im Unterricht besondere Beachtung zu schenken ist und dass man wissen sollte, dass schwächere Schüler das ganze erste Schuljahr benötigen können, bis sie auch lautlich anspruchsvollere Wörter richtig auflautieren. „Das Auflautieren ist die eigentlich entscheidende Hürde, die das Kind auf dem Weg zum Lesenkönnen zu nehmen hat, wenn es „durch Schreiben“ lesen lernt. Ist diese hohe Hürde genommen, dann fällt einem eigentlich alles andere in den Schoß“ (Reichen 1988a, S. 6).

Lernpsychologisches Prinzip: Selbstgesteuertes Lernen
Bei den klassischen Leselehrmethoden ist eine Abfolge chronologischer Lernschritte vorgegeben. Das Lernen erfolgt hauptsächlich durch Nachahmung und im Gleichschritt. Reichen ist hingegen davon überzeugt, dass das Nachahmungslernen mit anschließender Dauerübung nicht der optimale Weg ist, „sondern dass selbstgesteuertes Lernen durch Selbstentdeckung mit funktional-begleitender Mitübung das überlegenere Lernverfahren ist“ (Reichen 1988a, S.7).
Die Ermöglichung von selbstgesteuertem Lernen ist deshalb ein grundlegendes Ziel von „Lesen durch Schreiben“: „Am Lehrgang ist letztlich nicht entscheidend, dass man vom Schreiben ausgeht statt vom Lesen, sondern die andere Art des Lernens, die nahegelegt wird: „durch Schreiben“ kann der Schüler nämlich selbstgesteuert Lesen lernen“ (Reichen 1988a, S. 7). Den Kindern wird so ein aktives, nicht rezeptives Lernen ermöglicht, wodurch sie ihr Lernen ihrem eigenen Tempo entsprechend selbständig vorantreiben können.
Laut Reichen orientiert sich der Lehrgang „an der ungewohnten These, Leseunterricht sei umso wirkungsvoller, je unspezifischer er sei“ (Reichen 1992b, S. 6).
Deshalb versteht sich „Lesen und Schreiben“, wie oben ausgeführt, erst in zweiter Linie als ein Leselehrgang. Es wird dementsprechend auch nicht die reine Lesetechnik vermittelt. Im Mittelpunkt des Unterrichts stehen vielmehr „eine allgemeine, umfassende Förderung und Erweiterung von Sprachkompetenz, Wahrnehmungsfähigkeiten, Lesefertigkeiten im weitesten Sinne (Verständnis von Bildern, Piktogrammen, Verkehrszeichen, Gestik, Mimik u. ä.) sowie einer aufgabenbezogenen Arbeitshaltung (Konzentrationsvermögen und Anweisungs­verständnis)“ (Reichen 1992b, S.6).
Des weiteren geht Reichen davon aus, dass Lesen und Schreiben eine komplexe Leistung von Sprach- Wahrnehmungs- und Denkprozessen ist, deshalb enthält der Lehrgang neben Lernangeboten zum Schreiben und Lesen auch Angebote in den Bereichen Sprache, Wahrnehmung und Denken.
Das Material besteht daher nicht aus einer Fibel im herkömmlichen Sinne, sondern aus einem strukturierten Angebot, das sich beliebig kombinieren lässt, weitgehend frei einsetzbar ist und vor allem keinem zeitlichen Einsatzplan folgt. Es gliedert sich nach Art eines Baukastensystems in verschiedene Teile; hauptsächlich in sogenanntes Basismaterial und vier begleitende Rahmenthemen:
- Das Basismaterial enthält ein offenes Materialangebot in Form von Arbeitsblättern, didaktischen Spielen, Lern- und Übungsprogrammen, bei denen das Lern-Kontrollgerät Sabefix verwendet wird, sowie Lernsoftware in Form von elektronischen Arbeitsblättern, die am Computer bearbeitet werden können. Es ist nicht chronologisch geordnet und kann sehr gut im Werkstattunterricht eingesetzt werden.
- Die Rahmenthemen bestehen dagegen aus gesamtunterrichtlich ausgearbeiteten Unterrichtsvorschlägen, die ein Gegengewicht zum Basismaterial bilden sollen. Sie enthalten Lern- und Übungsangebote, die den Materialien des Basismaterials zwar ergänzend entsprechen, aber in chronologischer Reihenfolge angeordnet sind und inhaltlich eine Einheit bilden. Die Rahmenthemen beinhalten Schul- und Alltagssituationen der Kinder; sie bieten Möglichkeiten zu sozialem Lernen und schaffen Erlebnisfelder: zum Ausgleich der individuellen freien Lernsituation arbeitet hierbei die ganze Klasse an einem gemeinsamen Thema. (vgl. Reichen 1988a, S.11 f.).

Schulpädagogisches Prinzip: Werkstattunterricht
Ebenso wie das Konzept des Werkstattunterrichts baut auch der Lehrgang „Lesen und Schreiben“ auf Reichens Grundüberzeugung auf, dass fast alle Kinder aus sich heraus lernfähig und lernbereit sind, und dass das kindliche Lernen in der Schule oftmals mehr gestört als unterstützt wird. Daneben orientiert er sich an der psycholinguistischen These, die besagt, „dass der Anteil von Nachahmungsleistungen, d.h. Aneignung und Übernahme von lesetechnischen Grundverfahren, im Bereich des Leselernens recht gering ist, da Kinder vorab durch aktive, innere Gestaltungsprozesse die Kompetenz zu Lesen und Schreiben erwerben“ (Reichen 1992b, S. 6). Deshalb soll bei „Lesen durch Schreiben“ der Selbstaktivität der Schüler möglichst viel Raum gegeben und die unumgänglichen Anteile rezeptiven Lernens klein gehalten werden.
Dies ist ein Grund, weshalb Werkstattunterricht die ideale Basis für „Lesen durch Schreiben“ bildet: nach Reichen ist Werkstattunterricht die Unterrichtsform, in der selbstgesteuertes Lernen am besten verwirklicht werden kann. Es wird individualisiert und fächerübergreifend gearbeitet; der mündliche Unterricht entfällt fast ganz.

Abbildung 5: Eine normale Situation im Werkstattunterricht: An den Computern schreiben Schüler in Partner- oder Gruppenarbeit eigene Texte, der Schüler links löst eine andere Aufgabe der Werkstatt in Einzelarbeit. Die Schüler arbeiten eigenständig und selbsttätig. Der Lehrer (rechts) hat dadurch Zeit, mit einem einzelnen Schüler individuelle Defizite aufzuarbeiten.

Ein weiterer Aspekt macht die Verbindung deutlich: Reichen geht bei seinem Konzept „Lesen durch Schreiben“ davon aus, dass Schreib- und Leselernprozesse nicht als isolierte Vorgänge betrachtet werden dürfen, sondern vielmehr eingebettet sind in die Gesamtheit aller Lernprozesse, mit denen sich ein Kind auseinander zu setzen hat. Der Leselehrgang folgt deshalb nicht, wie es bei den klassischen Lehrgängen der Fall ist, der linearen Abfolge von vermeintlich aufeinander aufbauenden Lernschritten, sondern der Komplexität des Gesamtlernprozesses der Kinder. (vgl. Reichen 1992b, S.6).Den Kindern soll nicht ein im Voraus festgelegter Weg vorgeschrieben, sondern die Möglichkeit gegeben werden, ihren eigenen Lernweg zu finden.
Auch dafür ist Werkstattunterricht vorgesehen: die Vorgabe eines offenen didaktischen Angebots, bei dem die einzelnen Übungs- und Lernmaterialien flexibel nutzbar sind, entspricht dem Material von „Lesen durch Schreiben“. Im Baukastenprinzip kann dies in der Werkstatt angeboten und frei genutzt werden. Auf diese Weise legt schon die Art des Materials von „Lesen durch Schreiben“ die Durchführung von Werkstattunterricht nahe.
Im Werkstattunterricht sind innerhalb des Angebots ganz verschiedene Aktivitäten zur Auswahl möglich. So werden bei „Lesen durch Schreiben“ in der Werkstatt neben den Angeboten zum Schreiben und Lesen auch solche im Bereich von Sprache, Denken, Wahrnehmen sowie Mathematik und künstlerisches Gestalten einbezogen. Daneben beinhaltet das Angebot diverse lernpsychologisch begründete Unterstützungsmaßnahmen, beispielsweise die Förderung des Anweisungsverständnisses, der kognitiven Orientierung oder auch die Begünstigung von Prägfigurationsprozessen*. Innerhalb der Werkstatt werden vielfältige, möglichst natürliche Schreibanlässe geschaffen, die für das Kind persönliche Bedeutung haben sollten, wie z.B. Briefe oder Geschichten. Auf diese Weise soll die natürliche Lernbereitschaft des Kindes und das Bedürfnis, Eigenes zu gestalten, ausgenützt werden. Die Konzeption von „Lesen durch Schreiben“ beruht zudem auch auf dem kind-orientierten Unterrichtsstil mit didaktischer Zurückhaltung nach dem Prinzip der minimalen Hilfe*, den Reichen auch im Zusammenhang mit dem Werkstattunterricht-Konzept fordert (vgl. Reichen 1992b, S.7).
Es wird deutlich, dass das Konzept „Lesen durch Schreiben“ nur in Verbindung mit dem offenem Konzept des Werkstattunterrichts all seine Möglichkeiten ausschöpfen und dadurch seine volle Wirkungskraft entfalten kann. Es wirkt sich deshalb auch auf den gesamten Unterricht aus, was wiederum die enge Verbindung von Werkstattunterricht und „Lesen durch Schreiben“ deutlich macht: „Wer die pädagogischen und didaktischen Absichten von „Lesen durch Schreiben“ ernstnimmt, stellt fest, dass der gesamte Unterricht von dieser Konzeption erfasst wird. Der Leselehrgang fordert individualisierenden Unterricht; dieser kann nicht isoliert nur beim Lesen- und Schreibenlernen praktiziert werden“ (Mayer 1987, S. 7). Deshalb wird das Konzept des Werkstattunterrichts von Reichen zu den grundlegenden Voraussetzungen bzw. Bestandteilen von „Lesen durch Schreiben“ gezählt.

Im Werkstattunterricht können die Materialien des Lehrgangs frei angeboten und individuell kombiniert werden, worauf sie auch angelegt sind. Diese offene Form von Unterricht ermöglicht den Kindern, selbständig und selbstgesteuert zu lernen. Eben dies ist die Grundlage und eine unbedingte Voraussetzung von „Lesen durch Schreiben“. Nur im Rahmen eines solchen Unterrichts können die Schüler so frei und ohne Druck, ihrem eigenen Tempo entsprechend ihren persönlichen Lernweg gehen, genau so, wie es das Konzept „Lesen durch Schreiben“ vorsieht.
„Lesen durch Schreiben“ ließe sich in einem traditionellen, hauptsächlich auf frontale Belehrung ausgelegten Unterricht nicht durchführen. Zum einen wäre der Einsatz des Materials auf diese Weise verfehlt, da dies darauf ausgerichtet ist, innerhalb eines Überangebots eine individuelle Nutzung zu gewährleisten, zum anderen könnten die angestrebten Ziele hier nicht verwirklicht werden:
Wenn die Kinder alle zur gleichen Zeit das Gleiche tun sollen, wird selbstgesteuertes Lernen, ein ganz zentraler Bestandteil von „Lesen durch Schreiben“, unmöglich. Umgekehrt würde diese Methode ein gleichschrittiges Vorgehen in hohem Maße erschweren, da die Leistungsunterschiede hierbei deutlich hervortreten und eine Zeitlang sogar noch verschärft werden. Des weiteren baut ein traditioneller Unterricht zu einem großen Teil auf das Nachahmungslernen auf, das im Rahmen von „Lesen durch Schreiben“ deutlich abgelehnt und vermieden wird.
Dies ist nur ein kleiner Teil der Argumente, die belegen, dass das Konzept niemals in einem gleichschrittigen, frontalen Unterricht angewendet werden könnte, da die Prinzipien dieser beiden Methoden gänzlich unvereinbar sind. Reichens Hintergründe, die er seinem Konzept zugrunde legt, auf denen er es aufbaut, stehen in vielfacher Weise in völligem Widerspruch zu den herkömmlichen Methoden, die er oftmals kritisiert (vgl. 7.3.1 Vorteile von „Lesen durch Schreiben“). Deshalb würde das Konzept „Lesen durch Schreiben“ ohne den Rahmen des offenen Werkstattunterrichts sinnlos und würde kaum zum Erfolg führen.
Während das Konzept des Werkstattunterrichts sehr offen ist und in verschiedener Form variiert werden kann, weist Reichen ausdrücklich darauf hin, dass „Lesen durch Schreiben“ auf keinen Fall abgewandelt oder mit anderen Methoden vermischt werden darf. Er warnt eindringlich vor der Vermischung einzelner Konzepte: „Lehrer irren, wenn sie meinen, sie könnten durch eine Vermischung verschiedener Leselehrgänge gleichsam das „Beste“ aus jedem Konzept bekommen und kumulativ steigern. Jede Mischung ist grundsätzlich schlechter als das Ursprungskonzept“ (Reichen 1992, S.8). Seiner Meinung nach sollte das Konzept deshalb möglichst in seiner vorgesehenen Form angewendet werden. Reichen (1992b, S.9) weist darauf hin, dass die Erfahrungen mit „Lesen durch Schreiben“ belegen, dass Lehrkräfte umso mehr Erfolg mit dem Leselehrgang haben, je ausschließlicher sie sich an die Konzeption halten.

 

5.2.2 Hintergründe

Da das Konzept „Lesen durch Schreiben“ von Jürgen Reichen entwickelt wurde, beruht es auf den gleichen Ansichten, Hintergründen und Forderungen, wie auch Reichens Konzept des Werkstattunterrichts. In der speziellen Anwendung von Werkstattunterricht durch den Leselehrgang „Lesen durch Schreiben“ werden diese Hintergründe Reichens z.T. noch einmal besonders deutlich. Im Folgenden sollen deshalb die Grundlagen und Vorstellungen, auf denen die Konzeption von „Lesen durch Schreiben“ beruht, genauer dargestellt werden. Einige Aspekte stehen dabei jedoch nicht mehr direkt mit dem zentralen Thema „Werkstattunterricht“ in Verbindung, bzw. gehen darüber hinaus.
„Lesen durch Schreiben“ ist jedoch zum einen die bekannteste Anwendung von Reichens Werkstattkonzept, zum anderen gehören die beiden Konzepte eng zusammen: Werkstattunterricht bildet eine notwendige Vorraussetzung von „Lesen durch Schreiben“, ohne die dieser Leselehrgang nicht verwirklicht werden könnte. Zudem profitiert auch Werkstattunterricht insofern von „Lesen durch Schreiben“, als dass dieser Leselehrgang dieselben Ziele verfolgt, die auch im Werkstattunterricht angestrebt werden. Die beiden Konzepte bauen somit aufeinander auf und begründen sich gegenseitig. Aus diesem Grund sollte im Zusammenhang mit dem Werkstattunterricht auch Reichens Konzept „Lesen durch Schreiben“ vollständig dargestellt werden, selbst wenn verschiedene Aspekte hiervon nicht in Beziehung zum Werkstattunterricht stehen.
Interessant ist der Ursprung des Konzepts: „Die Methode „Lesen durch Schreiben“ ist nicht ganz neu. Es ist die Methode des klassischen Altertums!“ (Reichen 1984, S. 235).So lernten bereits die Schüler in den Schreibschulen der alten Griechen und Römer nicht lesen, sondern nur schreiben.
Reichen geht noch weiter zurück: Lesen und Schreiben sind Kulturprodukte, d.h. es waren Menschen, die unser Schriftsystem erfunden und entwickelt haben. (vgl. Reichen 1998, S. 332). Es ist anzunehmen, dass die Menschen sich zuerst nur mündlich miteinander verständigten und erst später begannen, die gesprochenen Sprache zu fixieren.„Bei diesem Vorgang, dem Erfinden des Schreibens dürfen wir annehmen, dass die betreffenden Leute der Struktur, der Bauform unseres Geistes gefolgt sind. Und dies wiederum gestattet die Annahme, dass Schreibenlernen eigentlich der natürlichere Vorgang ist, als Lesenlernen“ (Reichen 1984, S. 235).
Zweifellos ist Schreiben der sachlogisch in jedem Fall ursprünglichere Akt, wie Reichen an anderer Stelle ausführt: „Schreiben ist die Grundlage des Lesens- [...] zuerst muss ein Text aufgeschrieben sein, bevor man ihn lesen kann“(Reichen 1994, S. 71). „Deshalb wurde ursprünglich das Schreiben erfunden, nicht das Lesen und diesen Entwicklungsprozess wiederholt der Ansatz „Lesen durch Schreiben““ (Reichen 1998, S. 340). Reichen nimmt dies als Begründung dafür, dass auch der Lernprozess mit dem Schreiben beginnen sollte: laut Reichen ist „zuerst Schreiben und dann Lesen der natürliche Weg, nur dann wiederholt das Kind in seiner eigenen Lebensgeschichte gleichsam die Kulturgeschichte der Menschheit – ein Vorgehen, das entwicklungspsychologisch gesehen besonders wirksam ist“ (Reichen 1998, S. 332). Das Lesenlernen erfolgt schließlich durch das Schreiben; es stellt sich quasi als automatisches Begleitprodukt des Schreibens irgendwann von selbst ein.


7.2.2.1 Lesen

In Bezug auf das Lesenlernen gibt es einige Aspekte, die von Reichen genauer beleuchtet werden. Dabei untersucht er die besondere Bedeutung des Erstleseunterrichts und die für das Lesen notwendigen Voraussetzungen. Er warnt davor, hierbei falsche Schwerpunkte zu setzen und weist auf Probleme im Zusammenhang mit der Struktur unserer Sprache hin. Weiterhin unterscheidet Reichen zwischen verschiedenen Arten des Lesens, bzw. grenzt das „echte“ Lesen gegen das von ihm so genannte „Leerlesen“ ab.

Die Bedeutung des Erstleseunterrichts
Lesen und Schreiben gehören zu den Kulturtechniken, deren Einführung in der Primarstufe im Mittelpunkt des Unterrichts steht. Für die Schulanfänger ist der Leseunterricht das erste zentrale Erfahrungsfeld schulischen Lernens. Die Bedeutung des Erstleseunterrichts ist deshalb nicht zu unterschätzen, worauf auch Reichen (1988a, S. 5) ausdrücklich hinweist: „Weil das Lesenlernen im Mittelpunkt der ersten Klasse steht, ist der Erfolg oder der Misserfolg bei diesem Lernprozess für jeden Schüler von entscheidender Bedeutung für sein zukünftiges Schulschicksal“.
Der Erfolg beim Lesenlernen prägt demnach die gesamte Einstellung zur Schule. Dazu kommt noch, dass die schriftliche Vermittlungstechnik auch in den späteren Schulklassen überwiegt: „Schriftliche Anweisungen und Darstellungen spielen in der Schule eine besondere Rolle mit der Folge, dass der schlechte Leser zum schlechten Schüler wird“ (Reichen 1988, S.5).
Deshalb ist der Erstleseunterricht für den Unterricht allgemein von Bedeutung und hat u.a. maßgeblichen Einfluss auf den Lernstil des Schülers, die Entwicklung seiner Motivation oder auch die Prägung seiner sozialen Rolle als Schüler (vgl. Reichen 1988a, S.5).
Der Lehrgang „Lesen durch Schreiben“ versucht, diesem Anspruch gerecht zu werden, indem er über seine Funktion als Leselehrgang hinausgeht und so versucht, „einer anderen Art von Elementarunterricht den Weg zu bereiten...“ (Reichen 1992, S. 7). Dieses Hinausgehen über die Leselehrgangsfunktion aber besteht vor allem in der Durchführung von Werkstattunterricht. Das Konzept „Lesen durch Schreiben“ baut auf dieser Form von Unterricht auf; nur in Verbindung mit Werkstattunterricht kann es seine ganze Wirkung entfalten.
Werkstattunterricht verfolgt ohnehin die Ziele, die oben für den Erstleseunterricht genannt wurden. Da die Kinder im Werkstattunterricht selbstgesteuert und individualisiert arbeiten können, bleiben ihnen viele Misserfolge erspart; Werkstattunterricht möchte des weiteren durch verschiedene Maßnahmen eine positive Haltung zur Schule fördern und die Motivation der Schüler erhalten. Auf diese Weise versucht „Lesen durch Schreiben“ in Verbindung mit der Unterrichtsform Werkstattunterricht einer andere Art von Elementarunterricht zu verwirklichen.

Vorraussetzungen zum Lesen
Nach Reichen (1988a, S. 14) benötigt ein Leser

  • Buchstaben und Lautkenntnisse, sowie Kenntnisse über ihre Zuordnung zueinander
  • Syntaktische Kenntnisse
  • Semantische Kenntnisse.

Die meisten Schulanfänger besitzen bereits einen Teil dieser Kenntnisse, andere jedoch, zu denen Buchstaben-/Lautkenntnisse zählen, müssen im allgemeinen erst erlernt werden. Daher standen diese bisher meist im Mittelpunkt des Erstleseunterrichts, „obwohl sie im Grunde - nimmt man einen kompetenten erwachsenen Leser zum Maßstab – eher zweitrangig sind“ (Reichen 1988a, S. 14). Entscheidender sind laut Reichen dagegen die Vertiefung und Erweiterung der semantischen und syntaktischen Kenntnisse. Hiermit bestreitet er nicht etwa, dass im Erstleseunterricht durchaus auch Buchstaben-/Lautkenntnisse vermittelt werden sollen. Er fordert lediglich, dass dies nicht mehr im Mittelpunkt des Unterrichts stehen, sondern eher beiläufig erfolgen sollte.
Reichen begründet dies damit, dass für das Lesen nicht die Buchstabenkenntnis entscheidend ist, sondern die allgemeine Sprachkompetenz: „Es ist ein Irrtum, zu meinen, man könne lesen, wenn man alle Buchstaben kennt. Man kann sehr wohl alle Buchstaben kennen und doch nicht lesen“ (Reichen 1984, S. 235). Deshalb ist beim Lehrgang „Lesen durch Schreiben“ die Buchstabenkenntnis zunächst gar nicht nötig: diese können die Schüler aus der Buchstabentabelle ablesen. Stattdessen legt Reichen mehr Wert auf die Förderung von Sprachverständnis und Sprachausdruck (vgl. Reichen 1984, S. 235).
Die allgemeinen Sprachfähigkeiten sind laut Reichen die wichtigsten Grundlagen für das Lesen- und Schreibenlernen. Er nennt jedoch daneben noch einige andere Voraussetzungen, wie beispielsweise Wahrnehmungsfähigkeiten zur Unterscheidung der einzelnen Schriftformen oder auch Fertigkeiten im Bereich der Feinmotorik. Sicher ist es auch möglich, an Computer oder Schreibmaschine zu lernen, dennoch hält Reichen die Entwicklung einer eigenen Handschrift für unerlässlich (vgl. Reichen 1984, S. 237). Kenntnisse der normgerechten Rechtschreibung sieht er dagegen im Erstleseunterricht als sekundär an.

Besonderheiten unserer Sprache
In der deutschen Sprache lassen sich rund 45 Einzellaute auditiv isolieren, das Alphabet hat jedoch nur 26 einzelne Schriftzeichen. Daher ergeben sich beim Schreiben naturgemäß Abweichungen von der reinen Lautschrift: Bestimmte Buchstaben können verschiedene Lautwerte haben; umgekehrt gibt es auch Laute, die durch verschiedene Buchstaben, teilweise auch mehrgliedrige Grapheme dargestellt werden (vgl. Reichen 1988a, S.22).
Reichen ist sich dieses Problems bewusst. Er weist explizit darauf hin, dass dieser Aspekt nicht ausgespart werden sollte, wenn die Kinder im Rahmen von „Lesen durch Schreiben“ lernen, dass mit den Schriftzeichen die gesprochene Sprache festgehalten wird, und die Zuordnung der Buchstaben zu Lauten üben. Vielmehr sollte man ihm besondere Aufmerksamkeit schenken: „Bei diesen Übungen sollten die Schüler früh lernen, dass die Buchstaben-Laut-Zuordnungen nicht eindeutig sind. Das Kind muss wissen, dass es Variabilität gibt, d.h. dass ein Schriftzeichen verschiedene Lautwerte haben kann, bzw. dass der selbe Laut durch verschiedene Schriftzeichen dargestellt wird“ (Reichen 1988, S. 15).
Reichen (1984, S. 237) zeigt auf, dass es nicht nur Unregelmäßigkeiten in der Lautrepräsentation einzelner Schriftzeichen, sondern auch in den Gestaltmerkmalen der Buchstaben selbst gibt, die verwirren können.
Daher empfiehlt er die Förderung der allgemeinen Wahrnehmungsfähigkeit der Schüler, sowie eine Merkmalsanalyse der Buchstaben: „Für eine präzise Buchstabenerfassung ist eine genaue Merkmalsanalyse notwendig, aufgrund derer gelernt wird, relevante und irrelevante, gleichbleibende und veränderbare Einzelmerkmale am Buchstabenmaterial zu unterscheiden“ (Reichen 1984, S. 237).

Lesen und „Leerlesen“
Jürgen Reichen hat eine genaue Vorstellung davon, was für ihn „Lesen“ ist und vor allem was es nicht ist. Wie bereits erwähnt, ist es laut Reichen ein Irrtum zu glauben, Kinder würden lesen können, wenn sie die Buchstaben kennen und wissen, wie man sie aneinander hängt: „Dabei ist unmittelbar einsichtig, dass „aneinandergehängte Buchstaben“ noch keine Wörter, also ohne Information sind. Damit aus „aneinandergehängten Buchstaben“ ein Wort wird, ist ein sinnstiftender Akt erforderlich, d.h. „irgendwoher“ muss der Schüler das Verständnis entwickeln, was „das Wort bedeutet““ (Reichen 1992, S. 7). Wenn ein Kind einen Text vorlesen kann, so ist damit laut Reichen noch nicht gesagt, dass es lesen kann. Reichen sieht einen großen Unterschied zwischen Lesen und Vorlesen.
Er begründet dies zum einen damit, dass man den Satz „Caprivi lerko ten hokker, en dano lasare, bing bong“ zwar vorlesen kann, dass man ihn aber seinem „Lese-Verständis“ nach nicht wirklich lesen kann, weil man ihn nicht versteht. (vgl. Reichen 1994, S.70). Von Lesen ist laut Reichen also nur dann zu reden, wenn man verstanden hat, was man liest: Beim Lesen wird dem geschriebenen Text der sprachliche Sinn entnommen, während beim Vorlesen lediglich eine Buchstabenfolge in eine Lautfolge umgewandelt wird, wozu kein Sinnverständnis nötig ist. Deshalb zählt Reichen das laute Vorlesen nicht unbedingt zum Lesen, da ein Text eben auch vorgelesen werden kann, obwohl der Leser ihn nicht versteht. „Und genau aus diesem Grund gibt es unter den Laut-Lesern so viele Leer-Leser, d.h. „Leser“ ohne Sinnverständnis“ (Reichen 1994, S. 70).
Die Beobachtung Reichens, dass viele Kinder Texte laut vorlesen können, ohne den Sinn dieser Texte zu verstehen, ist sicher richtig und von großer Bedeutung. Das Beispiel, mit dem Reichen diese Ausführungen begründet, hinkt jedoch etwas, da man den oben zitierten sinnlosen Satz auch nicht verstehen würde, wenn man ihn nicht lesen, sondern nur hören würde. Im Gegensatz dazu würde jedoch ein Kind, das einen Text beim lauten Vorlesen nicht versteht, dessen Sinn sehr wohl begreifen, wenn es denselben Text nicht selbst lesen, sondern hören würde.
Dies ändert jedoch nichts an der Richtigkeit Reichens Ausführungen, die auch durch die Zunahme des „funktionalen Analphabetismus“ sowie die generelle Verschlechterung der Lese- und Schreibfähigkeiten der jüngeren Generation bestätigt werden (vgl. Reichen 1994, S. 70).
Einleuchtender wirkt auch ein weiterer Vergleich in diesem Zusammenhang, den Reichen (1988, S.13) an anderer Stelle zieht: „Wohl für jeden Leser gibt es Texte in seiner Muttersprache, die er nicht versteht, also nicht lesen kann. Ich selbst bemühte mich vor Jahren einmal erfolglos, die – deutsch geschriebene – „Phänomenologie des Geistes“ von Hegel zu studieren. Mir fehlten die Hegelschen Begriffe, meine vorausgegangene Welt- und Lebenskenntnis war unzureichend, und endlich reichte auch meine Intelligenz nicht aus“.
Daran wird noch einmal deutlich, dass Lesetechnik allein nicht ausreicht, um einen Text verstehen und deshalb lesen zu können, sondern dass darüber hinaus Sprachkompetenz, Hintergrundwissen sowie eine textentsprechende Intelligenz eine entscheidende Rolle spielen (vgl. Reichen 1988a, S. 13). Die Definition von Lesen: „Lesen heißt, einen alters- und stufengemäßen Text inhaltlich zu verstehen, seinen Sinn erfassen“ greift Reichen ( 1994, S. 70) jedoch noch zu kurz. Für ihn ist damit noch kein praktikables Lesen bezeichnet, da in diese Definition auch langsames Erschließen oder Erraten eines Textinhaltes eingeschlossen wären.
Reichen definiert Lesen deshalb folgenderweise: „Für mich heißt Lesen daher: auf einen Text blicken und im gleichen Moment (was ineins bedeutet: ohne inneres Vorlesen) verstehen, was er aussagt“ (Reichen, 1994, S. 71). Das allmähliche Erlesen von Wörtern im Rahmen eines Fibellehrgangs fällt allerdings durch diese Definition durch. Dessen ist sich Reichen bewusst; genau hier greift auch seine Kritik an den traditionellen Fibellehrgängen: „Selbsterfahrung, klassische Befunde der Wahrnehmungspsychologie und neuere Erkenntnisse zur Neurophysiologie des Gehirns dokumentieren: Kompetentes Lesen funktioniert nicht so, wie das sogenannte „Erlesen“, das den Kindern im Fibelunterricht beigebracht wird, wo das Kind am Wortanfang beginnend Buchstabe für Buchstabe einem Laut zuordnen soll, diese Laute laut sprechen muss, um schließlich durch entsprechend schnelles Zusammenziehen bzw. „Zusammenschleifen“ aus dem gehörten Wort den Sinn zu entnehmen“ (Reichen 1998, S. 327).
Dem gegenüber stellt Reichen das Lesen eines kompetenten Lesers, das er anhand seiner eigenen Erfahrungen sehr anschaulich beschreibt: „Als kompetenter Leser „hänge ich keine Laute aneinander“, ich „schleife nichts zusammen“ und ich bin mir auch nicht bewusst, einen sinnstiftenden Akt vorzunehmen.[...] Wenn ich mich selbst beim Lesen beobachte, dann habe ich eigentlich gar nicht das Gefühl, etwas aktiv zu tun; ich habe eher das Gefühl, dass mir Lesen „widerfährt“, der Text drängt sich mir auf, er „springt mich an“ und ich kann mich gar nicht entziehen[...]“ (Reichen 1998, S. 327). Diese Art des Lesens entspricht nun wieder genau seiner eigenen Definition von Lesen.
Eine weitere Besonderheit ist Reichens Auffassung im Bezug darauf, wie oder besser ob Lesen gelernt wird. So vertritt er die Meinung, Lesen werde gar nicht gelernt, sondern plötzlich gekonnt. Im Rahmen von „Lesen durch Schreiben“ lernen die Schüler bei ihm nur das Schreiben; dadurch können sie dann eines Tages, ohne irgendein Zutun, oft plötzlich über Nacht lesen (vgl. Reichen 1994, S.69). Reichen nimmt dies als Ansatz für seine These, dass Lesen gar nicht gelernt wird. Er gibt zu Bedenken, dass die Lernwirkung des traditionellen Leseunterrichts nicht nachweisbar ist und angesichts eines immer schlechteren Ergebnisses zunehmend fraglich wird. „Wenn ein Kind einem Fibelunterricht folgen musste und danach irgendwann einmal lesen kann, dann beweist das Lesenkönnen nicht, dass der Fibelunterricht der Grund dafür war. Erkenntnistheoretisch ist es unmöglich, die beiden Tatsachen „Fibelunterricht“ und „Lesenkönnen“ in einen kausalen Zusammenhang zu bringen, [...] vielleicht können wir ja auch lesen, obwohl wir unterrichtet wurden“ (Reichen 1998, S.338).
Reichen weist damit auf die Möglichkeit hin, dass die allgemeine Meinung, wer lesen könne, habe dies in der Schule gelernt, ein Irrtum sein könnte und dass alle feststellbaren Tatsachen auch als Placebo-Effekt erklärt werden könnten. Die Lesekompetenzen würden dann allein durch den Glauben freigesetzt, dass man im schulischen Unterricht lesen lerne; sie könnten deshalb vielleicht auch über einen anderen Auslöser ebenso erreicht werden. Ebenso wenig wie die Richtigkeit der allgemeinen Meinung, dass Kinder das Lesen im Leseunterricht lernen, nachgewiesen werden kann, ebenso wenig kann Reichen seine Auffassung vom Lesenlernen beweisen. Als Beleg dafür kann jedoch die Tatsache dienen, dass es auf der einen Seite immer wieder Kinder gibt, bei denen der Leseunterricht versagt, die trotz der unterrichtlichen Maßnahmen nicht oder nur unzureichend lesen können, dass es aber auf der anderen Seite ebenso Kinder gibt, die den Leseunterricht gar nicht brauchen, sondern ohne ihn das Lesen gelernt haben (vgl. Reichen 1994, S.69). Daneben sprechen auch die Erfahrungen aus „Lesen durch Schreiben“ für Reichens Behauptung, dass Lesen anders als gedacht gelernt werden kann.


5.2.2.2 Lernen

Die Theorien, die Reichen seinem Konzept zugrunde legt, entsprechen denen, auf denen der Werkstattunterricht aufgebaut ist. Daher ergänzen sich die beiden Konzepte so gut; sie verfolgen die selben Ziele und wurden aus den gleichen Grundüberzeugungen heraus entwickelt. So spielen gerade beim Lesenlernen Präfigurationsprozesse* eine große Rolle. Auf deren Bedeutung weist Reichen schon im Zusammenhang mit Werkstattunterricht hin und fordert, den ganzen Unterricht daraufhin auszurichten. Insbesondere spielt auch bei „Lesen durch Schreiben“ die Forderung eine wichtige Rolle, dass den Kinder nicht ein fester Lernweg vorgeschrieben werden sollte, sondern dass sie vielmehr die Möglichkeit haben sollten, auf eigenen Wegen selbstgesteuert zu lernen. Sie sollen ihren eigenen Lernprozess selbst vorantreiben und Verantwortung hierfür übernehmen. Da das Prinzip des Werkstattunterrichts auf diesen Forderungen beruht, kann der Leselehrgang in dieser Unterrichtsform besonders gut verwirklicht werden.
Der Lehrgang nimmt sich deshalb das überaus erfolgreiche Lernen der Kleinkinder zum Vorbild: Reichen zieht einen Vergleich zwischen dem natürlichen kindlichen Spracherwerb und dem schulischen Schriftspracherwerb. Diese beiden Vorgänge stehen in vielfacher Beziehung in völligem Widerspruch zueinander. Ein entscheidender Unterschied ist beispielsweise, dass der Spracherwerb nicht das Produkt von Nachahmungsvorgängen ist, sondern ein eigenaktiver Prozess, wobei in der Regel das Sprechen vor dem Hören kommt. Analog dazu lässt Reichen die Schüler eigenaktiv Lesen lernen, wobei das Schreiben vor dem Lesen kommt (vgl. Reichen 1992b, S. 8).
Ein weiterer wichtiger Unterschied besteht darin, dass kleine Kinder sprechen lernen, ohne dass sie unterrichtet oder belehrt werden; der Spracherwerb erfolgt scheinbar von selbst, ohne ausdrückliche Bemühung. Reichen (1992b, S.8) weist nun darauf hin, dass die Schule dagegen beim Schriftspracherwerb „alles Entscheidende gerade in entgegengesetzter Weise macht – und wahrscheinlich gerade deshalb falsch“. Zu dieser Wertung kommt er, als die Ergebnisse der beiden Prozesse miteinander vergleicht: Der alltägliche Spracherwerb kleiner Kinder funktioniert in der Regel völlig problemlos, wogegen der schulische Spracherwerb der Schüler zunehmend schlechtere Resultate erbringt. Daraus folgert Reichen (1992b, S: 8), dass sich der schulische Erstleseunterricht mehr an dem kindlichen Spracherwerbs orientieren sollte, als die bisher der Fall war.


5.2.2.3 Häufige Vorbehalte gegenüber „Lesen durch Schreiben“

Rechtschreibung
Die Bedeutung der Rechtschreibung in unserer Gesellschaft ist umstritten. Brügelmann weist auf ihre Bedeutung für die Stabilisierung von Sprache und Schrift und vor allem auch für die Erleichterung des Lesens hin. Dieser Aspekt der Rechtschreibung wird im Allgemeinen eher unterschätzt, bzw. nur geringfügig beachtet. Dagegen wird laut Brügelmann (1992, S.16) „ihre Aussagekraft für die Beurteilung von SchülerInnen und StellenbewerberInnen immer noch überbewertet [wird], wie die regelmäßigen Klagen von Handwerkskammern und anderen ArbeitgeberInnen zeigen“. Wenn diese Überbewertung der Rechtschreibung in unserer Gesellschaft und ihr zu großer Einfluss auf Schulkarriere und berufliche Auslese auch zu kritisieren sind, so darf man ihre Bedeutung dennoch nicht außer Acht lassen. Dies hat auch Brügelmann erkannt: er weist deutlich darauf hin, dass die Tatsache, dass Kinder auch nach ihren Rechtschreibungen beurteilt werden, besondere Beachtung verdient. Man sollte den Kindern deshalb helfen, an diesen Ansprüchen nicht zu scheitern. Darüber hinaus steht die Rechtschreibung häufig im Mittelpunkt der Vorbehalte von Eltern gegenüber Reformversuchen der Schule. Brügelmann (1992, S. 16) betont deshalb, dass man besonders bei der Öffnung des Unterrichts sicherstellen sollte, dass dieser Bereich nicht unverhältnismäßig leidet.
Reichen (1998a, S.340 f.) bezieht zu diesem Thema deutlich Stellung: „So stehe ich dazu, dass mir Rechtschreibung persönlich gänzlich unwichtig ist und ich die gesellschaftliche Wertschätzung, die sie erfährt, rational nicht nachvollziehen kann, grad so, als ob ein Grossteil der Deutschen in puncto Rechtschreibung an einer kollektiven Zwangsneurose leide“.
Wie Brügelmann ist sich jedoch auch Reichen sehr wohl bewusst, dass man gerade in dieser Situation die Rechtschreibung nicht vernachlässigen darf. Er plädiert für daher für orthographische Toleranz, deren Grenzen - für jedes Kind individuell – kontinuierlich enger gezogen werden. Man sollte immer nur soviel korrigieren, wie möglich ist, ohne das Kind zu frustrieren (vgl. Reichen 1988a, S. 61).
Zunächst sollte man die Kinder jedoch frei schreiben lassen, ohne die orthographische Richtigkeit vorauszusetzen. Solange ein Wort lautverständlich geschrieben ist, sollte es akzeptiert werden; lediglich grobe Lautfehler sollten korrigiert werden. Bei den traditionellen Methoden werden Fehler in der Regel unterbunden; die Kinder sollen möglichst wenig falschen Wörtern begegnen. Dahinter steht ein Lernverständnis, dass davon ausgeht, dass sich die falsche Schreibweise einprägt. Diese Vorstellung ist allerdings nicht richtig: Da das Schreiben in der Anfangszeit noch nicht automatisiert erfolgt, sondern experimentierend, werden Fehler in dieser Phase nicht gespeichert (vgl. Brinkmann & Brügelmann 1988, S. 4).
Brinkmann und Brügelmann ziehen in diesem Zusammenhang erneut den Vergleich mit dem kindlichen Spracherwerb: „Beim Sprechenlernen ist allen Erwachsenen klar, dass Fehler zum Erwerbsprozess dazugehören und sie freuen sich darüber, wie kreativ die Kinder mit der Sprache umgehen, bis sie die Normen nach und nach übernehmen. [...]Die Kinder [lernen] auf diese Weise mit ihrer Muttersprache kompetent umzugehen – ohne dass jemand die noch nicht korrekten Sätze als falsch bezeichnet und sofort die richtige Norm mit ihnen geübt hätte“ (Brinkmann & Brügelmann 1988, S. 4).
Beim Schreibenlernen ist dagegen Reichens Verständnis des Fehlers von besonderer Bedeutung: Falsche Schreibweisen sollten nicht als Unzulänglichkeiten gemessen am Maßstab der Orthographie gedeutet werden, sondern vielmehr als durchaus geeignete Annäherungsversuche an die Normen unserer Schrift, die oftmals sogar Fortschritte signalisieren (vgl. Reichen 1984, S.23).
Die traditionellen Methoden dagegen halten die Schüler in einem künstlichen Schonraum, der die Förderung eines Problembewusstseins für Rechtschreibung unterbindet (vgl. Reichen 1988a, S.55). Interessante Ergebnisse liefern verschiedene Studien zu diesem Thema, die von Brügelmann sowie der Erziehungsdirektion des Kantons Zürich durchgeführt wurden. Beide Studien kamen zu dem Ergebnis, dass die Klassen, die nach „Lesen durch Schreiben unterrichtet wurden, trotz der Priorität für andere fachliche und fachunabhängige Lernziele im Rechtschreiben nicht schlechter abschneiden, als Klassen, die einem Fibellehrgang folgten. Die Untersuchungen zeigten vielmehr, dass das Konzept selbst in diesem Lernfeld quasi als Nebenertrag mehr zu leisten vermag als die Fibellehrgänge (vgl. Reichen 1988a, S. 58 f.; Brügelmann 1992, S.18 f.).
Brügelmann kommt deshalb zu dem Schluss: „Man kann also diesen Unterricht guten Gewissens weiter praktizieren, weil die pädagogisch wichtigen Ziele des Konzepts nicht zu Lasten der orthographischen „Basis“ gehen“ (Brügelmann 1992, S. 19).

Schrift
Als weiterer Einwand gegen die Methode „Lesen durch Schreiben“ wird häufig die Behauptung vorgebracht, die Kinder würden sich dabei falsche Bewegungsläufe einprägen, sich schlechte Formen angewöhnen und so eine unschöne und verkrampfte Schrift erhalten. Reichen (1988a, S. 53) widerlegt diese Behauptung jedoch einleuchtend und belegt seine eigene Auffassung, dass es nämlich im Rahmen des Leselernprozesses genügt, wenn die Buchstaben formgerecht abgemalt werden, dass ästhetische Kriterien zweitrangig sind und ein bestimmter Bewegungsablauf sogar unnötig (vgl. Reichen 1988a, S. 52).


5.2.3 Berichte aus der Praxis

 
5.2.3.1 Vorteile von „Lesen durch Schreiben“

Neben Reichen haben auch viele der Lehrer, die mit „Lesen durch Schreiben“ arbeiten, eine Menge von Nachteilen der klassischen Leselehrgänge sowie des Frontalunterrichts allgemein bemerkt und kritisieren diese deshalb mehr oder weniger scharf. Es handelt sich dabei fast ausschließlich um Punkte, die bei „Lesen durch Schreiben“ entfallen bzw. besser gelöst werden. Im „normalen“ Unterricht bestimmt der Lehrer, was die Schüler machen sollen, und auch bei einem binnen differenzierten Unterricht ist es noch immer dieser, der das jeweilige Leistungsniveau festlegt und entscheidet, was für welchen Schüler wann das Beste ist. Ein für alle Schüler gleichschrittiger Lehrgang macht jedoch eigene Wege der Kinder unmöglich. Der im Voraus festgelegte Lernweg mit einer chronologisch und sachlogischen Lernschrittabfolge birgt so die Gefahr, das individuelle Lernpotential der Kinder zu wenig auszunutzen und z.T. sogar zu stören. Daneben kann ein solcher Lehrgang nicht die verschiedenen Ausgangslagen der Schüler beachten.
Dies ist bei „Lesen durch Schreiben“ nicht der Fall: Einer der größten Vorteile dieses Lehrgangs liegt darin, dass die Kinder selbstgesteuert lernen können. Sie haben dadurch die Möglichkeit, ihre individuellen Wege zu gehen. Ihnen wird nicht vorgeschrieben, wie sie zu lernen haben, sondern jedes Kind kann für sich im Rahmen des Lehrgangs seinen eigenen Lerngang und sein eigenes Fortschreiten entwickeln: „Es werden keine Buchstabenhäppchen zugeteilt, die sie schlucken dürfen, sondern sie können arbeiten an dem, was sie wollen, und ob sie zuerst das Wort „Lokomotivführer“ oder zuerst „Hut“ schreiben, ist ihrer eigenen Entscheidung überlassen“ (Hamburger Freinetgruppe: Brosch 1987, S.15). Auf diese Weise berücksichtigt „Lesen durch Schreiben“ in besonderem Maße auch die verschiedenen Ausgangslagen der Schüler; jeder kann in seinem eigenen Tempo da weiterarbeiten, wo er gerade steht. Kinder, die schon lesen können, wenn sie in die Schule kommen stören ebenso wenig wie neue Schüler, die im Laufe des Schuljahres in die Klasse kommen und bei einem klassischen Leselehrgang ein größeres Problem wären.Dadurch, dass das Schreiben und Lesenlernen hauptsächlich über aktive und kaum über rezeptive Prozesse erfolgt, „erwerben [die Kinder] die Schrift ohne Nachahmungslernen, was zu einer besseren langfristigen Verankerung des Gelernten führt“ (Reichen 1992, S. 9).
Ein weiterer unschätzbarer Vorteil von „Lesen durch Schreiben“ liegt darin, dass von Anfang an mit dem gesamten Buchstabenbestand gearbeitet wird. Dadurch steht ein uneingeschränkter Wortschatz zur Verfügung. Die Kinder können so selbst bestimmen, was sie schreiben wollen und von Anfang an alles schriftlich mitteilen, was sie ausdrücken wollen, was ihnen wichtig ist. „Lesen durch Schreiben“ will auf diese Weise „den Kindern das Wort geben“, und ihnen nicht, wie es bei Fibellehrgängen der Fall ist, bestimmte Wörter zuteilen.
Schreiben soll nicht nur im Abschreiben von Wörtern bestehen, die beim Lesen der Fibel auftauchen, sondern im Mitteilen von Dingen, die sie interessieren oder die ihnen auf dem Herzen liegen: „Die Schüler können selber bestimmen, was sie schreiben wollen. Entsprechend schreiben sie, was für sie von Interesse und Bedeutung ist. So wird die informative, kommunikative und expressive Funktion von Texten unmittelbar erlebt und festigt im Schüler das Bewusstsein, dass Geschriebenes Sinn enthält. Gleichzeitig wird der Prozess des Schreiben- und Lesenlernens als etwas erfahren, was eigene Kompetenzen erweitert und im Alltag gebraucht werden kann“ (Reichen 1992, S.9).
Ein weiterer Vorteil von „Lesen durch Schreiben“ betrifft daher das Problem der Sinnentnahme beim Lesen: Dieses Problem gibt es bei Reichens Lehrgang nicht, da die Kinder ja bereits vor dem Schreiben eines Wortes wissen, was dieses bedeutet. Dies bringt nun einerseits den Vorteil mit sich, dass sich die Schüler so zunächst ganz auf den technischen Umsetzungsprozess konzentrieren können. Zum anderen entfällt dadurch auch das bei den herkömmlichen Methoden vielbeklagte Hauptproblem des „Zusammenschleifens“. Viele Kinder lernen im traditionellen Fibelunterricht zwar die Lesetechnik, aber nie wirklich lesen. Sie können lediglich die richtigen Laute aneinander reihen, verstehen aber nicht den Sinn des Gelesenen. Eine zunehmende Tendenz in dieser Richtung wird durch die hohe Zahl der Analphabeten bestätigt.
Wenn die Kinder „durch Schreiben“ lesen lernen, dann können sie es laut Reichen plötzlich und auch ‚richtig’, d.h. in dem Sinne, in dem er Lesen versteht: dass sie nämlich nicht nach und nach die einzelnen Laute aneinander hängen und sie dann „zusammenschleifen“, sondern dass sie im selben Moment, in dem sie auf das Wort blicken einen Sinn entnehmen können (vgl. Reichen 1994, S. 70 f.).
Im Gegensatz zu „Lesen durch Schreiben“ arbeiten die traditionellen Fibellehrgänge dagegen in der Regel zunächst mit einem sehr eingeschränkten Wortschatz. Dies bringt eine ganze Reihe von Nachteilen mit sich, die durch die Methode „Lesen durch Schreiben“ vermieden werden können. Ein Wortschatz an wirklich sinn- und bedeutungsvollen Wörtern fehlt den Fibeln meist lange Zeit; in der Regel werden zunächst nur Zwei- oder Dreiwortsätze verwendet, auf jeden Fall eine sehr verkürzte Sprache mit teilweise rudimentärem Charakter. Dies muss eine lähmende Wirkung auf die Lernentwicklung der Kinder haben: Schulanfänger haben bereits sechs Jahre Spracherfahrung und verfügen über einen differenzierten, umfangreichen Wortschatz, der im krassen Widerspruch zu dem niedrigen Sprachniveau der meisten Fibellehrgänge steht. (vgl. Leibenath 1992, S. 10). Kein Kind spricht diese reduzierte Sprache der Fibeln, und so hindern diese Lehrgänge die Kinder daran, sich so auszudrücken, wie sie es bereits können. Es kommt dadurch zu einer Spaltung zwischen der Sprache, die sie untereinander gebrauchen und der in der Fibel verwendeten Wörter, die nicht ihrem sprachlichem Entwicklungsstand entsprechen. (vgl. Hamburger Freinetgruppe: Maaser & Kunstreich 1987, S. 16).
Bei Reichens Konzept dagegen gibt es diese Spaltung nicht. Schreiben wird hierbei vielmehr zu einem Ausdrucksmittel, dass die Kinder individuell und ganz natürlich anwenden. „Sie trennen nicht zwischen Schule und Alltag. Schreiben ist damit nicht etwas, das lediglich zur Schule gehört, sondern etwas, das in den eigenen Alltag einbezogen wird und dadurch einen selbst-aktiven „natürlichen“ Zugang zur Schrift und zum Lesen eröffnet“. Demgegenüber führt die verkürzte Sprache der Fibellehrgänge zu mehreren Problemen: Zum einen steht die reduzierte Fibelsprache in völligem Widerspruch zum Aufsatzunterricht, der im 3. Schuljahr beginnt. Dabei lernen die Kinder dann, „dass man nicht zweimal dasselbe hintereinander sagt, nicht aneinander reiht, nicht wiederholt – was man ihnen jedoch im 1. Schuljahr mühsam eingebläut hat“ (vgl Hamburger Freinetgruppe: Busch 1987, S.17). Im Gegensatz dazu ist „Lesen durch Schreiben“ Aufsatzerziehung von Anfang an.
Im Zusammenhang mit ausländischen Kindern führt das niedrige Sprachniveau der Fibellehrgänge zu einem weiteren Problem. Fremdsprachige Kinder stehen vor einer doppelten Schwierigkeit: Neben Schreiben und Lesen müssen sie auch noch deutsch lernen. Nun könnte man auf den ersten Blick meinen, dass der bei „Lesen durch Schreiben“ verwendete Wortschatz viel zu anspruchsvoll für diese Kinder sei; ihnen dagegen die einfache Sprache der Fibellehrgänge durch die leichtere Verständlichkeit entgegenkäme. Dies mag zwar im ersten Moment zutreffen, auf die Dauer ziehen die fremdsprachigen Kinder aus einer solchen Vereinfachung jedoch keinen Nutzen. Im Gegenteil, mit den begrenzten Wörtern des Fibellehrgangs Deutsch zu lernen, dürfte außerordentlich schwer fallen, zumal die Kinder ja auch vernünftig sprechen lernen sollen. Die meisten verkürzten Sätze, die in der Fibel stehen, entsprechen nicht dem normalen Sprachgebrauch, sondern stehen in völligem Widerspruch zu den Lerninhalten der Sprecherziehung.
„Lesen durch Schreiben“ stellt zwar besonders am Anfang sehr anspruchsvolle Forderungen an die Kinder, im Endeffekt bietet dieser Lehrgang jedoch auch für ausländische Kinder eine Reihe maßgeblicher Vorteile (vgl. Reichen 1988a, S. 48 f.).
Beispielsweise können sie dabei auch in ihrer Muttersprache schreiben; hierbei, sowie bei den vielen sprachfreien aufgaben und Übungen zur Wahrnehmungsschulung haben auch Kinder mit mangelhaften Deutschkenntnissen immer wieder Erfolgserlebnisse. Darüber hinaus kommt das Kernstück der Methode, nämlich genau hinhören und klar aussprechen lernen, gerade den fremdsprachigen Kindern sehr zugute.
Die reduzierte Sprache der traditionellen Fibellehrgänge führt des weiteren dazu, dass sich viele Kinder durch die vereinfachte Sprache unterfordert fühlen. Insbesondere Kinder, die bereits bei Schuleintritt lesen können, verlieren dadurch die Lust am Lernen. Wenn die Kinder anhand einer solchen künstlich verkürzten Sprache das Lesen lernen, hat dies oftmals negative Einflüsse auf die Lesemotivation zur Folge. „Lesen durch Schreiben“ dagegen möchte durch verschiedene Maßnahmen in besonderer Weise eine Förderung der Lesemotivation bewirken: die Kinder werden niemals zum Lesen aufgefordert oder gezwungen, so bleiben ihnen anfängliche Misserfolge beim Lesen erspart. Auf diese Weise wird die potentielle Lesemotivation durch nichts beeinträchtigt; allein die Druckfreiheit und Freiwilligkeit als Grundlage des Lesens dürfte eine motivierende Wirkung haben.
Daneben wird die Lesemotivation verstärkt dadurch gefördert, dass die Kinder selbst Texte produzieren und diese auch lesen wollen. Es ist sicher um einiges motivierender, wenn ein Kind den Text seines Freundes lesen möchte, als wenn es irgendeinen vorgeschriebenen Text, der mit ihm persönlich nichts zu tun hat, lesen soll. Der Aspekt, dass es keine Bloßstellung schwacher Schüler beim Vorlesen vor der Klasse gibt, ist zudem auch unter einem anderen Gesichtspunkt von Bedeutung: schwache Schüler werden dadurch psychologisch entlastet.
Das selbstständige Lernen verhindert laut Reichen legasthenische Fehlentwicklungen und vermittelt den Kindern Erfolgserlebnisse. Dadurch wird das Selbstbewusstsein gestärkt, was unter pädagogischen Aspekten betrachtet den Hauptvorteil des Verfahrens ausmacht: „„Lesen durch Schreiben“ vermittelt dem Schüler die Überzeugung, er selbst habe sich das Lesen und Schreiben beigebracht, nicht die Lehrerin“ (Reichen 1992, S 9).
Als weitere positive Folge von „Lesen durch Schreiben“ wird die Art, wie die Kinder lesen, hervorgehoben: Sie lesen ohne Zwang und mit Begeisterung; ohne das übliche Gestottere, sondern mit fester Stimme, voller Stolz über das eigene Können (vgl. Hamburger Freinetgruppe: Busch 1987, S.17).
Die Eltern haben zwar in der Regel verschiedene Bedenken gegenüber dem Lehrgang, besonders was die Rechtschreibung anbelangt. Es gibt jedoch auch einige Aspekte, die von ihnen begrüßt werden: Zum einen der angenehmere Übergang vom Kindergarten in die Schule: durch den werkstattgemäßen Unterricht können sich die Kinder frei im Klassenzimmer bewegen; die Abteilung verschiedener Zonen des Raumes erinnern zudem an die Spielecken im Kindergarten (vgl. Weiß 1993, S. 4). Daneben bestätigen viele Eltern die oben genannten Vorteile des Lehrgangs gegenüber den üblichen gleichschrittigen Fibellehrgängen. „Daß jedes Kind dort abgeholt wird, wo es sich mit seiner Lernerfahrung befindet, dass es sich nach individuellen Möglichkeiten entwickeln kann, ohne Druck lesen lernt, vom ersten Schultag an kreativ tätig ist, das war allen Eltern bewusst und begeisterte sie täglich aufs neue“ (Weiß 1993, S.5).


5.2.3.2 Probleme

Reichen selbst sieht in seinem Konzept „Lesen durch Schreiben“ den optimalen Weg zum Lesen- und Schreibenlernen. Auf Anfrage nennt er zwar keine konkreten Nachteile des Konzeptes, bleibt jedoch realistisch und stellt „Lesen durch Schreiben“ auch nicht als die ideale Leselehrmethode ohne jedes Problem dar. So gibt er zu, dass das Konzept zwar keine Nachteile hat, aber ein Problem beinhaltet: „Es ist einem großen Teil der Lehrerschaft nicht adäquat zu vermitteln. Ein Teil der Lehrerschaft ist gleichsam nicht qualifiziert genug, das Konzept umzusetzen“ (J. Reichen, persönliche Mitteilung 22.11.1999).
Diese hohen Anforderungen stellen laut Reichen ein Risiko für den Erfolg des Lehrgangs dar: „„Lesen durch Schreiben“ ist kein geschlossenes Lehrsystem, das sich selber als „narrensicher“ versteht. Bei mangelhafter Handhabung des Lehrgangs kann eine Klasse durchaus „verunglücken“ (vgl. Reichen 1984a, S.4 f.).
Daneben führt er an, dass bei einem Teil der Elternschaft, vor allem bei Eltern der konservativen Grundschicht, ein Vermittlungsproblem feststellbar ist. Damit spricht Reichen die Hauptprobleme des Konzepts an. An den Lehrer stellt der Lehrgang sehr hohe Anforderungen: Der Erfolg von „Lesen durch Schreiben“ „ist allerdings abhängig vom Können und einer bestimmten Haltung der Lehrerin“ (Reichen 1992b, S.7). Die neue Lehrerrolle muss jedoch meistens erst erlernt und verinnerlicht werden, weswegen besonders anfangs verschiedene Ängste bei den Lehrern auftreten. Ein Problem dabei ist auch, dass die Lehrerbildung dem Lehrgang meist nicht entspricht: „Da sich der Lehrgang an einer didaktischen Konzeption orientiert, die bisher die wenigsten Lehrerinnen in ihrer Ausbildung kennen lernten, ist ein erfolgreicher Einsatz dieses Lehrgangs nur möglich, wenn Lehrerinnen zum Umdenken bereit sind“ (Reichen 1992b, S.7). So wird in der Lehrerbildung bisher weniger gelernt, Vertrauen in die Kraft und den Lernwillen der Schüler zu haben (vgl. Busch 1992, S.15), und auch hinsichtlich der Unterrichtsführung und –gestaltung sind die Lehrer mit etwas Neuem konfrontiert. Sie müssen sich deshalb selber stark umstellen (vgl. Reichen 1988b, S. 2).
Daneben werden weitere beachtliche Forderungen an den Lehrer gestellt. Er muss Lernprozesse planen und Angebote bereitstellen, sowie die Fortschritte, Hemmungen, den individuellen Lernstand der Schüler genau beobachten und darauf reagieren können. Dies setzt sowohl eine hohe fachdidaktische Kompetenz, sowie auch viel Engagement und ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen voraus (vgl. Kantonale Lehrmittelkommission 1987, S. 11). Des weiteren ist für die Durchführung von „Lesen durch Schreiben“ viel Mut und Ausdauer nötig.
Lehrer, die mit „Lesen durch Schreiben“ arbeiten, berichten häufig von einer erstaunlichen Arbeitswut der Kinder bzw. von einem vorher nicht gekannten Lernwillen, und sind beeindruckt „vom Eifer und der Konzentration, mit denen die Kinder arbeiten“ (Sihltaler 1988, zitiert nach Reichen 1988c, S.2). Dennoch wird der Mut und das Vertrauen der Lehrer zunächst auf eine harte Probe gestellt: Wenn die Kinder auch mehr oder weniger intensiv schreiben, so weiß der Lehrer dennoch oft lange Zeit nicht, wie weit der Leselernprozess gediehen ist, da das Lesenkönnen von allein und häufig über Nacht kommt. In den ersten Schulwochen werden vor allem Präfigurationsprozesse* bei den Schülern ausgelöst; durch die jedoch zunächst kein direkter Lernerfolg feststellbar ist (vgl. Reichen 1988, S.2). Der Lehrer muss diese Unsicherheit aushalten und zudem gegenüber oft ungeduldigen und misstrauischen Eltern vertreten, was keine leichte Aufgabe ist (vgl. Busch 1992, S.15). Der Lehrer steht auf diese Weise unter großem Druck und muss diese starke Belastung einige Zeit ertragen.
In besonderer Weise stellt sich diese Schwierigkeit, wenn ein Lehrer zum ersten Mal mit „Lesen durch Schreiben“ arbeitet. Je öfter er jedoch den Lehrgang durchgeführt und gute Erfahrungen damit gesammelt hat, umso leichter wird ihm diese schwierige Anfangsphase fallen: „Ich habe nun zum zweiten Mal mit diesem Leselehrgang gearbeitet und halte einige Erfahrungen fest, die mir beim Vergleichen aufgefallen sind: [...] ich glaube, dass der individuelle Unterricht einer gewissen Bewährung bedarf, die dem Lehrer auch Sicherheit bringt und das Vertrauen, dass es die Schüler doch noch schaffen“ (Oberholzer 1982, S. 8). Mit wachsender Erfahrung des Lehrers werden ihm auch die Eltern leichter vertrauen.
Ein weiterer Aspekt dieses Lehrgangs wird von vielen Lehrern als Belastung empfunden: Die Leistungsunterschiede werden hier nicht mehr verschleiert, sondern treten im Gegenteil deutlich hervor und werden eine Zeitlang sogar noch verschärft. Dadurch steht der Lehrer einer Klasse gegenüber, die einen vollständig uneinheitlichen Kenntnis- und Leistungsstand aufweist (vgl. Reichen 1988b, S.2). Zu beachten ist hierbei jedoch, dass diese Unterschiede nicht neu sind, sondern nur vermehrt zum Vorschein kommen: „Lehrerinnen scheinen bei der Verwendung dieses Lehrgangs die individuellen Unterschiede zwischen ihren Schülern viel ausgeprägter zu erleben. Diese Unterschiede waren seit eh und je da, unabhängig von Lehrgängen, wurden aber zum Teil durch Anwendung kursiver Prinzipien überspielt, oft zum Nachteil der sehr begabten sowie der leistungsschwächeren Schüler“ (Kantonale Lehrmittelkommission 1986, S. 8).
Auch wenn der Lehrer durch die großen Unterschiede vor neue Probleme gestellt wird, ist diese Tatsache dennoch insgesamt positiv zu bewerten, da die Kinder auf diese Weise entsprechend ihren individuellen Stärken und Schwächen besser gefördert werden können. Der Lehrgang „Lesen durch Schreiben“ ist unlösbar verbunden mit einer Öffnung des Unterrichts. Die Materialien von „Lesen durch Schreiben“ liefern dafür einen guten Grundstock an Arbeitsmitteln und können Anfängern einen ersten Halt geben. Der Einsatz des Materials ist nicht einfach. Es gehört zum Konzept von „Lesen durch Schreiben“, dass das Material ein Überangebot darstellt, aus dem jeder Lehrer individuell auswählen kann. Es ist jedem Lehrer freigestellt, welche Materialien er einsetzt, welche er weglässt und in welcher Weise er das Material zusätzlich ergänzt. Da es nicht chronologisch angeordnet ist, bleibt auch der zeitliche und methodische Einsatz des Materials offen und kann von jedem Lehrer individuell festgelegt werden. Diese Aufgaben sind jedoch nicht einfach und verlangen einiges Geschick vom Lehrer. Besonders beim ersten Arbeiten mit dem Lehrgang fühlen sich Lehrer deshalb oftmals unsicher und mit diesen Aufgaben überfordert. Die Offenheit des Konzepts kann anfangs sehr verwirrend wirken, da eine souveräne Übersicht über das komplexe Lehrgangsmaterial fehlt. Die Rahmenthemen können dabei jedoch als Orientierungshilfe dienen und den Lehrern einen ersten Halt bieten. Erfahrungsberichten zufolge verhält es sich häufig so, dass aufgrund dieser Unsicherheiten anfangs viele Lehrer noch sehr am Material „kleben“, jedoch beim wiederholten Durchführen des Lehrgangs lernen es flexibler einzusetzen (vgl. Eberbach-Klemenz 1992, S.12 f.).
Neben dem richtigen Umgang mit dem Material stellen sich eine ganze Reihe weiterer Anforderungen, mit denen Lehrer, die zum ersten Mal mit „Lesen durch Schreiben“ arbeiten, Schwierigkeiten haben. Teilweise entsprechen diese den Problemen, die bereits im Zusammenhang mit dem Werkstattunterricht dargestellt wurden, da sie mit dieser Unterrichtsform zusammenhängen: „Die Lehrerin [muss] im Vergleich mit bisherigen Erstlese-Verfahren einiges an organisatorischem Mehraufwand auf sich nehmen, ein Mehr an unterrichtlicher Präsenz erbringen und eine erhöhte pädagogische Zuversicht entwickeln“ (Reichen 1988b, S.1).
Wie schon im Zusammenhang mit dem Werkstattunterricht erwähnt, zeugen jedoch auch verschiedene Berichte von Lehrern, die mit „Lesen durch Schreiben“ arbeiten, von einem höheren Aufwand für die Unterrichtsvor- und –nachbereitung, der jedoch gerne in kaufgenommen wird: „Ich stelle [..] fest, dass ich viel Freizeit fürs Herstellen von Arbeitsmitteln, fürs Einrichten neuer Lernstationen verwende, dass ich diesen Mehraufwand aber nicht bedaure, weil mir die Arbeit Spaß macht“ (Weiß 1993, S. 3).
Zudem ist die Übersicht und Kontrolle über die Schüler erschwert, was den meisten Lehrern zu schaffen macht. So berichtet beispielsweise Uli Brosch, ein Mitglied der Hamburger Freinetgruppe, davon, dass ihm die verinnerlichten Anforderungen, dass der Lehrer dafür sorgen muss, dass die Kinder am Tag ein gewisses Pensum geschafft haben, bei der Umstellung sehr im Weg gestanden haben: „Und dann immer im Kopf zu haben: das musst du schaffen, und dann ist schon wieder der Tag rum, und es ist nichts gelaufen, denkst Du; es läuft natürlich unheimlich viel, aber das weißt Du oft nicht“ (Hamburger Freinetgruppe: Brosch 1987, S.16).
Martin Kunstreich, ebenfalls ein Mitglied der Gruppe, berichtet von ähnlichen Erfahrungen. Ihm haben Eltern erzählt, „dass ihre Kinder auch so in Zeiten, wo ich das Gefühl hatte, die tun überhaupt nichts, unheimlich geschafft nach Hause gekommen sind – also geschafft im positiven Sinn, wo man richtig merkt, die sind einfach abgearbeitet, und da wurde mir dann auch klar: Da läuft soviel, was man gar nicht merkt!“ (Hamburger Freinetgruppe: Kunstreich 1987, S.16).
Da der Lehrer demnach oft nur wenig von den Fortschritten und Anstrengungen der Kinder merkt, muss er lernen, auch ohne einen direkt feststellbaren Lernfortschritt Vertrauen in die Kinder zu haben. „Dies setzt freilich pädagogischen Optimismus voraus, eine Überzeugung, dass die Selbstentwicklungskraft und Selbstlernfähigkeit der Kinder so gross sind, dass didaktische Führung vielfach unnötig ist, dass Kinder im Prinzip sehr viel mehr verstehen und leisten können, als ihnen der Anfangsunterricht meistens zutraut[...]“ (Reichen 1988b, S. 10). Dies bedeutet für viele Lehrer eine völlige Umstellung gegenüber ihrer bisherigen Denkweise und Praxis.
Eine weitere wichtige Anforderung an den Lehrer wird im Zusammenhang mit organisatorischen Fragen gestellt. Reichen warnt davor, diesen Aspekt nicht zu unterschätzen, da hier die „einzige Gefahr des Misslingens“ bestehe (vgl. Reichen 1988b, S. 10). Der Lehrer muss insbesondere Maßnahmen ergreifen, um bei den vielen Arbeitsblättern Ordnung und Übersicht zu ermöglichen. Reichen gibt hierzu eine ganze Reihe von praktischen Hinweisen, die die Organisation des Unterrichts unterstützen.
Trotz all dieser Schwierigkeiten wird der Lehrgang von den Lehrern, die mit ihm gearbeitet haben, auch nach dem ersten Durchgang schon sehr positiv bewertet. Hinzu kommt der allgemeine Konsens, dass die Probleme und Belastungen anfangs besonders groß sind, aber mit der Zeit kontinuierlich abnehmen. Verschiedene Lehrer berichten auch davon, dass es eine große Hilfe ist, wenn sich mehrere Kollegen zusammenschließen, da verschiedene auftretende Unsicherheiten oft im Gespräch mit anderen aufgefangen werden können (vgl. Busch 1992, S. 15).
Neben den besonderen Anforderungen an den Lehrer nennt Reichen als zweites Hauptproblem das Vermittlungsproblem im Bezug auf die Elternschaft. Wenn Eltern das Konzept ablehnen und sich völlig uneinsichtig zeigen, führt das zu mehreren Problemen: Zum einen kostet es den Lehrer viel Mühe und Zeit, den Eltern immer wieder die Ziele und Hintergründe zu erläutern, um sein Vorgehen rechtfertigen zu können. Zum andern sind durch falsches Elternverhalten Störungen möglich: Wenn die Eltern die Grundsätze des Konzepts zu Hause nicht unterstützen sondern im Gegenteil mit dem Kind zusätzlich „synthetisierend“ üben, es zum Lesen drängen und ihm durch unangebrachte Korrekturen in „falscher“ Weise helfen, so kann dies den Prozess des selbstgesteuerten Lesen- und Schreibenlernens stören oder sogar zu einer Blockade des Lernprozesses führen (vgl. Mayer 1987, S. 10). Eine umfassende Information der Eltern ist deshalb unerlässlich. Reichen hat in seinen Schriften zusätzlich zur Unterstützung ein Merkblatt für die Eltern entworfen, das vom Lehrer kopiert und den Eltern mit nach Hause gegeben werden kann. Ähnliche Probleme können zudem auch im Zusammenhang mit Behörden auftreten.
Eine Gefahr des Konzepts könnte auch darin bestehen, dass der Ansatz für einzelne Kinder zu anspruchsvoll ist und sie den Sprung zum Lesen nicht schaffen. So berichtet eine Lehrerin von der Erfahrung, dass diese Kinder unwiderruflich auf der Strecke bleiben. Allerdings gibt sie auch zu bedenken, ob diese Kinder es mit einem traditionellen Leselehrgang hätten eher schaffen können. Sie selbst glaubt dies nicht; im Nachhinein ist das jedoch nicht mehr nachzuvollziehen, da der Schritt zurück unmöglich ist.


5.2.3.3 Zusammenfassung

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der von Reichen entwickelte Lehrgang „Lesen durch Schreiben“ eine ganze Reihe von Vorteilen bringt, und bei richtiger Anwendung nur zu empfehlen ist. Allgemeine Vorbehalte, besonders die Auswirkungen auf Rechtschreibung und Schrift betreffend, haben sich nicht bestätigt; im Gegenteil hat sich gezeigt, dass der Lehrgang auch auf diesem Gebiet mehr leistet, als die gängigen Fibellehrgänge. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass der Lehrgang keineswegs für jeden Lehrer geeignet ist. Er stellt vielmehr hohe Anforderungen an die Lehrperson und verlangt vor allem ein Umdenken im Bezug auf die Lehrerrolle. Der Lehrer wird ungleich höheren Belastungen ausgesetzt und hat zudem oftmals Probleme, das Konzept nach außen gegenüber Eltern und Behörden zu rechtfertigen. Nur wer zum Umdenken bereit ist, sich den höheren Anforderungen stellt und vor allem von der Wirksamkeit und Richtigkeit des Konzepts überzeugt ist, sollte den Lehrgang durchführen.
Reichen selbst ist der Meinung, dass unter Umständen einigen Lehrern von dem Lehrgang abgeraten werden muss: „Wer überzeugt ist, dass Schulanfänger vor allem durch das Gemüt anzusprechen sind, dass ihr Lernprozess aus dem gemüthaften Bereich gespiesen wird und dass dem Lehrer eine stark behütend betreuende Aufgabe zukommt, wird bei „Lesen durch Schreiben“ nicht auf seine Kosten kommen. Wer andererseits [...] an die Wirkung systematischer und logisch aufgebauter, sich nacheinander folgender Lernschritte glaubt, stark unmittelbar leistungsorientiert ist und [...] [von] der Priorität des Übens überzeugt ist, wird mit diesem Lehrgang ebenfalls Schwierigkeiten haben“ (Reichen 1984, S. 6). Es ist gerade bei diesem Konzept von größter Wichtigkeit, dass Lehrer, die mit „Lesen durch Schreiben“ arbeiten, dies freiwillig und aus Überzeugung tun. Es wäre deshalb widersinnig, die Durchführung von „Lesen durch Schreiben“ quasi von oben anzuordnen. Es ist vielmehr eine wichtige Grundlage des Konzepts, dass sich der Lehrer frei dafür entscheiden muss, auch weil dafür viel Mut nötig ist. Reichen bekräftigt diesen Sachverhalt: „Ein Lehrer kann nur solche Lehrgegenstände didaktisch erfolgreich vermitteln, die er selber als lehrwürdig betrachtet. Vorbehalte eines Lehrers, beispielsweise gegenüber einem Lehrmittel, übertragen sich unweigerlich auf die Klasse, und echte Wirkungsmöglichkeiten des Lehrmittels werden vertan.“