Kurze Beschreibung der Methode
Primäre und sekundäre Quellen
Theoretische und praktische Begründung
Darstellung der Methode
Beispiele
Reflexion der Methode
Praxiserfahrungen

3. Theoretische und praktische Begründung

>> 3.1. theoretische Begründung
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3.1. Theoretische Begründung

Die Methode des biografischen Arbeitens wird seit Mitte der 70er Jahre eingesetzt, um Menschen auf der Suche nach dem Sinn des Lebens und auf der Suche nach sich selbst zu unterstützen und zu begleiten. Im Zentrum dabei steht immer die Persönlichkeitsentwicklung des Einzelnen. Aber was ist genau unter Biografie zu verstehen? Was möchte Biografiearbeit erreichen? In welchen Kontext ist diese Methode zu gliedern und wo sind ihre Ursprünge zu finden? All diese Fragen müssen wir zunächst klären, um überhaupt verstehen zu können, warum wir in der Postmoderne (vgl. Bauman 1999) biografisch arbeiten und warum dieser Arbeit ein sehr hoher Stellenwert zugesprochen werden sollte.
Der Biografiebegriff wird im Lexikon im 19. Jahrhundert wie folgt definiert: „Biografie, vom griech. bios,  Leben, und graphien, schreiben, also Lebensbeschreibung, ist die mit histori­scher Kunst … ausgeführte Darstellung des Lebens eines bestimmten Individuums. Diese Darstellung, als eine wahrhaft historische, umfasst sowohl die äußere Geschichte wie die innere intellektuelle und sittliche Entwicklung dieses einzelnen Menschen. Sie unterscheidet sich darum von dem bloßen Lebenslauf (curriculum vitae), der die Hauptmomente eines Lebens nur äußerlich aneinander reiht“ (Brockhaus 1851, Band 2 zit. n. Fuchs 1984, 35).
Anhand dieser alten und bis heute wiederkehrenden Definition wird deutlich, das Biografiearbeit, also die Arbeit an der eigenen Biografie, die ganze Person mit ihren inneren Empfindungen und äußeren Umständen in den Blickpunkt rückt. Dabei bearbeitet das Individuum nicht nur seinen jetzigen Standort, sondern versucht den Weg bis dorthin zurück zu verfolgen und neue Wege in die Zukunft zu entwerfen (vgl. Ruhe 2003, 11). Durch diesen Reflexionsprozess schöpft das Individuum neue Kraft und Mut und gewinnt dadurch wiederum ein stärkeres Selbstwertgefühl.
Diese Selbstreflexion anhand der eigenen Biografie ist die eine Seite des biografischen Lernens. Die andere Seite des biografischen Lernens ist die Auseinandersetzung mit Fremdbiografien. In der Auseinandersetzung mit Fremdbiografien lernt das Individuum seine Einstellungen und Haltungen mit denen anderer Menschen abzustimmen, Unterschiede zwischen den einzelnen Lebenswegen zu erkennen, neue Informationen zu gewinnen, eventuell individuelle Erinnerungen durch den Kommunikationsaustausch hervorzulocken und dadurch seine eigene Lebensgeschichte neu zu überdenken und neu zu gestalten, so dass sich eine veränderte Selbstauffassung entwickeln kann (vgl. Fuchs 1984, 80 f.). Demnach kann das Individuum für seinen weiteren Lebensweg aus der biografischen Selbstreflexion und aus den Biografien anderer Menschen biografisch lernen. Das biografische Lernen können wir als Klammer sehen, die den selbstreflexiven Strang als Biografiearbeit und die Auseinandersetzung mit Fremdbiografien als Biografieforschung umspannt. Das Zusammenwirken dieser beiden Stränge ist in Abbildung 1 weiter unten dargestellt.
Biografiearbeit hat immer biografisches Lernen zum Ziel. Dieses möchte dem biografisch Arbeitenden neue Lernprozesse vermitteln, die dieser selbstständig ausführen kann. Das  biografische Lernen bezieht sich nicht allein auf das Empfinden und die Erfahrungen des Individuums, sondern sieht dieses auch immer eingebunden in die Gesellschaft (vgl. Grundner in http://www.stefan.poehl.name/text/lernbiographien-erwachsenenbildner.pdfl, 1).
Jedoch ist biografisches Lernen nicht nur für Lernende, sondern auch für Lehrende von höchster Bedeutung, insbesondere, wenn sie in pädagogischen Praxisfeldern, wie zum Beispiel in der Schule, Fach- und Hochschule usw. tätig sind. Das biografische Lernen ist für Lehrende insofern wichtig, da sich sehr häufig die selbst erfahrenen Erziehungsweisen in der Erziehung der Lerner widerspiegeln (vgl. Gudjons/Pieper/Wagener 1986, 12/51). Um die individuellen Erfahrungen nicht in der Erziehung anderer als unreflektierte Übertragungen mit einfließen zu lassen, ist es notwendig, dass jeder Lehrende den Prozess des biografischen Lernens durchläuft, sich mit seinen individuell gemachten Erfahrungen auseinander setzt, diese überarbeitet und neu strukturiert
(vgl. url: http://www.dialogische-fachdidaktik.de/1.7BIOGRA%20L.pdf, 6).
Die Methoden und Techniken des pädagogischen Arbeitens reichen nicht aus, um das Projizieren der individuellen Erfahrungen des Lehrenden auf die Lernenden zu umgehen. Aus diesem Grund ist biografisches Lernen ein Muss für jeden, der in erzieherischer, beraterischer oder sozialer Arbeit tätig ist (vgl. Schmidbauer/Schiek in Gudjons/Pieper/Wagener 1986, 54). Biografisches Lernen hat im Bezug auf Lehrende Selbsterziehung zum Ziel. Die Durchführung des biografischen Lernens für Lehrende könnte zum Beispiel in Fallbesprechungs- oder Supervisionsgruppen stattfinden
(vgl. url:  http://www.dialogische-fachdidaktik.de/1.7BIOGRA%20L.pdf, 7; Gudjons/Pieper/
Wagener 1986, 55).
Die Auseinandersetzung mit den individuellen Lebens- und Lernwegen ist für Lehrende, die die Methode des biografischen Arbeitens einsetzen wollen, nicht nur wegen der Übertragbarkeit der Erfahrungen des eigenen Erzogen-Seins unerlässlich, sondern auch, um die Lernwege anderer zu verstehen und zu unterstützen (vgl. Schulz 1996, 8). Allerdings zeigen sich auf Seiten der Lehrenden oft zögerliche Reaktionen gegenüber dem biografischen Lernen, da dieses für sie eine große Herausforderung  birgt. Die Lehrenden müssen sich mit neuen didaktischen Wegen auseinandersetzen und sich vor allem selbst neuen Lernbewegungen unterziehen (vgl. Vogt in Schulz 1996, 183 f.).

skizze_biogr_lernen

Abbildung 1: Übersicht Biografisches Lernen
(url: http://www.dialogische-fachdidaktik.de/1.7BIOGRA%20L.pdf 4)

Neben den positiven Effekten, dass biografisches Lernen der Selbststeuerung dienen und die Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsmuster fördern kann, vermag es ebenso zu einer Steigerung der Intensität von Lernakten und einer Vertiefung von Fachwissen beizutragen (http://www.dialogische-fachdidaktik.de/1.7BIOGRA%20L.pdf, 14/ 18).

Das Arbeiten an der eigenen Lebensgeschichte oder auch das Schreiben der eigenen Autobiografie, in der der Verfasser über sich und sein Leben berichtet und dieses anderen Menschen verständlich machen möchte, kann verschiedene Ausgangspunkte haben. Zum Beispiel wurde die Autobiografie „Die Bekenntnisse - Die Träumereien des einsamen Spaziergängers“ von Jean Jacques Rousseau wohl nicht von ihm geschrieben, weil er nur Freude am Schreiben hatte oder dadurch zu sich selber zu finden versuchte, sondern weil Rousseau der Öffentlichkeit eine Selbstdarstellung von sich präsentieren wollte, in der er sich und seine Handlungen darlegt, verteidigt und rechtfertigt (vgl. Kunze in Rousseau 1996, 767- 769).
In unserer heutigen Gesellschaft, in der die Arbeit mit und an der eigenen Biografie regelrecht „boomt“, wie zum Beispiel auf dem Buchmarkt, in der Bildungsarbeit, Seniorenarbeit, Erwachsenenbildung, in Schulen, Volkshochschulen, Hochschulen, Jugendarbeit, Selbster­fahrungs­gruppen, Gesprächskreisen usw. (vgl. z.B. Ruhe 2003, 7;Fuchs 1984, 27), scheinen die Menschen hauptsächlich auf der Suche nach ihrer eigenen Identität zu sein. Dabei benötigen Menschen oft Hilfe und Unterstützung, um ihren eigenen Weg zu finden und diesen für sich zu strukturieren. In Zeiten der Postmoderne und zunehmender Risiken scheinen Sicherheit, Vorhersagbarkeit und Wohlbefinden wichtige Werte an der Seite immer weiterer Freiheitsbeanspruchungen zu sein (vgl. dazu vor allem Bauman 1999). Aus diesem Grund wächst der Markt des biografischen Arbeitens, weil immer mehr Menschen sich für das Genre interessieren.

Das „Identitätsproblem“, bei dem als Lösungsmöglichkeit die Methode der Biografiearbeit zum Einsatz kommen kann, steht heute immer auch im Zusammenhang mit Veränderungen und Anforderungen in der Postmoderne, in der jeder Einzelne auf seine eigene Weise leben will und die sehr unterschiedlichen Perspektiven der Lebensformen stets neu auszubalancieren hat.
Ein Beispiel für solche Veränderungen in unserer Gesellschaft ist der Umgang mit der Normalbiografie. Normalbiografie bedeutet, dass bestimmte Lebensereignisse in einer vorgesehenen Reihenfolge auftreten, wie zum Beispiel erst Schulabschluss, weiter Berufsausbildung, ein fester Arbeitsplatz, Heirat, Familie usw. Im schnellen Wandel der heutigen Zeit müssen zunehmend überlappende, überschneidende, gegensätzliche und situativ angepasste, oft auch zufällig erscheinende Entscheidungen getroffen werden, die in früheren Zeiten noch stärker bindenden Regeln oder erwarteten Kalkülen unterstanden. Heute sind diese einst normierenden, sozialen und kulturellen Umstände nicht mehr so zwingend. Deshalb entsteht eine immer größere Orientierungslosigkeit unter den Menschen (vgl. z.B. Fischer/Kohli in Voges 1987, 40). Dadurch ergibt sich eine größere Offenheit bezüglich der Lebensführung, die einhergeht mit individuellen Entscheidungszwängen, modifizierter Lebensplanung und offener erscheinenden Anpassungs- und Gestaltungsleistungen (vgl. z.B. Mayer in Voges 1987, 52).
Aufgrund der veränderten Handhabung der Normalbiografie in der Postmoderne (nach Kraus in der Spätmoderne) wird die Identitätsbildung und -entwicklung verändert. Dies resultiert daraus, dass die sozialen Großgruppen wie zum Beispiel Kirchen, Klassen oder Religionen immer mehr eine zugeschriebene Verbindlichkeit verlieren und das Individuum sich ihnen nicht mehr bruchlos oder in großen Gruppen zugehörig fühlt. Das Individuum wird nun in einem höheren Maße gefordert, sich selbst seine identitätssichernde Lebenswelt zu kon­struieren. Daher erhalten verschiedene soziale Netzwerke wie Berufs- und Freundesgruppen, Freizeitvereine, Sportverbände usw. immer mehr Geltung. Das Individuum muss sich mit über diese identifizieren. Die Identität des Einzelnen setzt sich dabei aus vielen Teilidentitäten zusammen. In der Sozialforschung wird den sozialen Netzwerken ein hoher Wert für die Identitätsbildung und -entwicklung zugesprochen. Diese Qualitätsveränderung der Identität führt dazu, dass das Individuum sein Selbst immer mehr über Reflexionsprozesse und Narrationen definieren muss. Diese Entwicklung hat zur Folge, dass die Arbeit an der eigenen Lebensgeschichte einen immer höheren Stellenwert erlangt (vgl. z.B. Kraus 2000, 6, 168; Voß in Kraus 2000, 161).
Die Normalbiografie mit all ihren Stufen vermittelt dem Individuum in seinem Leben Orientierungspunkte, die ihm gleichzeitig ein „erfolgreiches Leben“ versprechen (vgl. Grundmann in Alheit und Hoerning  1989, 189), ihm Sicherheiten bieten, und über die das Individuum sich identifizieren kann. Aufgrund des Verlassens dieses standardisierten Lebensweges und der permanenten Suche oder Neugestaltung der eigenen Identität, entsteht in der Postmoderne noch mehr als schon in der Moderne das Problem, dass die Identitätsbildung ein unabschließbar scheinender Prozess geworden ist. Daher merkt Kraus an: „Einem Subjekt, dem es schwer fällt, sich in der Gegenwart als kohärent zu erfahren, muss es umso schwerer fallen, sich in die Zukunft zu entwerfen, da ihm der sichere Standort dafür fehlt. Um ein Ziel zu erreichen, muss man den Kurs festlegen; um dies zu können, muss man seinen genauen Standort kennen. Genau der ist nur noch schwer zu bestimmen. Denn das Subjekt erlebt sich in einer Vielzahl von Lebenswelten mit höchst unterschiedlichen Zeitlogiken und Definitionsangeboten“ (Kraus 2000, 3). Das Individuum ist nun auf sich gestellt und muss Wege und Mittel finden, das Leben für sich selbst lebenswert zu machen (vgl. Kraus 2000, 2, 8). Und genau da setzt die Biografiearbeit an, um dem Einzelnen zu einem neuen oder erweiterten Sinn des Lebens zu verhelfen (vgl. Ruhe 2003, 145). Je mehr allerdings dies in Formen so genannter Normalbiografien geschieht, desto stärker kann auch der Druck werden, sich scheinbar normal verhalten zu müssen.
Bauman gibt aber auch zu bedenken, dass in der Postmoderne eine emanzipatorische Chance liegt, die aufgrund der relativ freien Wahl der eigenen Identität besteht. Die Menschen sind nicht mehr so stark an die Vorgaben der Moderne gebunden, die ihnen ihre Identität und somit ihr Leben in meist sehr festen Rollen vorschrieben (vgl. Bauman 1999, 63).
Um diese emanzipatorische Chance, die für uns heute selbstverständlich ist, kämpften im frühen 19. Jahrhundert besonders die Frauen, die dabei durch die führenden frühsozialistischen Schulen, wie Saint Simon, Charles Fourier und Robert Owen in unterschiedlichen Bereichen unterstützt wurden. Die Frauen kämpften für Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern, politisches Wahlrecht und die Abschaffung von Gesetzen, die die Frauen einschränkten, wie zum Beispiel das Ehegesetz usw. Aber erst mit fortschreitender gesellschaftlicher und technischer Entwicklung verbesserte sich die Situation der Frauen, die aber bis heute keine völlige Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen aufweisen kann (vgl. Kleinau 1987, 9, 193 ff.). Sicher ist aber, dass sich die Frauen für ihre Bedürfnisse in ihrem Leben einsetzten und damit insgesamt auch etwas erreichten. Und genau einen solchen Weg sollte jeder für seine individuelle Biografie auch einschlagen.

Um den Unterschied der Identitätsbildung in Moderne und Postmoderne deutlicher hervorzuheben, sind die wesentlichen Punkte noch einmal in Abbildung 2 aufgelistet.

Organisierte Moderne

 

Postmoderne oder krisenhafte Spätmoderne

Platzangebot durch wirtschaftliches Wachstum, Berufswahl als Lebensentscheidung

kein Angebot, strukturelle Arbeitslosigkeit, 2/3 Gesellschaft, Berufswahl ganz sicher nicht endgültig

National, klassenbezogen

Auflösung von Nations- und Klassenbezug

Individuum im Wohlfahrtsstaat

Individuum als unternehmerisches Selbst

Identität als Pflicht: zur Sicherung der gesellschaftlichen Transaktionen

Identität als Last: angesichts kontinuierlicher indi­vidualisierter Umbauforderungen

Kohärenz als Möglichkeit und Notwendigkeit

Kohärenz als einengende beziehungsweise unmögliche Leistung zur Identitätssicherung

Zukunft ist möglich, lebbar, planbar im Rahmen der gesellschaftlichen Angebote

Zukunft löst sich auf in Gegenwart, Planungszeiträume schrumpfen, biographische Entwürfe haben eine kurze Lebensdauer

Soziale Netzwerke kohärent, aufeinander abgestimmt

Netzwerke disparat mit unterschiedlichen Logiken

Soziale Identität ergibt sich aus dem Platz in der Gesellschaft

Soziale Identität ergibt sich aus dem Gesamt der Teilidentitäten in den sozialen Netzen

Abbildung 2: Gegenüberstellung von organisierter Moderne und krisenhafter Spätmoderne (vgl. Kraus 2000, 27)

Aus konstruktivistischer Sicht sind Beobachtertheorien besonders hilfreich, um die Biografiearbeit zu differenzieren. Hierzu hat Reich
(url: http://www.uni-koeln.de/hf/konstrukt/didaktik/buch3_4.html)
einige Anregungen gegeben. Insbesondere ist sein Konzept von Beobachter, Teilnehmer und Akteur (vgl. dazu url: http://www.uni-koeln.de/hf/konstrukt/didaktik/buch1_2.html) sehr hilfreich, um in die Biografiearbeit eine perspek­tivische Vielfalt bei gleichzeitiger Kontextreflexion einzuführen.
Diese drei Perspektiven erscheinen als besonders hilfreich, wenn es darum geht, die Positionen und Positionswechsel zu beschreiben und zu reflektieren, die wir biografisch in Selbst- und Fremdreflexionen einnehmen. Dies ist z.B. besonders wichtig in einer Mediengesellschaft, in der diese drei Perspektiven miteinander zu verschwimmen scheinen, was zu einer Erschwerung von Identitätssuchen führt (vgl. dazu insgesamt die Einführung von Reich/Sehnbruch/Wild: Konstruktivismus und Medien. Eine Einführung in die Simulation als Kommunikation. Münster u.a. – Waxmann – 2005).

Im Blick auf die biografische Analyse lassen sich z.B. folgende Analysefelder aufmachen:

 

Beobachter

Teilnehmer

Akteur

Methodische Hoffnungen der Moderne

Beobachtung

Objektivierung

werden für alle Beobachter erfahrbar gemacht und angeglichen

Einheit

Universalismus

sollen als teilnehmende Einsicht erreicht werden

(ggf. auch kontrafaktisch für alle)

Praktiken

Verfahren

Anwendungen

werden in Theorien abgebildet

Dekonstruktionen in der Postmoderne

subjektive Beobachter

Relativierungen

Simulationen

nehmen zu

 

aber

Subjektivierungen erzeugen willkürlich erscheinende Deutungen und Verständigungsverluste

Pluralismus

Entbettung

Risikogesellschaft

differenzieren Teilnahmen

 

aber

Mehrheitslösungen

mainstream

soziale Netze bleiben wesentlich

Handlungswege

Handlungsarten

Handlungschancen

ermöglichen Aktionismus

 

aber

Routinen

Institutionen erscheinen als Begrenzungen

Tendenzen biographischer Selbstkonstruktionen

Das Selbst wird sich immer wichtiger und die Biographien nehmen zu; die Beobachter feiern sich selbst

Die Rekonstruktion der Teilnahme wird im Rahmen des Übergangs in die Postmoderne schwieriger, weil die Differenzierungen ungleich schwerer darzustellen und zu reflektieren sind

Die biographische Verdichtung auf Aktionen bleibt an der Oberfläche der Handlungen, wenn sie nicht auf Hintergründe und verborgene Wirkungen reflektiert

Tendenzen biographischer Fremdkonstruktionen

Kulturen werden immer stärker im Kontext biographischer Beschreibungen dargestellt und verstanden; die Beobachtungen bleiben oft vordergründig

Die größeren Hintergründe und Teilnahmen bleiben oft theoretisch und abstrakt und eine biographische Reflexion muss sie beobachtbar machen und in Aktionen darstellen

Die ins Mediale umgesetzte Biographie verstärkt den Aktionismus und verbirgt leicht die Vielgestaltigkeit und Widersprüchlichkeit des gelebten Lebens

Abbildung 3: Reich Biographiearbeit (von Kersten Reich, unveröffentl. Papier)

Die drei Perspektiven Beobachter, Teilnehmer und Akteur können sowohl in der biografischen Selbst- als auch Fremdanalyse hilfreich sein, um die unterschiedlichen Rollen und Verwicklungen zu thematisieren, die in der Ausbalancierung einer steten Identitätssuche (ohne je eine volle und abgeschlossene Identität erreichen zu können) auftreten.
Neben einem solchen konstruktivistischen Instrumentarium ist auch die Breite der Zugänge zur Biografiearbeit zu beachten. Die Methode des biografischen Arbeitens entstammt nicht nur aus einem wissenschaftlichen Bereich, sondern sie setzt sich aus vielen verschiedenen theoretischen Anregungen wie zum Beispiel aus den Sozialwissenschaften, der Psychologie, der Psychoanalyse, der Pädagogik, den Geschichts- und Literaturwissenschaften, der Anthroposophie und vielen weiteren Bereichen zusammen (siehe Abbildung 4). Aus diesen unterschiedlichen Bereichen werden für die Biografiearbeit wichtige relevante Aspekte zusammengefügt, so dass diese sich gegenseitig ergänzen können und effektiv biografisch gearbeitet werden kann (vgl. Vogt in Schulz 1996, 40). Diese Zusammensetzung der unterschiedlichen Ansichten und Möglichkeiten aus den verschiedensten wissenschaftlichen Bereichen ist insofern wichtig, da sich auch die Lebensgeschichte jedes einzelnen Menschen nicht nur in einem Bereich abspielt, sondern sowohl z.B. von historischen, gesellschaftlichen und kulturellen, als auch von familiären Erfahrungen (als konstruierten Perspektiven, die wir oder andere einnehmen) geprägt wird (vgl. Gudjons/Pieper/Wagener 1986, 16). Aufgrund dieser Tatsache ist es bei der Durchführung des biografischen Arbeitens unerlässlich, auf die Vielfalt der unterschiedlichen Angebote und Anregungen einzugehen und sich nicht nur auf einen Bereich zu beschränken (vgl. Vogt in Schulz 1996, 40).

Abbildung 4: Wissenschaftliche Bereiche, aus denen sich die Biographiearbeit begründet

Solche Listen sind nie vollständig, sondern sie geben Perspektiven an, die eingenommen werden können. In diesem Beitrag können auch nicht alle Bereiche umfassend erläutert werden. Auch die folgenden drei Theorien können nur einführend behandelt werden. Dabei wird nachfolgend die sozialwissenschaftliche Biografieforschung im Vordergrund stehen. Der Bereich der Psychoanalyse wird kurz angesprochen, da sich in ihm das Konzept des biografischen Arbeitens meist in einem guten Niveau zeigt. Danach wird kurz auf die Bedeutung des biografischen Arbeitens in den Literaturwissenschaften eingegangen, da die Biografiearbeit in diesem Bereich Theorie und Praxis besonders gut miteinander verbinden kann.
 
Die Sozialwissenschaften gehen der Frage nach, wie die Umwelt und die Gesellschaft auf die Lebensgeschichte eines Individuums einwirken und wie jedes einzelne Subjekt individuell in diesem Rahmen agiert und sich entwickelt. Hoerning bezeichnet in diesem Zusammenhang z.B. die gesellschaftliche Ebene als „makrosoziologische Perspektive“ und die individuelle Aktivität eines Menschen in Bezug auf die Umwelt als „mikrosoziologische Perspektive“. Um uns diese Ausgangsbasis zu verdeutlichen, können wir uns diese Theorie anhand des Beispiels der Normalbiografie konkreter vor Augen führen. Die sozialwissenschaftliche Biografieforschung interessiert sich zum Beispiel dafür, wie die Entwicklung der Normalbiografie in der Postmoderne generell verlaufen ist, wie sich diese Veränderungen auf den einzelnen Lebensweg auswirken, oder auch wie das einzelne Subjekt individuell mit diesen Veränderungen umgeht. Anhand des Beispiels der Normalbiografie können wir sehr gut erkennen, dass die makro- und mikrosoziologische Perspektive eng miteinander verbunden sind und dass die individuelle Seite nicht losgelöst von der gesellschaftlichen Ebene existieren kann, da sie sich immer in einem sozialen Kontext befindet, in dem jeder für sich Wege und Möglichkeiten des Handelns finden muss (vgl. Vogt in Schulz 1996, 40 f.). Die Forschungsmethoden der sozialwissenschaftlichen Biografieforschung, die sich für Biografien jedes Lebensalters interessieren, sind zum Beispiel Interviews, Tagebücher, Briefe, Zeugnisse, Fotos, Autobiografien, Familiengeschichten usw. (vgl. Fuchs 1984, 134 f.). Der Begriff der Normalität ist allerdings nicht unproblematisch, weil er stets vereinfachend benutzt wird, um so als Konstrukt die größeren Entwicklungslinien über die Biografien zu verdichten.

Während die Sozialwissenschaften den Blick auf die äußeren Umstände eines Menschen richten, legt die Psychoanalyse auch auf das, was im Inneren eines Subjekts liegt, auf Begehren und Antriebe, Wert. Die Psychoanalyse interessiert sich für die Erfahrungen eines Menschen, die in tiefer liegenden Ebenen verborgen sind. Um diese verborgenen Erfahrungen aufzuspüren und an die Oberfläche des Subjekts zu befördern, differenziert die Psychoanalyse die einzelne Person in eine komplexe Topologie. Freud hat hierzu sehr ausgefeilte Denkmodelle konstruiert. Wichtig ist immer wieder die Unterscheidung eines bewussten und eines unbewussten Handelns. Dabei wird vor allem den frühkindlichen Erfahrungen eine große Bedeutung zugesprochen, da von den Psychoanalytikern die Ansicht vertreten wird, dass sich ausgehend von den frühkindlichen Erfahrungen die Persönlichkeitsentwicklung und das je gegenwärtige Verhalten bildet. Aufgrund dieser Annahme beschäftigt sich die Psychoanalyse mit gemachten Erfahrungen, Konflikten und Beziehungsmustern des Individuums, die zu Problemen führten, verdrängt wurden, sich im täglichen Leben auf verschiedenste Weise äußern. Diese Probleme sollen mit Hilfe der Psychoanalyse aufgespürt und verarbeitet werden. Der Vorteil der psychoanalytischen Methodologie besteht darin, dass sie die Selbst- oder Fremdbiografen hindert, bloß an der Oberfläche der Lebensereignisse zu verweilen.

Beim biografischen Arbeiten wird oft nur das Gerüst der Psychoanalyse auf die Biografiearbeit theoretisch übertragen. Es wird dann keine Psychoanalyse im Sinne therapeutischer Praxis, in einem Dialog mit Übertragungen und Gegenübertragungen, konkret und prozesshaft gearbeitet, sondern nur ein Ausschnitt erstellt, der in einer Darstellung von Erinnerungsspuren wurzelt. Der große Unterschied zwischen der Psychoanalyse und ihrer Übertragung auf die Biografiearbeit besteht darin, dass in der Biografiearbeit keine konkret therapeutische Abarbeitung der Probleme stattfindet, sondern diese eher dokumentiert (im Schreiben selbst) oder aufgezeigt (in den Erinnerungsbildern oder Deutungen) werden. Insoweit ist eine solche Biografiearbeit allenfalls ein Vorfeld zur Therapie, sie kann eine Sensibilisierungsphase für den Biographen darstellen. Das Konzept der Psychoanalyse wird im Rahmen des biografischen Arbeitens in der Regel nicht therapeutisch verwendet (vgl. Gudjons/Pieper/ Wagener 1986, 19- 20). Schraml bringt das Ziel der Psychoanalyse im Rahmen der Biografiearbeit z.B. so auf den Punkt: „Die psychoanalytische Vorgehensweise … ist ein biografisches Verfahren, sie hat die Erhellung des Lebenslaufes des Analysanden als Gegenstand zum Ziel“ (Schraml zit. n. Gudjons/ Pieper/Wagener 1986, 19). Anders jedoch sieht es aus, wenn das Konstrukt der Psychoanalyse bereits in die biografische Arbeit als Deutung mit einfließt. Berühmt sind hierfür die psychoanalytischen Fallgeschichten, die Freud selbst darstellte oder auch psychoanalytisch gedeutete Biografien (etwa die Familie Mann von Marianne Krüll; vgl. url: http://www.mariannekruell.de/schriftstellerin/schriftstellerin.htm).

Stellen wir allein die Bereiche der Sozialwissenschaften und der Psychoanalyse gegenüber, können wir sehr gut erkennen, wie sie sich ergänzen. Die Sozialwissenschaften legen ihren Schwerpunkt auf die äußeren Faktoren des Individuums, während die Psychoanalyse dem Inneren des Menschen ihre Aufmerksamkeit schenkt, so dass beide Seiten zusammen ein kompletteres Bild ergeben können. Es ist nicht zu übersehen, dass die inneren Umstände eines Menschen großen Einfluss auf das Verhalten und das Handeln des Individuums in seiner Umwelt haben. Dadurch wird die Beziehung zwischen der sozialwissenschaftlichen Biografieforschung und der Psychoanalyse bestätigt (vgl. Gudjons/Pieper/Wagener 1986, 19). In den Sozialwissenschaften wird eher auf der Grundlage von Fremdbiografien geforscht, um neue Aspekte für die Wissenschaft zu gewinnen (vgl. Fuchs 1984, 9). In der Psychoanalyse dominieren individuelle Erfahrungen, die aber durchaus auch auf die gesellschaftliche Ebene  übertragen werden können. So gesehen scheint es sinnvoll zu sein, sich zumindest mit beiden Perspektiven auseinander zu setzen. Welche konkreteren Ansätze und Modelle dazu benutzt werden, ist dann allerdings noch offen.

Ein weiterer theoretischer Ansatz, der die biografische Methode wie die Sozialwissenschaften und die Psychoanalyse nutzt, sind die Literaturwissenschaften. Dieser wissenschaftliche Bereich geht den Fragen nach, wie, wieso, in welchem Umfang und in welcher Form das biografische Arbeiten in den Literatur und den Literaturwissenschaften angewandt wird. Diesen Fragen wird immer mehr Aufmerksamkeit gewidmet, denn die Beschäftigung mit der Biografik erfreut sich einer immer stärker werdenden Anwendung in der Literatur. Es werden nicht nur mehr Biografien geschrieben und veröffentlicht, sondern es wird auch verstärkt in den Medien und beim Lernen der Umgang mit dem biografischen Schreiben und der biografischen Methode diskutiert. Außerdem wird in der Literatur viel über die Geschichte und die theoretische Entwicklung von Biografien geschrieben. Dies wiederum wird sehr oft für Film- und Medienproduktionen genutzt, die ein unterschwelliges Bewusstsein des Biografischen in die Kultur tragen. In den Literaturwissenschaften und den Medienwissenschaften wird gegenüber der bloßen Darstellung in Literatur und Medien untersucht, wie sich die Persönlichkeit eines Autors oder Künstlers in seinen Werken wieder finden lässt, wie die Kultur mit den Biografien umgeht und welche kritischen Schlussfolgerungen sich insgesamt ziehen lassen. Diese Studien sind sehr wichtige Kulturstudien geworden, die sich in zahlreiche Felder der Biografieforschung wie z.B. Geschlechterforschung, Medienforschung, Lernforschung, Forschung über soziale Klassen und Schichtungen, Demokratieforschung usw. differenziert haben. Allgemein kann man sagen, dass die Arbeit mit der biografischen Methode in den Literaturwissenschaften einen Aufschwung erlebt, auch wenn dieser nicht in allen Bereichen gleich stark zum Tragen kommt. Zum Beispiel wächst das Geschäft der Autobiografien, die wissenschaftliche Beschäftigung mit der biografischen Arbeit fällt dagegen besonders im deutschen Sprachraum noch eher mager aus (vgl.
url: http://www.hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-2-154).

Überschreiten wir aber die Grenzen des deutschen Sprachraumes und schauen uns einmal den wissenschaftlichen Bereich der Biografik in der englischsprachigen Literatur an, sieht die Lage schon anders aus. Hier wird intensiver biografisch gearbeitet und geforscht, so dass wir uns dort insgesamt genauer über dieses Thema informieren können. Die biografischen Arbeiten des englischen Sprachraumes ergänzen und erweitern die des deutschen. Gerade weil sich der englische Sprachraum der Thematik der biografischen Methode mehr öffnet, sind viele gute Seiten im Internet auch nur auf englisch verfügbar. Hierzu einige Beispiele aus dem Internet (Stand 31.05.2007):
http://www.catalase.com/biostud.htm
http://qsw.sagepub.com/cgi/content/abstract/3/1/61

In der Darstellung des psychoanalytischen Konzepts in Bezug auf biografisches Arbeiten zeigt sich deutlich, wie eng die beraterisch-therapeutische Aufgabe mit der pädagogischen Arbeit verbunden ist. Die Übergänge sind zu beiden Seiten hin fließend. Man kann beide Bereiche mit ihren Methoden und Zielen nicht genau abstecken (vgl. Vogt in Schulz 1996, 53). Viele Methoden, die beim biografischen Arbeiten Verwendung finden, entstammen der Psychotherapie, obwohl Biografiearbeit keine Therapieform darstellt (vgl. Ruhe 2003, 45). Dieser Aspekt der fließenden Übergänge sollte aber nicht als Risiko innerhalb der Biografiearbeit angesehen werden. Im Gegenteil,  diese offenen Grenzen zu beraterischen und therapeutischen Ansätzen ermöglichen auch Chancen, da der Blickwinkel so erweitert werden kann. Aus diesem Grund ist es möglich und auch sehr sinnvoll, wenn man sich bei der Arbeit mit der eigenen Biografie in verschiedenen Bereichen der Darstellung und Reflexion bewegt.
Eine Abgrenzungsmöglichkeit zwischen pädagogischer Arbeit und beraterisch-therapeuti­scher Tätigkeit besteht zum Beispiel darin, dass die Konzepte innerhalb der pädagogischen Arbeit häufig für Gruppen zusammengestellt worden sind. Außerdem wird der Schwerpunkt der Arbeit bei der Biografiearbeit im pädagogischen Rahmen auf bestimmte Themenbereiche gelegt, anstatt die gesamte Biografie und deren Entwicklung in den Blickpunkt zu nehmen. Im schulischen Bereich steht dabei dann weniger die kritische Selbstreflexion auf die eigene Biografie im Vordergrund, sondern eher eine Betrachtung biografischer Aspekte in Verbindung mit bestimmten Themen oder Lebensfragen.

Allerdings darf beim biografischen Arbeiten nie aus den Augen verloren werden, welche Perspektiven und Interessen verfolgt werden sollen. Während der Arbeit an der eigenen Lebensgeschichte sollte immer im Vordergrund stehen, dass das Individuum neue Fragestellungen und Haltungen für seinen weiteren Lebensweg entwickeln kann und eigene Antworten auf seine Fragen findet. Dabei fungiert Biografiearbeit als dialogischer Begleiter innerhalb der Arbeit an der eigenen Biografie, wobei ein Wechsel von Fremd- und Selbstbeobachtungen wichtig ist. Die Grenze zur Therapie sollte allerdings in Lernprozessen immer gewahrt werden. Biografiearbeit wird hier als ein „Hebammen-Helfer“ gesehen, der gewisse Erfahrungen aus dem Individuum hervorlocken will, diese aber nicht tiefgründiger im Sinne einer geleiteten Psychotherapie bearbeiten kann (vgl. Ruhe 2003, 9).
Es ist jedoch mitunter sehr schwierig, während eines biografischen Arbeitsprozesses zu wissen oder zu spüren, wann die Grenze zum therapeutischen Arbeiten überschritten ist. Gerade wenn intensiv gearbeitet wird, kann es leicht passieren, dass man die lernbezogene und themenorientierte Schwerpunktsetzung der Biografiearbeit aus den Augen verliert und so automatisch durchdringender arbeitet, ohne es bewusst beabsichtigt zu haben. Dadurch können Probleme beim biografischen Arbeiten entstehen. Aus diesem Grund gibt es neben den Chancen, die die fließenden Übergänge zwischen den beiden Bereichen bieten, auch nicht zu vernachlässigende Risiken.

Meist wird die Biografiearbeit nur dazu benutzt, die eigene Biografie zu betrachten und hieraus Schlüsse zu ziehen. Sehr erfolgreich in Lehr- und Lernprozessen kann es jedoch auch sein, mittels eines Perspektivwechsels die Positionen von fremden Biografien einzunehmen, um hieraus Schlüsse auf historische, kulturelle, soziale, ökonomische oder auch eigene Lebensverhältnisse zu ziehen.


3.2. Praktische Begründung

Die Methode des biografischen Arbeitens wird in sehr unterschiedlichen Praxisfeldern, wie zum Beispiel in der Erwachsenenbildung, der Jugendarbeit, der Altenarbeit, in der Schule, in der Fach- und Hochschule, in Selbsthilfegruppen für Frauen und Männer, in beraterisch-therapeutischer Arbeit, bei der Arbeit an Beziehungen usw., angewendet (vgl. Grösch in Gudjons/Pieper/Wagener 1986, 12). Die Arbeit an der eigenen Biografie kann also in sehr verschiedenen Bereichen durchgeführt werden, aber es bleibt offen, ob und inwieweit dies im Einzelfall geschieht. Die Biografie setzt sich aus Erfahrungen zusammen, die während eines gesamten Lebens in unterschiedlichen Lebensbereichen erworben worden sind und die sich in unserem heutigen Handeln bewusst oder unbewusst ausdrücken. Daher gehen wir von der Annahme aus, dass in allen Bereichen, in denen die Erfahrungen gemacht werden, dementsprechend biografisch gearbeitet werden kann.
An dieser Stelle kommt es zu unterschiedlichen Deutungsansätzen. In pädagogischer Arbeit könnte so z.B. die psychoanalytische Arbeit bevorzugt werden. Der Kern des biografischen Arbeitens liegt oft auf der psychoanalytischen Arbeit, wie zum Beispiel in den Übungen von Gudjons zu erkennen ist (vgl. Gudjons/Pieper/Wagener 1986, 16). Hier wird perspektivisch angenommen, dass die frühen Erfahrungen einen Menschen sein ganzes Leben lang prägen. Dabei werden jedoch mitunter zu einseitig die Erfahrungen der frühen Kindheit bevorzugt oder aus dieser spezifischen therapeutischen Sicht fokussiert, was für eine breitere Biografiearbeit im Lernen ungünstig sein kann. Eine solche Schwerpunktsetzung sollte nur mit Gruppen vorgenommen werden, die das psychoanalytische Modell selbst thematisch darstellen und reflektieren wollen. Für Lernbezüge bieten sich eher systemische Ansätze an, die sich der Breite biografischer Ereignisse offen stellen und diese z.B. auch in Form von Skulpturen und Aufstellungen thematisieren lassen.

Das Beispiel von Alex im Ernährungsseminar, dass im Abschnitt Praxiserfahrungen behandelt wird, bringt sehr deutlich zum Ausdruck, dass auch im Hochschulrahmen intensiv und effektiv biografisch gearbeitet werden kann. Während der Arbeit in dem Ernährungsseminar gehen auch Erfahrungen aus der frühen Kindheit, der Familienkonstellation und den Beziehungsmustern mit ein. Dadurch sind die Übergänge zwischen der pädagogischen und der psychologischen (hier psychoanalytischen) Arbeit fließend. Der psychoanalytische Ansatz ermöglicht es – wie auch neuerdings systemische Ansätze – sehr konkret am Verhalten und Handlungen von Menschen anzuknüpfen, was der biografischen Arbeit sehr nahe kommt. Dies kann auch aus sozialwissenschaftlichen Perspektiven gelingen, sofern konkrete soziale Situationen im Zentrum des Interesses stehen. Und auch die Literatur oder die Medien können hier durch die Anschaulichkeit von Biografien zum Ausgangspunkt von Reflexionen werden.

Die Biografie eines jeden Menschen setzt sich aus den Erfahrungen, die das Individuum während seines gesamten Lebens sammelt, zusammen. Diese Erfahrungen gewinnt das Individuum durch Lebensereignisse. Man sagt deshalb gern, dass die individuellen Lebensereignisse die Biografie eines Subjekts steuern. Die Lebensereignisse, die spontan oder in einer bewusst geregelten Reihenfolge auftreten, können sich auf den Lebensweg auswirken, ihn verändern und ihn völlig ummodellieren. Die Ereignisse, die das Individuum plötzlich erfahren muss, orientieren sich z.B. am Lebensalter oder an gesellschaftlichen, politischen, historisch-kulturellen, sozialen und rechtlichen Gegebenheiten. Die Ereignisse sind dabei nicht getrennt von Erfahrungen anderer Individuen zu sehen. Die Intensität der Ereignisse und deren Handhabung sind interindividuell unterschiedlich. Einige Beispiele für interindividuelle oder allgemeine Lebensereignisse sind Abbildung 5 zu entnehmen.
Das Auftreten spontaner oder hervorgerufener Lebensereignisse bewirkt in jedem Fall Veränderungen im individuellen Lebensweg, mit denen sich das Subjekt auf irgendeine Weise arrangieren muss. Außerdem kann es passieren, dass bestimmte Lebensereignisse einen Menschen zwingen, seinen bisherigen Zustand neu zu überdenken und umzustrukturieren (vgl. Hoerning in Voges  1987, 233 ff.).
Aus den bisher erlebten Lebensereignissen, die entweder viele Menschen gemacht haben, weil es normierte Lebensereignisse sind, oder die nur wenige Menschen unter uns erleben, gewinnen wir unsere Erfahrungen. Diese Erfahrungen sammeln wir sowohl in gesellschaftlichen als auch in geschichtlichen Bezügen. Wenn wir alle gemachten Erfahrungen eines Individuums zusammenfassen, ergibt sich daraus dessen Lebensgeschichte (vgl. Gudjons/Pieper/Wagener 1986, 16, 21). Dabei sollte aber die Lebensgeschichte nicht mit dem Lebenslauf verwechselt werden. Der Lebenslauf eines Individuums gibt nämlich nur die gesellschaftlich vorgezeichnete Laufbahn wieder, in der bestimmten Daten und Leistungen eine große Bedeutung zukommt (vgl. Schulze in Baacke und Schulze 1979, 58). Dagegen setzt sich die Lebensgeschichte eines Menschen aus individuellen Ereignissen zusammen, die das Denken, Fühlen und Handeln eines Subjekts komplex beeinflussen und mitgestalten. Zudem sind diese Ereignisse auch Teil der Identitätsbildung des Individuums (vgl. Ruhe 2003, 142). Individuelle Erfahrungen, über die die Lebensgeschichte des Einzelnen definiert wird, werden in Erinnerungen in verschiedenen Bereichen des Gedächtnisses gespeichert.
Gudjons sagt über Erfahrungen: „Eine Erfahrung ist zumeist in verschiedenen Systemen abgelagert. Erfahrungen stehen nicht unmittelbar nebeneinander, sondern sind miteinander verwoben. Sie bilden Schichten, die sich beeinflussen: Ich kann meine heutige Erfahrung nur auf dem Hintergrund früherer Erfahrungen machen. Diese strukturieren meine Wahrnehmung, leiten meine Aufmerksamkeit, bilden den Interpretationsrahmen, in dessen ich neue Erfahrungen bewerte“ (Gudjons in Gudjons/Pieper/Wagener 1986, 21).

Abhängigkeit vom Lebensalter

Erfahrungen, die viele Menschen machen

Hohe Wahrscheinlichkeit des Auftretens

Niedrige Wahrscheinlichkeit des Auftretens

Gesellschaftlich stark beeinflusste Faktoren

NORMALBIOGRAPHIE - schulische Ausbildung - Berufseintritt - Berufskarriere - Militär-/ Zivildienst - Heirat - Elternschaft - Berufskrankheiten - Großelternschaft - Pensionierung

- Rationalisierung/ Zwangs-

umsetzungen am Arbeitsplatz

 

- Kinderlähmungsepidimie - wirtschaftliche Krisen - Massenarbeitslosigkeit

 

Familiäre Faktoren

- Tod der/ s Mutter/ Vaters - Tod des Ehegatten - zu frühe/ zu späte Heirat der Kinder

- Scheidung

- Auswanderung

- ungewollte Schwangerschaften

 

Abhängigkeit vom

Lebensalter

Erfahrungen, die wenige Menschen machen

Hohe Wahrscheinlichkeit des Auftretens

Niedrige Wahrscheinlichkeit des Auftretens

Gesellschaftlich stark beeinflusste Faktoren

- Übernahme des elterlichen

Geschäfts in einem

bestimmten Alter

- Kinder müssen die Schule ver-

lassen

- geplante Kinderlosigkeit

- Hausmannrolle

- fristlose Kündigung

 

Familiäre Faktoren

- Generative Weitergabe des Geschäfts ohne Altersangabe

- Berufswechsel

 

- Unfall und Unfallfolgen

- schwere Krankheit

- Tod eines Kindes

- Arbeits-/ und

Erwerbsunfähigkeit

- Kinder kommen ins Elternhaus

zurück

- Straffälligkeit

- Ausstieg

Abbildung 5: Typologie sozialer Lebensereignisse

Diese sich gegenseitig beeinflussenden Aspekte sind unterschiedlich ausgeprägt und je nach Zeitsituation auch stark veränderlich. Auftretenswahrscheinlichkeiten sind immer nur zeitbedingt für gewisse idealtypische Normalverläufe. Zudem fehlen in der „Typologie sozialer Lebensereignisse“ nach Abbildung 5 viele Aspekte, die in der individuellen Biografie jedoch ausschlaggebend sind. Wiederkehrende Aspekte sind zum Beispiel objektive Gegebenheiten (wie Namen, Geburtsort, usw.), subjektive Erfahrungen und ihrer Organisation, spätere Erinnerungen, die nachträgliche sprachliche Darstellung und die kommentierende Reflexion oder übergreifende Deutungsversuche. Die Erfahrungen, die wir in der Gegenwart machen, sind von unseren Vorerlebnissen wie auch von unseren Vorfahren geprägt, die auf unseren Lebensweg eingewirkt haben. Aus diesem Grund können wir festhalten, dass unsere gegenwärtigen Erfahrungen, oder anders ausgedrückt, unser aktuelles Lernen, immer auf bereits Erfahrenem, Erlebten und Gelerntem aufbaut. Die gemachten Erfahrungen setzen sich immer in Arbeits- und Lebensgestaltungen um. Die Umsetzung der Erfahrungen ist insofern wichtig, da wir an einer gegenwärtigen Handlung eines Menschen auch zumindest teilweise erkennen können, welche bisherigen Erfahrungen dieses Individuum in seinem Leben gemacht hat. In der Biografie eines Menschen stellen die Lebenserfahrungen zwischen der Vergangenheit und der Zukunft eine Verbindung der Lebensgeschichte des Subjekts her und prägen somit sehr stark den individuellen Lebensweg (vgl. Alheit/Hoerning 1989, 142- 160; Fischer/Kohli in Voges  1987, 35 f.; Schulze in Baacke und Schulze 1979, 54 ff.).

Die Biografiearbeit, die von der Rekonstruktion der Erfahrungen lebt, versucht diese und deren Gefühle über Erinnerungen aus dem eigenen Leben hervorzulocken (vgl. Gudjons/Pieper/Wagener 1986, 21 f.). Bei der Beschäftigung mit der eigenen Lebensgeschichte gibt es strukturierte und unstrukturierte Biografiearbeit:

  • In der strukturierten Biografiearbeit werden dem Einzelnen unter Anleitung zum Beispiel in Bildungsseminaren, Erzählcafés usw. Anregungen vermittelt, die Reflexionen ermöglichen, und die strukturiert angeregte Erinnerungen aus dem bisherigen Leben hervorrufen.
  • Dagegen ist unstrukturierte Biografiearbeit ein Erinnern, das spontan ohne irgendwelche Anleitungen zum Beispiel beim Träumen, in Alltagsgesprächen usw. auftritt.

Die Menschen kommunizieren permanent über ihre Lebensgeschichte und beschäftigen sich mit ihr. Dabei ist unstrukturierte Biografiearbeit etwas eher Alltägliches, um das der Einzelne sich meist erst zu sorgt, wenn er z.B. unter den erinnernden Erfahrungen leiden muss. In diesem Sinne ist Biografiearbeit immer Erinnerungsarbeit (vgl. Ruhe 2003, 134 f.), in der Erfahrungen, Gefühle, Bilder usw. auftauchen und im Rahmen des biografischen Arbeitens behandelt werden (vgl. Schulze in Baacke und Schulze 1979, 56).
Während des Erinnerungsvorgangs kann es beim Erinnernden zu Gedankensprüngen kommen, da möglicherweise ein Bild oder ein Gefühl spontan ein anderes auslöst (vgl. Ruhe 2003, 15). Aufgrund der Tatsache, dass ein Reiz oder erinnertes Erleben von einem anderen Reiz oder Assoziationen erweckt werden, ist es sehr förderlich, wenn innerhalb der Erinnerungsarbeit mit Assoziationen, wie zum Beispiel Bildern, Fotos oder bestimmten persönlichen Gegenständen usw. (vgl. Gudjons/Pieper/ Wagener 1986, 22) gearbeitet wird, um verborgenen Erinnerungen wieder an die Oberfläche zu verhelfen. Eine weitere Möglichkeit, Erinnerungsprozesse in Gang zu bringen, besteht darin, eine Zeitleiste oder Lebenslinie zu zeichnen, um über die Phasen des Lebens zu reflektieren, sie in der Gegenwart neu zu interpretieren und sich darüber neu in die Zukunft zu entwerfen (vgl. Schwaner-Heitmann in Schulz 1996, 99). Fantasiereisen tragen ebenso zur Erinnerungsarbeit bei. Sie bieten vor allem die Möglichkeit, sich mit Personen und Themen der Gegenwart zu befassen (siehe unter Abschnitt Beispiele) (vgl. Schulz 1996, 83). Weiterhin ist es möglich, dass während des biografischen Arbeitens Schwankungen in Erinnerungen auftreten. Außerdem ist es wichtig, dass der Erinnernde nicht unter Druck gesetzt wird, um möglichst viele Erinnerungen preiszugeben, denn hier bestünde die Gefahr, dass die Erinnerungen sich stark mit Erfindungen, d.h. mit Konstruktionen über die Vergangenheit mischen. Es ist ohnehin zu bedenken, dass wir die Vergangenheit meist sehr idealtypisch rekonstruieren, d.h. wir erfinden immer einen Teil aus der gegenwärtigen Gefühlslage neu.

All die bisher gemachten Aussagen zeigen auf, dass es eine starke Tendenz bei vielen Autoren gibt, die Lebensumstände und Lebensereignisse kausal auf die Möglichkeiten und Entwicklungschancen des Individuums zu beziehen. Dagegen ließe sich setzen, dass das Indivi­duum immer auch seine eigene subjektive Einstellung, seinen Willen, seine Kraft, Energien und Möglichkeiten mehr oder minder bewusst stellt, so dass keineswegs von einem linearen Prozess der Aufnahme äußerer Lebensverhältnisse in innere Einstellungen und Haltungen gesprochen werden kann. Es gehört zu den interessantesten und spannendsten Fragen, welchen Freiraum in einer historischen, kulturellen, sozialen und ökonomischen Situation ein Individuum im Strom der Zeit und gegen ihn hat. Gerade in der Biografiearbeit sollte deshalb immer vermieden werden, das Individuum nur als Spielball äußerer Umstände zu zeichnen oder zu vereinfachen.

Während des Berichtens der Erinnerungen wird nie eine reale Darstellung der Vergangenheit wiedergegeben, da die Situation, in der sich das Individuum damals befand, immer von der Gegenwart aus, immer aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet wird. Die damalige Situation ist abgeschlossen, das Subjekt hat für sich und seinen weiteren Lebensweg mehr oder minder Erfahrungen aus dieser gezogen und steht ihr deshalb heute anders gegenüber als damals. Deshalb entsprechen die gegenwärtigen Erzählungen auch nie einer umfassenden Wahrheit (vgl. Kuczyski in Alheit/Hoerning 1989, 30 f.; Fuchs 1984, 66). Rekonstruktionen von Erinnerungen geben eine bestimmte Situation auch nie wirklichkeitsgetreu wieder. Das biografische Erzählen ist auch gar nicht darauf aus, die Wahrheit über die Vergangenheit zu erfahren, sondern der Erinnernde will sein Empfinden, seine Konstruktion, sein Verständnis des Vergangenen erzählen, was dann seine „gegenwärtige“ Wahrheit darüber ist. Diese Erfahrungen soll das Individuum so zusammenfügen und dementsprechend berichten, wie der Erinnernde sie deuten würde (vgl. Baacke/Schulze 1979, 9). Diese Konstruktion der eigenen Wirklichkeit verhilft dem Individuum zu einer für ihn verarbeitbaren Vergangenheit (vgl. Ruhe 2003, 11), durch deren Erzählen ein Bewältigungsprozess im Individuum stattfindet (vgl. Rosenthal in url:
http://www.uni-koeln.de/hf/konstrukt/didaktik/biografiearbeit/seiten%208-9%20aus%20seminarreader%20biographiearbeit%20und%20biographieforschung.pdf, 9). 

Von diesem Ansatz aus kann biografisch gearbeitet werden, indem das Individuum aktiv an neuen Denk- und Handlungsmustern des persönlichen Lebenssinns mitwirkt (vgl. Schulz 1996, 9). Dieser Schritt des in eine Zukunft gerichteten und gegebenenfalls schmerzhaften Erinnerns ist notwendig, wenn das Ziel des biografischen Arbeitens, eine persönliche und soziale Bewusstwerdung zu erzeugen, erreicht werden soll. Autoren, die daraus schließen, dass so auch eine Identität herausgebildet werden soll (vgl. Ruhe 2003, 8; Schulze in Baacke und Schulze 1979, 56), müssen zugleich zugeben, dass solche Identität in unserer Zeit brüchig, ambivalent und keineswegs vollständig gestaltet werden kann (vgl. insbesondere Bauman 1999).

Während das Individuum seine erinnernden Erfahrungen berichtet, sucht es in seinen Erzählungen über den bisherigen Lebensweg immer auch Selbstbestätigung und so vielleicht Teile seiner Identitätsfindung (vgl. Bahrdt in Voges 1987, 83). Durch das Erzählen der eigenen Biografie werden wir für neue Lebenswege, Sichtweisen und Umgangsformen sensibilisiert (vgl. Baacke in Baacke und Schulze 1979, 19; Schulz 1996, 33), mitunter aber auch für Brüche, Widersprüche oder Ambivalenzen. Beim Erzählen sollte sich deshalb ein Gespräch, eine Kommunikation zwischen dem Erzählenden und dem Zuhörendem entwickeln, durch welches die Erinnerungen stärker angeregt und um neue Perspektiven angereichert werden können. Während des Erzählens findet dann ein lebenspraktischer Lerneffekt statt, wenn zugleich ein Vergleich von Lebensführungen und Lebensverständnissen erfolgt.
Eine Grundthese lautet: Beim biografischen Erzählen ist der Lerneffekt seitens des Berichtenden höher als allein bei sachlichen Erklärungen oder Argumentationen. Dem Zuhörenden ermöglicht es, sich intensiver in die Situation oder die Erfahrungen des Anderen einzufühlen und diese nachzuvollziehen (vgl. Bahrdt in Voges 1987, 83; Fuchs 1984, 18 f.). Diese erinnernden Erzählungen sind oft Rückblicke auf den bisherigen Lebensweg, den das Individuum im Nachhinein zu ordnen versucht und dem es einen Sinn abgewinnen möchte (vgl. Baacke in Baacke und Schulze 1979, 30).

Es stellt sich immer die Frage, was das Besondere an den jeweiligen Erzählungen aus dem Leben des Einzelnen ist oder warum ein Individuum überhaupt den Rahmen des biografischen Arbeitens wünschen kann. Eine erste Antwort besteht darin, dass das Erzählen von Geschichten aus dem eigenen Leben, oft in partieller Form, uns tagtäglich begleitet. Wir erfinden dabei unsere Lebensgeschichte in vielen Details ständig neu, teils, indem wir bekannte Erinnerungsspuren immer wieder erzählen und vergegenwärtigen, teils, indem wir neue Geschichten aus Erinnerungen einführen oder dazu dichten. In Erzählungen rufen wir uns Erinnerungen wach, erkennen uns oder andere darin oder stellen diese während des Berichtens Ordnungen, Normen, Werte usw. oder in Frage. Dieser Weg ist auch eine normale Vorgehensweise der Selbstvergewisserung, Identitätssuche und einer Suche und Orientierung im eigenen Lebensweg. Sie kann bis hin zur Biografiearbeit entwickelt werden, wenn wir dabei bewusster als im Alltag vorgehen.
Aber es gibt auch Menschen, die in der Postmoderne orientierungslos geworden sind, die mit den steten Veränderungen und Beschleunigungen nur schwer umgehen können, denen eine Ausbalancierung ihres Ich schwer fällt. Sie haben bereits Schwierigkeiten, von sich und ihrer Ausbalancierung zu erzählen, weil sie ihre Balance verloren oder nicht gefunden haben. Es kann sich bei ihnen auch im eine Interesselosigkeit an der eigenen Biografie handeln, weil sie von vornherein meinen, dass sie nichts Interessantes aus ihrem Leben zu erzählen hätten.  Gerade für diese Menschen könnte die Biografiearbeit ein Ansatz oder eine Hilfe sein, um sich selbst zu finden und in ihren Lebensweg gemeinsam mit anderen zu orientieren. Dies wird um so besser gelingen, je mehr sie auch die Chance erhalten, langsame Schritte zu wagen und dabei Anleitung durch erfahrene Lehrende oder andere Gruppenmitglieder zu erfahren.

Bisher haben wir sehr stark auf die kognitive Biografiearbeit abgehoben. Aber neben den erzählenden Erinnerungen äußern sich Erinnerungen auch in der physischen Erscheinung eines Menschen. Jede Erinnerung wird von Gefühlen begleitet, die sich in der physischen Gestalt eines Menschen spontan oder auch dauerhaft ausdrücken kann. Die Lebensgeschichte eines Menschen drückt sich also nicht nur in der psychischen Verfassung eines Individuums aus, sondern überträgt sich auch auf bestimmte körperliche Muster-, Haltungs- und Bewegungsstrukturen, die die Entwicklung eines Menschen, auch auf lange Sicht dessen weiteres Wachstum und auch den Körperbau in gewissem Rahmen beeinflussen. Sponatn erkennen wir körperliche Reaktionen in Mimik und Gestik, Haltung und Ausdruck, wenn wir uns erinnern. Auf lange Sicht zeigen sich am Körper neben körperlicher Abnutzung, z.B. durch harte körperliche Arbeit, auch bestimmte Lebenserfahrungen, die das Individuum emotional belasten. Diese äußern sich in der Form von bestimmten Haltungen, der Muskelbeschaffenheit, Fettablagerungen, Spannungen, Schlaffheiten, fühllosen Bereichen, Krankheiten und z.B. einem gekrümmten Rücken. Die Arbeit an der eigenen Biografie sollte solche körperlichen Anzeichen ernst nehmen und sie in ihre Übungen mit einbeziehen, wenn sie eine tiefere Wirkung erzielen will (vgl. Gudjons/Pieper/Wagener 1986, 22 f.; Ruhe 2003, 143). Die physische Erscheinung eines Individuums signalisiert einem anderen Menschen, ohne mit diesem jemals zuvor kommuniziert zu haben, wie er wirkt und was er auszudrücken scheint. Jedoch sind gerade diese Wirkungen oft äußerst subjektiv, so dass eine bewusst geplante und durchgeführte Verbindung zum Sprechen darüber, zu den Kognitionen, in Lernprozessen angeraten ist. Auch hier sollte die Biografiearbeit, sofern sie nicht in einem professionellen therapeutischen Setting steht, klar in themenbezogenen Grenzen stattfinden und die Kompetenzen der Beteiligten nicht überfordern. Gerade auf der physiologischen Ebene ist es sehr belastend, sich in seiner Biografie als eingeschränkt oder beschwert zu erfahren. Es gehört eine enorme Sensibilität der Beteiligten in diesem Feld dazu, auch „harten“ Lebensverläufen in solchen Situationen eine positive Seite abzugewinnen, denn Biografiearbeit sollte nie dazu dienen, sich die eigenen Schwächen oder das Scheitern vor Augen zu halten, sondern die Stärken und positive Lösungen.

Die Beschäftigung mit dem eigenen Lebensweg, dessen Hinterfragen und ein Verständnis für Krisen und Entscheidungspunkte, ist immer eine sinnvolle Tätigkeit, um Orientierung zu finden. Die Methode des biografischen Arbeitens ist deshalb für alle Lerner auf jeder Altersstufe geeignet, um Unterstützung bei ihrer Entwicklung zu erfahren, um ihre Eigenständigkeit zu erhöhen, um aus einer gewissen Distanz auf sich und ihr Leben zu blicken, um Hilfestellungen für Situationen zu erhalten, in denen sie nicht weiter wissen, oder um einfach ihre Lebensgeschichte konkreter zu erfassen und dadurch gegebenenfalls neue Möglichkeiten für ihr zukünftiges Handeln zu finden (vgl. z.B. Vogt in Schulz 1996, 52; Gudjons/Pieper/Wagener 1986, 11 f.). Entwicklungen sind niemals abgeschlossen, auch gibt es hier weder eine Vollständigkeit noch eine richtige Lösung. Demzufolge bedeutet Biografiearbeit nach Vogt: „…die gezielte Arbeit am eigenen Lebensweg, wozu eine bewusste Auseinandersetzung mit den Hauptstationen, den Umwegen, den Brüchen und Hindernissen, den Neuanfängen, den Perspektiven und Zielen gehören. Biografiearbeit umfasst drei grundlegende Schritte:

1. das Betrachten des eigenen Lebenslaufes aus der Perspektive eines interessierten,
    aber distanzierten Beobachters
2. das Erarbeiten eines eigenen Verständnisses für Zusammenhänge, Richtungen und
    Ziele der persönlichen Entwicklung
3. Ansätze einer bewussten Gestaltung des weiteren Lebensweges“ (Vogt in Schulz 1996, 45).

Diese drei Schritte können natürlich auch allein, ohne die Hilfe des angeleiteten biografischen Arbeitens durchgeführt werden, zum Beispiel beim Verfassen der eigenen Autobiografie, beim Schreiben eines Tagebuches usw. In Lehr- und Lernprozessen können durch die Biografiearbeit aber auch Lerner durch das biografische Arbeiten in ihrer Entwicklung und Erhöhung der Selbst- und Fremdreflexionen unterstützt werden. Die Biografiearbeit, die Lebenswege als Entwicklungswege ansieht, legt dabei einen hohen Wert auf die Förderung der Selbstständigkeit. Das Individuum soll lernen, für sich und sein Leben Verantwortung zu übernehmen, soziale Bedingungen zu akzeptieren oder kritisch in Frage zu stellen und vor allem eigene Antworten auf seine Lebensfragen zu finden. Um diese Eigenständigkeit wirklich herbeizuführen, muss sich der Lehrende beim biografischen Arbeiten im Hintergrund halten. Der Lehrende darf auch keine direkten Ratschläge, Antworten, Zielvorstellungen usw. erteilen, sondern er muss das Nachfragen und Suchen der Lernenden unterstützen, indem er höchstens Anregungen bietet, die die Erinnerungen oder Erzählungen weiter vorantreiben oder zu reflektieren helfen. Beim biografischen Arbeiten sollte es immer nur eine zeitweilige gemeinsame Arbeitsphase geben, um den Lernenden Möglichkeiten und Vorgehensweisen des Arbeitens zu vermitteln, damit der individuelle Lernprozess in Gang gesetzt wird. Nachdem der Lehrende dem Lerner die methodischen Anregungen und Vorgehensweisen mit auf den Weg gegeben hat und der Lerner mit den Übungen selbstständig arbeiten kann, sollte der Lehrende sich zurückziehen.
Das Ziel des objektiven Blicks sich selbst gegenüber und die Eigenständigkeit wird zum Beispiel dadurch gefördert, dass die Form des schriftlichen Dialogs (siehe unter Beispiele) angewandt wird (vgl. Vogt in Schulz 1996, 45 ff.). Aufgrund der Eigenaktivität beim biografischen Arbeiten entsteht auch keine Überforderung des Lerners, da er selbst frei wählen kann, wie die Bearbeitung seiner Lebensgeschichte durchgeführt wird. Es wird nur solange intensiv biografisch gearbeitet, wie die Lernenden dazu bereit sind. Sie sollen nicht zu Übungen oder Äußerungen gedrängt werden, zu denen sie sich nicht im Stande fühlen. Aber gleichwohl sollte für die Lerngruppe die Biografiearbeit eine Herausforderung sein, um sich mit dieser Arbeit auch bis an die Grenzen der eigenen Perspektiven und Erinnerungen zu wagen. Dadurch steigt wiederum die Motivation, biografisch zu arbeiten, und dann ist auch der Lerneffekt innerhalb der Biografiearbeit sehr hoch (vgl.  Bönsch in url:
http://www.dialogische-fachdidaktik.de/1.7BIOGRA%20L.pdf, 17- 18).

Wenn Biografiearbeit in einer Gruppe durchgeführt wird, dann lernt das Individuum neben der Eigenständigkeit zudem Sozialformen zu kommunizieren, sich auszutauschen, Feedback zu geben und anzunehmen und aus Fremdbeobachtungen für sich Anregungen zu gewinnen. Perspektivübernahmen bei der Analyse von fremden Biografien können besonders gut helfen, die eigenen Perspektiven zu erweitern, zu verändern und die Reflexivität zu erhöhen.

Biografiearbeit ist der Intention nach zukunftsgerichtet, aber wir sollten nie die Vergangenheit und die Gegenwart aus den Augen verlieren, wenn wir biografisch arbeiten. Um sich und seinen Lebensweg in die Zukunft zu entwerfen oder die Entwürfe anderer Menschen zu beschreiben und zu reflektieren, ist es sogar unerlässlich, die Erfahrungen aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu holen, sie dort neu zu ordnen, zu konkretisieren und neu zu interpretieren. Dieser Schritt vermittelt dem Individuum Sicherheit, da es sich durch die Rekonstruktion der eigenen Biografie oder fremder Biografien einen Standort in der Gegenwart erarbeitet, von dem aus auf die Zukunft reflektiert werden kann (vgl. Ruhe 2003, 10 f.). Deshalb wird das Anliegen der Biografiearbeit gerne in drei Ebenen unterteilt:

  • Gewordenheit erkennen
  • Eigenverantwortung übernehmen
  • Konsequenzen für den weiteren Lebensweg ziehen (Vogt in Schulz 1996, 47).

Dem Rückblick in die Vergangenheit und dessen Aufarbeitung wird eine wichtige Rolle zugesprochen, weil aus der Vergangenheit Ereignisse stammen, die das Individuum in seiner Entwicklung beeinflusst haben und die, wenn sie aufgearbeitet werden, auch zu einer Veränderung des Subjekts in der Gegenwart führen können (vgl. Kahrmann in Schulz 1996, 138). Solche Veränderungen lassen sich auch sehr gut am Beispiel von Fremdbiografien reflektieren. Erst wenn die Vergangenheit produktiv auf eine Gegenwart bezogen wird, können wir lernen, angemessener mit der Gegenwart und Zukunft umzugehen (vgl. Schulz 1996, 158). Dieser Weg ist mitunter sehr schwierig und kann möglicherweise auch schmerzhaft sein, da das Individuum eventuell auf unangenehme, oft verborgene Erinnerungen oder abstoßende Ereignisse stößt. Daher sollte zu Beginn des biografischen Arbeitens, in Zusammenarbeit mit der Gruppe oder nur mit dem Lehrenden, der Kontext der Lebensgeschichte in Augenschein genommen werden, damit deutlich wird, wo und wie die Perspektive gebildet werden soll. Förderlich ist hierbei insbesondere, wenn die Biografie in einem Bild, einer Zeitleiste oder einem kurzen, schriftlichen Lebenslauf dargestellt wird, um die wichtigsten Phasen und Ereignisse der persönlichen oder fremden Lebensgeschichte erfassen zu können. Häufig zeigen sich innerhalb einer solchen Lebensdarstellung Themenfäden, die das Leben durchziehen und prägen, und die sehr deutlich an Knotenpunkten, an denen zum Beispiel wichtige Entscheidungen getroffen werden mussten, zum Vorschein kommen. Durch das Erkennen und Sichtbarmachen solcher Themenfäden kann das Subjekt seine Entwicklung oder die Entwicklung von Anderen sehr gut zurückverfolgen. An diesem Punkt wird aber auch entschieden, ob oder wie sich diese Themenfäden in der Zukunft entwickeln.
Um die Entwicklung der Themenfäden noch deutlicher hervorzuheben, besteht die Möglichkeit, die Biografie des Einzelnen z.B. in Sieben- oder Zwölf-Jahres-Rhythmen zu gliedern. Sehr häufig gerät bei einer solchen Betrachtung die Phase zwischen den Jahrzehnten (um die 20, 30, die 40, die 50) in den Mittelpunkt, da zu diesem Zeitpunkt oft der Wunsch nach Veränderungen, Eigenständigkeit, neuen Entscheidungen, Erwartungen und einer Bilanzierung des bisherigen Lebens besteht. Diese Veränderungswünsche und dieses Neuüberdenken des Lebensweges sind wichtig und auch für die Selbst-Wahrnehmung und Selbst-Erziehung unerlässlich, um die individuellen Einstellungen und Haltungen in der Gegenwart neu zu strukturieren. Daraus kann sich eine Neudefinition der Zukunft ergeben.
Bei einem solchen Vorgang ist es besonders förderlich, wenn das Individuum sich und seine oder die fremde Lebensgeschichte aus einer distanzierten Haltung betrachtet, die nicht Ereignisse moralisch erklärt oder immer schon kritisch bewertet. Das Subjekt soll zunächst die Erfahrungen von Zusammenhängen, Sinnhaftigkeit und Eigenverantwortung auf sich wirken lassen, denn eine solche Haltung ist insbesondere für die spätere Alleinarbeit an der eigenen Biografie notwendig (vgl. Vogt in Schulz 1996, 47 ff.). Eine solche Haltung ist aber auch bei der Analyse von Fremdbiografien wesentlich, um sich zunächst auf diese einzulassen, um dann im zweiten Schritt kritisch aufspüren zu können, warum die Personen in ihren Rollen und Perspektiven so handelten, wie sie es taten, und was wir daraus für eigene Schlüsse auf uns und die Anderen ziehen können.
Demnach verhilft Biografiearbeit dem Individuum nicht nur zur Bewusstmachung und Veränderung der eigenen Wahrnehmungs-, Deutungs-, Bewertungs- und Handlungsmuster (vgl. Enns in  http://www.dialogische-fachdidaktik.de/1.7BIOGRA%20L.pdf,, 17), sondern fördert auch einen Perspektivenwechsel, das Einnehmen neuer Standpunkte, Blickrichtungen und Sichtweisen und führt bis hin zu einem neuen Erleben der Dinge in der Welt (vgl. Ruhe 2003, 144).