Einem Fremden vertrauen?
Schüler spielen Schiller. Der ZDF-Theaterkanal und
das Theatertreffen der Jugend im Rahmen der Berliner Festspiele veranstalteten
einen Wettbewerb, an dem 103 Gruppen aus Deutschland und der Schweiz
teilnahmen, von denen die sechsköpfige Jury nach den eingesandten Unterlagen
zehn einer genaueren Prüfung vor Ort für würdig befand. Die fünf
Gewinner-Inszenierungen aus dieser Begutachtung dürfen vom 14. bis 19. Mai in
Berlin das Theaterfestival "Schiller 05" bestreiten und werden dort fürs
Fernsehen aufgezeichnet. Was aber interessierte beteiligte Schiller-Schüler an
dem Meister?
Der Besuch der Jurymitglieder für das "Räuber"-Projekt "Bande" fiel erst in den Beginn der zweiten Probenwoche. Regisseur Arne Dechow und seine etwa 20 Spielschüler konnten dafür schon überraschend weit gediehene Szenen vorführen. An der Wiesbadener Helene-Lange-Schule, einer Modellschule in Hessens Hauptstadt, können interessierte Schüler der 9. und 10. Klasse sich - nach längerer Vorbereitung - fünf Wochen lang ganz aufs Theaterspielen konzentrieren. In ihrer gemeinsam erarbeiteten Fassung kombinieren sie Schillers Schul-Stück mit Leonhard Francks Romanvariation "Räuberbande" vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Aufbegehrende junge Würzburger Männer träumen darin von Schillers Räubern, aber auch von Old Shatterhand und davon, ihm nach Amerika zu folgen und die spießige Heimatstadt niederzubrennen. Diesen in Wiesbaden von den Buben gespielten Szenen, die hier ein Hauch von "Frühlings Erwachen" umweht, ist die Darstellung wirklich rebellischer Mädchen gegenübergestellt; denn die Räuberszenen um Karl Moor werden sämtlich von jungen Damen gespielt. Ein genervter Chearleader-Tanzchor erklärt einfach zu Beginn: "Keinen Bock mehr auf schnuckelige Liedchen. Wir machen jetzt Terror." - und verwandelt sich prompt zur gefährlichen Räuberbande.
Schiller-Bande in Wiesbaden
Diese Schul-Inszenierung präsentiert männliche Maulhelden auf der einen Seite und konsequent revoltierende Girlies auf der anderen. Wie diese Welten miteinander in Kontakt kommen, ließ sich bei diesem Stand der Proben noch nicht recht abschätzen. In einer neu geprobten Szene gelingt es einem der Jungen immerhin, ein Mädchen für sich zu interessieren, mit Hilfe des Reclam-Heftchens der "Räuber". Die Welt der Schüler von heute, der Schiller aufnehmende Roman und schließlich in diesem Rahmen zitierte "Räuber"-Szenen bilden die Ebenen des Projekts. Als Zeichen dieses zitierenden Heranholens des großen Dichters fungiert das gelbe Reclam-Heftchen.
Und Schillers Text? Den Schülern fällt es - jedenfalls in dieser frühen Probenphase - deutlich schwerer, das Räuber-Pathos mit persönlichem Leben zu füllen, als die vermittelnden Szenen um verwirrte Jugendliche zu gestalten. Der Vortrag aus dem begeisternden Schiller-Buch gerät dem Leser pathetisch; dies mag Konzept sein, lässt dann aber die Frage nach dem Grund für seine Begeisterung unbeantwortet. Die Erzählung über die blutige Rettungsaktion für Räuberin Roller stellt naturgemäß eine pathetische Überforderung der Darstellerin dar; die zynischen Reaktionen einer Kollegin auf den Bericht wirken dagegen frischer und glaubwürdiger.
Im anschließenden Gespräch betonen die Jugendlichen, dass ihnen Glaubwürdigkeit im Spiel wichtig sei. Deshalb wollen sie als junge Menschen keine Erwachsenen spielen, weil das nur zu schlechtem Theater führen könne. Andererseits sehen sie den Reiz im Rollenspiel darin, zu probieren, was man sonst nicht versuchen könne, einschließlich Geschlechtertausch. Das sei ja gerade das Spannende, wirft eine der Räuber-Darstellerinnen ein, dass man als Mädchen den Originaltext der männlichen Räuber "anders" spiele. Durch die so entstehende Distanz könne man sozusagen von außen auf den Text und die Inszenierung gucken. Die Mädchen spielen Aufrührer. Das, so meint die ganz und gar nicht unsympathisch wirkende Schauspielerin des Kindermörders Schufterle, sei "richtig geil", weil man in dieser Rolle etwas "ganz anderes", vom Leben abweichendes machen könne. Auch die Darstellerin des Franz Moor sieht in der Ferne der Figur einen starken Reiz: "Der Text ist total hart", doch habe sie selbst ansatzweise solch rebellische Gedanken gehabt, mit denen sie außerhalb des Theaters sich aber nicht so intensiv auseinandersetze. In dem Gespräch wird deutlich, dass die Schüler keineswegs blind gehorchende Schauspieler eines Regisseurs sind, sondern reflektierte, eigene Gedanken in ein (in diesem Probenzustand allerdings noch) unfertiges, doch stets charmantes Kunstwerk einfließen lassen.
Theater bildet
Theaterspielen funktioniert hier offenbar als Teil der Bildung der Schüler im Sinne Schillers - auch wenn der Schiller-Text in der Darstellung weitgehend fremd bleibt. Nicht wirkliches Aufbegehren oder eine reale Revolution interessiert die Teilnehmer, sondern die persönliche Ausbildung in einer Gruppe. So sei beim "Casting" zum Projekt auch nicht der potentielle "Starfaktor? der Vorspieler ausschlaggebend gewesen, sondern ihre Integrationsfähigkeit in die Theatergruppe.
Anfangs stellte einer der Jungen fest, für die Jugendlichen in dem Franck-Roman stecke die Freiheit in den Büchern: Karl May und Friedrich Schiller. Darin scheint für die Wiesbadener Schüler und ihren Regisseur aber auch das Problem zu liegen. Es entsteht der Eindruck, als sei die ironische Freiheit im Umgang mit Schiller leichter zu handhaben als die ernsthafte und lebhafte Auseinandersetzung mit dem Text selbst. Die Vermittlung droht das zu Vermittelnde zu verdrängen.
In der Beurteilung der schließlich ausgewählten fünf Gruppen ist im Sinne der Jury zu lesen, die ausgewählten Produktionen zeichneten sich "durch eine eigenständige Herangehensweise an die Person Schiller und sein Werk aus?, sie schafften es "auf originelle Art, einen Bezug zu ihrer eigenen Lebenswirklichkeit herzustellen." Das aber legt nicht nur für die Wiesbadener "Bande", sondern den gesamten Wettbewerb die Frage nahe, worin dann die innere Verbindung zu Schiller bestehe. Das "Räuber"-Projekt der Wiesbadener Helene-Lange-Schule gehörte übrigens nicht zu den fünf Gewinnern.
Sportlicher Schiller in Darmstadt
In Darmstadt beteiligte sich die Theaterquarantäne an dem Wettbewerb; die Gruppe ist eine aus etwa zehn 17- bis 22-Jährigen bestehende Jugendtheatergruppe, die aus dem Jugendclub des Staatstheaters entstanden ist. Leiter und Regisseur ist hier der Lehrer Hanno Hener. Wohl eher aus strategischen Wettbewerbsgründen denn aus innerer dramaturgischer Notwendigkeit wählten sie für "System Schiller" Racines "Phädra" in Schillers Übersetzung als ihren Schillerbeitrag, der auch prompt den Sprung zu den fünf nach Berlin geladenen Inszenierungen schaffte.
Die Inszenierung, beim Jurybesuch wenige Tage vor der Premiere, bemüht sich auch um Schiller-Vermittlung, allerdings weniger mit dem pädagogischen Anspruch, den jungen Darstellern ihren alten Autor näher bringen zu wollen, als mit dem Ziel, durch ausgefeilte Regie dem Publikum eine zeitgemäße Schiller-Paraphrase zu präsentieren. Das professionell wirkende Bühnenbild stellt eine verfremdete Tischtennisplatte dar. Vor der Bühne stehen an zwei bekränzten Rednerpulten zwei geschniegelte Redner, die im Verlauf des Spiels immer wieder chorisch-chaotisch im Stile geistloser Politiker aus der "Glocke" rezitieren. Beim gelegentlichen Seitenwechsel der beiden zwischen den Pulten wird sichtbar, dass unter dem dunklen Sakko auf weißem, Krawatten geschmücktem Hemd nur Boxer-Shorts den Unterleib zieren. Hinter dem Bühnennetz sitzt auf einem Schiedsrichterstuhl ein rothaariger Jüngling mit Rüschenhemd samt Schillerkragen, der Poet persönlich. Zuweilen zitiert er ins Geschehen hinein aus seinen theoretischen Schriften oder gibt markige Sprüche aus seiner Feder - à la "Axt im Hause" - zum Besten.
Das eigentliche Phädra-Spiel um die für alle Beteiligten unglücklich in ihren Stiefsohn verliebte Königin ist in hohem Maße stilsiert. Sport-Zitate, Statuarik, ironische Brüche prägen das Spiel. Eingefügt sind Stellen aus anderen Schiller-Stücken; dies wirkt allerdings eher als Schmankerl für Kenner denn als notwendige Ergänzung. Das Spiel der Darsteller ist von sehr unterschiedlicher Qualität. Theseus wird sehr präsent interpretiert, auch der Sportler-Bote gerät sprachlich prägnant. Hier wird die Sprach-Phantasie Racine-Schillers vom Hippolyttötenden Seeungeheur zum Ereignis. Dagegen wirken andere Darsteller weniger lebhaft. Zuweilen drängt sich der Eindruck auf, das Konzept bestimme das Schauspieler-Sein. Statt vielleicht unbeholfenem, aber dafür glaubwürdigem Schülertheater, wirkt "System Schiller" in dieser Probe wie ambitioniertes Regietheater.
Im Gespräch erzählen die Darmstädter Jugendlichen von ihren Vorbehalten, die sie zuvor gegen den Dichter hatten. In der Schule war er einem als "Klugscheißer" erschienen, doch im Verlauf der Arbeit habe sich das Bild gewandelt: "Jetzt habe ich Lust auf diese Sprache". Die fremden Sprachbilder gerieten im Lauf der Zeit eingängiger. Die fremde Sprache sei durch die Reime leicht zu sprechen, und dieses seltsame Sprechen habe auch seinen Reiz. Der Theseus-Darsteller betont, dass für ihn eine starke Kraft in Schillers Sprache stecke; das Stück sei eben nicht nur durch die Aktionen vital, sondern durch die Sprachkraft. Andererseits bleibe eine Fremdheit bei Worten wie "itzt" bestehen. Die Jugendlichen sind sich einig, das sie in ihrer Inszenierung "Schiller auf liebevolle Weise verspotten" wollen. Ironisch mehrdeutig ist auch der im "System Schiller" eingespielte Song: "I love you Sheila dear".
Theater zwischen Schiller und Schülern
Bescheidener, das lässt der Einblick in eine Videoaufzeichnung erkennen, ist der Ansatz der Theatergruppe des Straubinger Ludwiggymnasiums. In "Fräulein Ritter. Handschuhszenen frei nach Schiller" dienen die dramatischen und auch heute noch in Schulen präsenten Balladen des Klassikers als Anregung zum geistreichen Schulspiel. Kreativ hat die Gruppe Szenen, etwa um Ritter im Minnelied-Dichter-Kurs und um literaturselige Handschuhfräulein, gebaut und nutzt dabei die Themen Ballade und Poesie für Situationskomik. Die biographische Anknüpfung an Schiller führt in Straubing zu Theater, das den Schülern auf den Leib inszeniert ist.
Einen ernsten und zugleich zutiefst lebendigen Zugang zum Jubilar scheint (nach Videoansicht) die Theatergruppe des Herzog-Christian-August-Gymnasiums in Sulzbach-Rosenberg gefunden zu haben. "Die Jungfrau" ist eine sowohl stilisierte als auch spielerisch den jungen Darstellern höchst angemessene, eine stark auf die Verssprache bauende, dabei aber nie altertümelnde Inszenierung. Die Oberpfälzer Schüler meistern beeindruckend den Spagat zwischen fremdem, aber reichem Text und eigener Lebenserfahrung.
Auf die Frage, was Schiller heutzutage wohl in der Welt anstellen würde, hatten die Wiesbadener Schüler vorgeschlagen: "Kabarettist", "Gesellschaftskritker? oder "Diktator auf Kuba". Und in Darmstadt erfahre ich, Goethe passe gut zu den Beatles, Schiller aber sei als zeitloser Klassiker eher den Rolling Stones seelenverwandt. Die Texte dieser wie jener Klassiker sind nicht immer leicht verständlich; Befriedigung kann die Beschäftigung mit ihnen dennoch verschaffen.
Von Detlev Baur
Der Text erschien in der Mai-Ausgabe des Theatermagazins "Die Deutsche Bühne".
http://www.die-deutsche-buehne.de/
Weblog zu "Schüler spielen Schiller":
http://schueler.zdftheaterkanal.de/xmlmarbach