3. Theoretische und praktische Begründung

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3.1. Theoretische Begründung

Der Einsatz dieser Methode lässt sich vor allem anhand der aktuellen Schreibforschung begründen. Um den Schülern einen Zugang zur Schriftkultur zu ermöglichen, ist es nämlich überaus wichtig, dass sie die Funktion der Schriftsprache kennen lernen. Das gilt besonders für Schüler, die bisher weitgehend ohne schriftkulturelle Erfahrung aufgewachsen sind. Schrift sollte ihnen ganz persönlich wichtig werden, subjektive Bedeutung und Sinn erlangen.
Von Kindern, die in einer Umgebung leben, in der sie ihre Eltern regelmäßig mit Schriftsprache umgehen sehen, wird berichtet, dass sie teilweise sehr früh schon Interesse an Schrift zeigen. Die Literatur zur Schriftspracherwerbsforschung enthält einige Beispiele von Kindern, die so genannte "Kritzelbriefe" schreiben, noch bevor sie die Buchstaben kennen. Diese Briefe enthalten selbst erdachte Zeichen und Linien, die nur das Kind selbst entziffern und auf Nachfrage vorlesen kann. Der eigens erstellte Brief hat eine ganz besondere Bedeutung für das Autorenkind. Es kann darin etwas Erlebtes erzählen, seine Empfindungen mitteilen oder den Empfänger zu etwas auffordern. Mit solchen ersten Textproduktionen bekunden die Kinder ihr Interesse an Schriftkultur und zeigen erste Einsichten in die kommunikative Funktion, die sie zuvor wahrscheinlich schon durch Beobachtung der Eltern kennen gelernt haben. Wenn Erwachsene ihre Texte ernst nehmen, erleben sie Wertschätzung ihrer Äußerungen, Schrift bekommt einen subjektiven Sinn und sie gewinnen Lust am Schreiben.
Aus den genannten Gründen scheint das Briefschreiben eine geeignete Methode für den schriftsprachlichen Anfangsunterricht zu sein, da hier für das Schreiben wichtige Grundlagen wie Freude, Motivation, subjektive Bedeutung der Schriftkultur usw. gelegt werden können, während orthographische und grammatische Regeln zunächst nicht beherrscht werden müssen. Aber auch auf höheren Lernstufen erscheinen Briefe immer als sinnvoll, wenn der Sinn des Schreibens (z.B. als Wirkung, als Diskussionsgrundlage, als Empfehlung) konkret durch Rückmeldungen des Empfängers oder imaginär über ein zu vereinbarendes Rückmeldeverfahren gesichert werden kann.
Da der Brief auf einen genauen Adressaten bezogen ist, zeigt sich in ihm beispielhaft und explizit, wie die Sprechsituation auch in anderen Formen der Schriftsprache gegenüber der mündlichen Kommunikation "zeitlich zerdehnt" ist (nach Konrad Ehlich). Auch die Teilprozesse des Schreibens wie z.B. Antizipieren der Lesesituation, Generieren und Strukturieren von Inhalten und Reflektieren des bereits sichtbaren Textes können anhand des Briefes exemplarisch eingeübt werden. Denn er erfordert ja in besonderem Maße das Sich-Hineinversetzen in den Leser. Das Nachdenken über die Reaktion und Lesart des Empfängers bietet darüber hinaus einen Anknüpfungspunkt für metasprachliche Kommunikation, da der Schreiber verständlich und dazu beispielsweise möglichst orthographisch korrekt schreiben möchte. Dadurch wird der Verfasser eines Briefes auch für die Auseinandersetzung mit Orthographie, Grammatik und evtl. anderen Textsorten motiviert und interessiert.


3.2. Praktische Begründung

Beim Schreiben wird der Schüler handelnd tätig und schafft ein Produkt. Schreiben ist besonders dann handlungs- und produktionsorientiert, wenn der Schreibende den Anlass, das Thema und die Form eigenständig wählen kann. Briefe im Literaturunterricht sind in einer konkreten Aufgabenstellung zwar etwas Vorgegebenes, aber die Ausgestaltung lässt überaus viele Möglichkeiten zu. Subjektive (Verstehens-) Zugänge zu dem literarischen Text und auch zu der Schreibaufgabe ergeben ein breites Spektrum an Lösungen und Deutungen. Dieses zuzulassen gewährt der u.a. von K. Spinner vertretene handlungs- und produktionsorientierte Unterricht. Näheres dazu findet sich vor allem in dem Basisartikel: "Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht" von Haas, Menzel und Spinner in dem Praxis Deutsch Heft Nr. 123 (1994).
Bei der Aufgabe, einen Brief aus der Sicht einer anderen oder fiktiven Person zu schreiben, zeigt sich die Notwendigkeit, sich in den anderen hinein zu versetzen besonders deutlich. Sie wird sogar in doppeltem Maße gefordert, denn zum einen ist die Perspektive z.B. einer literarischen Figur zu übernehmen und zum anderen ist ein Empfänger dieses Briefs denkbar, auf den der Brief abgestimmt sein will. Möglich ist aber auch die etwas weniger komplexe Aufgabe, das Geschehen bzw. eine Situation aus der Sicht einer Figur in Briefform nachzuerzählen.

Wer produktiv tätig ist, ist immer auch konstruktiv tätig. Er konstruiert beispielsweise im Leseprozess, im Verstehen, während der Reflexion über das Wahrgenommene, Erkannte, im Planen und auch im Vollziehen der Produktion. Inneres wird durch verschiedene produktive Handlungen veräußerlicht. Es fließt immer in die Produktion mit ein.
In der speziellen Äußerungsform eines Briefes zeigt sich meine subjektive Sicht auf Themen, Situationen und Menschen. Ein Teil meiner Konstruktion von Welt wird deutlich. So gesehen kann die Form des Briefs dazu dienen, um mir selbst über meine Perspektive, meine Emotionen, meinen Standpunkt klarer zu werden. Eine durchaus verwandte Form zum Briefschreiben ist das Tagebuch schreiben, eine Art Brief an mich selbst. Häufig gebrauche ich den Brief aber, um mit anderen zu kommunizieren. Dabei ist der Brief an Nahestehende, Verwandte oder Freunde entsprechend persönlicher als z.B. ein rein formaler Brief an die Stadtverwaltung. In einem Brief teile ich etwas von mir mit, stelle aber während des Schreibprozesses auch Vermutungen darüber an, wie der Empfänger zu einem Thema, einer Situation oder auch zu mir steht. Diese Fähigkeit, sich in den anderen hinein zu versetzen, wird beim Briefschreiben besonders gefordert und gefördert. Beim Reflektieren über die eigene oder eine andere Perspektive kann man oft neue Erkenntnisse gewinnen oder es tun sich z.B. in einer Problemstellung Lösungsmöglichkeiten auf. Lernen und Weiterentwicklung ist somit meistens garantiert. Der Brief kann also zur Reflexion oder auch zur Äußerung von Kritik genutzt werden, was manchen in schriftlicher Form leichter fällt als verbal bei direkter Konfrontation mit einem Gegenüber. Aufgrund dieser psychologischen und pragmatischen Erleichterung ist es denkbar, die Briefmethode einzusetzen, um Kritik zu üben und auch um Feedback zu geben.
Thomas Unruh und Susanne Petersen bestätigen dies in ihrem Artikel zum Thema Feedback:
[http://www.guterunterricht.de/unterricht/Feedback/hauptteil_feedback.html]:
"Zu Anfang fällt es manchen schwer, ein persönliches Feedback verbal zu geben. Der schriftliche Weg umgeht diese Schwierigkeit. Deshalb ist es ein guter Weg, anderen einen Brief zu schreiben ... Anderen solch konstruktives Feedback geben zu können, setzt voraus, auch mit sich selbst in dieser Weise konstruktiv umzugehen. Deshalb kann man zunächst damit beginnen, einen Brief an sich selbst zu schreiben."