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Auf der Suche nach der Portfolioprüfung
Reisenotizen aus New York
von Felix Winter

Vor etwa einem Jahr hatte ich Kathe Jervis vom Teachers College der Columbia Universtität eingeladen, damit sie auf unserer Tagung "Leistung sehen, fördern und werten" etwas über Portfolioarbeit erzählt. Im Frühjahr dieses Jahres lud sie mich dann ein, mir die Sache einmal "life" anzuschauen. Eine gute Gelegenheit für mich, da ich ungern als Tourist in fremde Länder reise und daher z.B. noch nie in die USA gelangt war. Ich sagte also zu und plante meine kleine Studienreise – als gewissenhafter Lehrer - für die Herbstferien. Wie jeder weiß, erfolgten im September die Terrorangriffe auf das WTC, die in NY und in der Welt viel giftigen Staub aufwirbelten. Wir wussten nicht, wie die Sache weiter gehen würde und vereinbarten zunächst, den Gang der Dinge abzuwarten. Da Kathe mich aber zwei Wochen nach dem 11. 9. 01 aufforderte doch zu kommen, und ich Angst hatte, sonst hier nur herumzusitzen, entschloss ich mich mit meiner Frau Karin trotz der veränderten Rahmenbedingungen zu fliegen. Weil aber die Swissair in finanzielle Turbulenzen geriet und wir mit deren Tochtergesellschaft Sabena fliegen wollten, wurde es bis zuletzt noch richtig spannend, ob die Unternehmung gelingen würde.

In den ersten Tagen schauten wir uns in der Stadt um. Dann begannen die Schulbesuche. Kathe nahm uns zunächst zu zwei Schulen der Unter- und Mittelstufe mit, um uns einen allgemeinen Eindruck zu vermitteln. Danach besuchte ich bzw. besuchten wir Schulen, die ein besonderes Profil haben und mit Portfolios oder ähnlichen Verfahren arbeiten.

Mittwoch der 10.10.01

Heute besuche ich alleine eine Schule: Die Urban Academy. Sie liegt auf der East Side 67. Straße. Die Busse sind langsam und ich komme etwas spät an, aber das erweist sich als nicht schlimm. Ich betrete ein großes altes Gebäude, einen Schulkomplex, vermutlich aus den 40er Jahren, in dem mehrere Schulen untergebracht sind. Dass am Eingang eine Sicherheitsdienst residiert, weiss ich nun schon, meinen Pass habe ich mit und ich komme problemlos in die Schule. Der Raum 208, wo ich mich melden soll, ist eine Mischung aus einem Großraumbüro, einer Bibliothek und einer Rumpelkammer. Überall stapeln sich Papiere, Kisten, Bücher, an den Wänden hängen Bilder, die von Schülern angefertigt sind, dazwischen – etwas eingegraben – überladene Schreibtische, die zum Teil sogar Computer beherbergen. Eine Frau erwartet mich, entschuldigt Ann Cook, die ich sprechen soll, und schickt mich in eine Ecke, damit ich mir einen Kaffee holen kann. Ein Papierbecher wird gesucht und so muss ich – weil ich nicht nein gesagt habe – etwas von der schwarzen Brühe mümmeln. Ich werde aber bald erlöst, weil man mir jetzt ein Video zeigen möchte. Die Frau führt mich in einen besonderen Raum, der voller Taschenbücher – diesmal sehr geordnet – steht und anscheinend auch als Krankenzimmer genutzt wird. Die Frau stellt den Apparat an und läßt mich damit allein. Ich bekomme einen Film über die Art der Prüfungen an dieser Schule zu sehen, die eine Besonderheit sind.

Was ich sehe, macht mich fröhlich und traurig zugleich. Die Schüler arbeiten hier – ganz wie im Oberstufenkolleg – an ihren speziellen Projekten, sie tun dies intensiv und mit wissenschaftlichen Methoden. Das Kernstück der Ausbildung und Abschlussprüfung sind sechs individuelle größere Arbeiten, die projektartig entstehen. Es sind die sogenannten Proficiencies. Sie müssen in folgenden Bereichen erarbeitet werden:

  • Kreative Künste (Creative Arts)
  • Kritik (Criticism)
  • Literatur (Literature)
  • Mathematik (Math)
  • Naturwissenschaften (Science)
  • Sozialwissenschaften (Social Studies)
Für diese besonderen Arbeiten gibt es Richtlinien. Manche von ihnen haben das Bestehen bestimmter Kurse zur Voraussetzung. Sie sind aber nicht an Kurse gebunden, sondern im Rahmen von Vorgaben individuell formuliert und von einem Tutor begleitet. Die Arbeiten sollen aussagekräftig sein, das heißt, sie sollen zeigen, was jemand in einem bestimmten Gebiet zu leisten in der Lage ist. Schließlich muss man die Arbeit vor internen und externen Beurteilern verteidigen. Letztere sind Leute aus der Hochschule, Journalisten u.a.m. Für die "Proficiency" in Literatur zum Beispiel muss man ein Buch wählen, eine kritische Literaturanalyse dazu schreiben und dann mit einer kompetenten externen Person (z.B. einer Journalistin) darüber ein Gespräch führen. In Naturwissenschaft kann es z.B. um eine Arbeit zu Gefahren und Chancen der Gentechnik gehen, zu der dann eine Verteidigung und Prüfung vor einem Gremium stattfindet. Ein allgemeines Portfoliosystem für die Leistungsbewertung hat man hier nicht. Die Kurse werden mit Noten bestanden. Man muss insgesamt eine bestimmte Zahl an Kursen bestehen – ähnlich wie bei uns am Oberstufenkolleg. Für die Proficiencies und die daran gebundenen Prüfungen werden dagegen keine Noten erteilt. Sie werden nur bestanden oder eben nicht. Sie bestätigen, dass man etwas bewältigt hat.

Warum bin ich froh? Weil ich schon merke, dass man hier eine ganz ähnliche Bildungskonzeption vertritt, wie wir sie am Oberstufenkolleg haben. Traurig bin ich, weil ich hier noch deutlicher als zuhause sehe, wie wichtig eine solche Schule ist, die einen alternativen, stärker personenorientierten und mit eigenverantwortlichem Lernen verbundenen Zugang zum Studium erlaubt und direkter auf die Wissenschaft zugeht. Nur: Unsere Institution ist schwer bedrängt und wird gerade in den genannten Aspekten zurechtgestutzt, die Urban Academy hat als Auszeichnung vom "Office of Education" der USA das begehrte "Blaue Band" erhalten. Im Staate NY gibt es 28 ähnliche Schulen. Was eine Schule wie die Urban Academy auch stärkt, ist die Mitgliedschaft in einem Netzwerk von Schulen, die sich verpflichtet haben, nach ähnlichen pädagogischen Prinzipien zu arbeiten. In diesem Falle ist es die "Coalition of Essential Schools".

Ann Cook erzählt mir später, dass diese Sache mit den Externen bei der Prüfung gut funktioniere, weil diese meist ganz falsche und schlechte Vorstellungen von Jugendlichen besäßen und daher jeweils schon erleichtert und erfreut seien, wenn sie merkten, dass man mit ihnen ganz vernünftig reden kann. Die eigenen Lehrer dagegen seien viel kritischer. So sehe ich, wie Ann ihre Strategien formuliert und ihre Schule absichert. Wir reden nun eine Weile über unsere Bildungsphilosophie und über die Möglichkeiten, die damit auch Menschen erschlossen werden, die aus bildungsferneren Schichten kommen oder einfach noch nicht so weit sind, dass sie auf eine reguläre High-School gehen können oder wollen. In New York sind 40% (!) der Einwohner außerhalb der Vereinigten Staaten geboren. Diese statistische Feststellung lässt erahnen, vor welchen schwierigen Herausforderungen viele Schüler stehen und welche Probleme die Schulen lösen müssen, wenn sie ihrem Auftrag gerecht werden wollen. In Deutschland ist das Ausmaß solcher Probleme sicherlich viel geringer, aber es gibt sie in ähnlicher Weise. Die bundesrepublikanische Bildungsverwaltung hat aber m. E. noch nicht recht darauf reagiert. Insbesondere fehlt es an alternativen Wegen zum Abitur, die stärker an den Personen und ihren Wachstumsmöglichkeiten ansetzen und weniger den Lehrplan für alle in den Vordergrund stellen.

Im Gespräch und bei meinem folgenden Rundgang wird deutlich, dass die Urban Academy sich ein ganz besonderes Profil gegeben hat. Kunst spielt eine große Rolle, vor allem die Fotografie. Aber auch politische und ethische Fragen sind ein Herzstück dessen, was hier vermittelt wird. Nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch. Jeden Mittwochnachmittag gehen die Schüler zu ihren Sozialen Diensten außerhalb der Schule. Außerdem müssen sie sich an der Selbstverwaltung beteiligen. Auf bestimmte "Skills" wird großer Wert gelegt. So muss jeder Schüler schon zu Beginn einen Nachweis erwerben, dass er Bibliotheken nutzen kann. Außerdem muss jeder Schüler seinem Tutor jährlich einen Bericht vorlegen, welche Bücher er gelesen hat und dazu Auskunft geben. Curricular scheint man weitgehend frei zu sein. Es ist eine kleine Schule, 120 Schülerinnen und Schüler lernen und arbeiten hier. Die Beziehung zum Tutor spielt eine große Rolle, er leitet und kontrolliert den Fortgang der Arbeiten und entscheidet, wann sich jemand der Prüfung stellen kann. Dass dieses System funktioniert, zeigt die stolze Zahl von 90% Schülern, die erfolgreich abgehen. Ein Geheimnis des Erfolgs scheint es zu sein, dass man sich im Rahmen großer curricularer Freiheit gleichwohl auf das Erreichen bestimmter intellektueller Fähigkeiten konzentriert.

Es ist Mittagspause. Ich spreche noch mit einigen Schülern. Sie vergleichen ihre Schule mit ihren vorhergehenden. Man ist sich nicht ganz einig. Einerseits ist man zufrieden mit den Lernmethoden hier, andererseits kritisiert ein Junge, dass es manchmal nicht strukturiert genug vorwärts ginge. Man sitze z.B. in altersgemischten Wissenschaftskursen und die Lehrer gingen zu sehr auf die jüngeren Jahrgänge ein.

Ich sitze danach noch eine Weile bei einem Treffen einer Lehrergruppe (es ist Mittwoch und die Schüler sind zu den Diensten aufgebrochen) und blättere in Papieren. Die Lehrer essen während ihrer Sitzung ein karges Mahl, was sie sich aus einem Lebensmittelladen gegenüber der Schule beschafft haben. (Eine genüssliche Esskultur scheint hier nicht zu herrschen.) Man redet über die drohende allgemeine Verpflichtung auf die Abschluss-Tests und Möglichkeiten, für die alternativen Prüfungsformen in der Öffentlichkeit zu werben.

Als ich später wieder bei meinem Domizil anlange und mit dem Aufzug in die 13. Etage fahre, steigt – wie bestellt – ein Schüler von der privaten und wohlhabenden Schule, die gegenüber des Hauses liegt, mit mir in den Aufzug. In sich versunken und ohne mich zu beachten murmelt er vor sich hin. "This bloody tests every day ..." kann ich verstehen und muss ein wenig lächeln.

Donnerstag, der 11.10.01

Heute wird die Beacon High-School an der 61. Straße West besucht. Die Schule liegt an einer Straße, die zum Hudson River hinunter führt, in einem Viertel mit Werkstätten, großen – eher ärmlichen - Wohnblocks und anderen Schulen. Es ist ein recht neuer großer Backsteinbau. Die Schule wurde 1993 eröffnet. Sie hat vier Eingangstüren, von denen nur eine genutzt werden darf. Dahinter sitzt ein großer schwarzer uniformierter Aufpasser mit Schildmütze, Abzeichen, Sprechgerät am Revers und verschiedenen anderen Utensilien, die ihn als wichtig ausweisen. Wir kennen die Prozedur schon, weisen uns aus und schreiben uns ein, dann werden wir auf das Büro verwiesen, wo wir auf unsere Kontaktperson mit dem schönen Namen Bayard Faithfull warten. Als er kommt, erklärt er uns das Besuchsprogramm und bringt uns als ersten Punkt zum Direktor. In seinem Zimmer herrscht reger Betrieb. Eine Gruppe von Schülern ist gerade noch dabei, Briefe und Bilder zu ordnen und zu beantworten, die aus allen Teilen des Landes von anderen Schülern als Solidaritätsbekundungen für das angegriffene NY geschickt werden. Heute ist der Anschlag gerade einen Monat her. Da jetzt gleich wieder die Unterrichtsstunde anfängt, muss alles beiseite gepackt werden. Dann sitzen wir mit dem Direktor am Runden Tisch. Hier nun endlich habe ich eine Schule, die Portfolios anlegt und auch Portfolioprüfungen durchführt und zwar seit 1997. Herr Stoll sieht die Vorteile des Portfoliokonzepts nicht zuletzt darin, dass die Lehrer merken, dass sie gemeinsam auf bestimmte Ziele hinarbeiten und dass es um Fähigkeitsentwicklung der Schüler geht. Der Zusammenhang des Curriculums werde für alle sichtbar. Daher sieht er die Portfolioprüfung auch als einen Kern der Personalentwicklung an. Auf der Schülerseite werde eine sinnvolle Individualisierung gefördert und sie lernten, wie man etwas präsentiert. Die Portfoliomethode würde insgesamt sehr helfen, mit der großen Heterogenität der Schüler produktiv umzugehen. Der Direktor, ein kraushaariger, beleibter Mann, weiß offenbar, wovon er redet. Er denkt Schule auch in der Kategorie Motivation und zwar auf Lehrer- und Schülerseite und da ist ihm das Portfolio unersetzbar.

Die Schule ist so angelegt, dass die ganzen Prüfungen anhand von Portfolios abgelegt werden. Das sogenannte "Gradfolio" entsteht dadurch, dass aus der Unterrichtsarbeit bestimmte Themenpapiere oder projektartige Arbeiten ausgewählt, und sorgfältig überarbeitet werden. Es sind häufig kleine eigenständig vorangetriebene Referate, oder auch empirische Projekte, bei denen etwas erhoben, genauer untersucht und statistisch ausgewertet wird. An der Qualität kann also beliebig intensiv gearbeitet werden. Gemeinsam mit einem Begleitbrief des Schülers wird die Arbeit dann eingereicht und anschließend vor einem Gremium dargestellt und verteidigt. Welche Arbeiten ausgewählt werden und wann die Prüfung stattfindet, wird in Absprache mit dem Tutor festgelegt. Im Vergleich mit der Urban Academy ist die Prüfung hier also enger an die Kursinhalte und die dort entstandenen Portfolioeinlagen geknüpft.

Zweimal im Jahr gibt es eine Woche, in der – wie auch sonst in den USA üblich – Bewertungen – und hier dann auch die Portfolioprüfungen - stattfinden. Aber auch außerhalb dieser Zeiten werden Portfolioprüfungen abgenommen. Zwei Lehrer und wenn möglich ein externer Bewerter sind bei der Prüfung anwesend. Insgesamt werden sechs solcher Prüfungen abgelegt und zwar in

  • Englisch
  • einer Fremdsprache
  • Geschichte
  • Mathematik
  • Naturwissenschaften
  • und einem sogenannten "Senior Seminar", in dem es um philosophische und ethische Fragen geht.
Für die genannten Bereiche gibt es Vorgaben, zu welchen Teilgebieten Papiere in das jeweilige Portfolio eingehen sollen. Ein Prüfungsportfolio zu einem Fach umfasst daher jeweils mehrere Schriftstücke und kann leicht 50 und mehr Seiten aufweisen. Später sehen wir einige solcher Portfolios. Sie sind längst nicht so trocken, wie die oben genannten Fachtitel klingen, dort sind z.B. Produkte kreativen Schreibens, Experimentalberichte, kleine Forschungsvorhaben und auch fächerübergreifende Themen zu finden. Da die Schule einen Schwerpunkt in der Theaterarbeit und in der Computernutzung hat, haben etliche Arbeiten auch noch einen "Untergrund" oder "Hintergrund", der nicht aus den Lehrerdarstellung des normalen Unterrichts gespeist wird, sondern aktives, eigenständiges und künstlerisches Handeln einschließt. Viele Produkte basieren auf selbständig durchgeführten Recherchen oder verweisen auf gelebte Projekte.

Die Portfolios werden mit Punkten bewertet, man kann drei Stufen des Bestehens erreichen:
Honors Standard (der Höchste)
Beacon Standard
Competency Standard

Uns wird berichtet, dass die erreichten Niveaus nicht im Vordergrund stünden. Im Sprachgebrauch der Schüler würde gesagt, man habe die Prüfung bestanden, das sei das Wichtigste. Damit die Anforderungen transparent und die Beurteilungen vergleichbar sind, wurden schulübergreifend Kategorien formuliert, die jeweils in vier Stufen inhaltlich Niveaus beschreiben, auf denen etwas geleistet werden kann. All diese Regelungen sind in einem Handbuch zusammengefasst.

Das, was ich hier zusammenfassend berichte, erfahre ich nicht nur vom Direktor, sondern auch in den nachfolgenden Gesprächen mit einer Lehrerin und dann mit zwei Schülerinnen. Deren Berichte sind mir besonders aufschlussreich, da sie die Sache von einer Perspektive der Betroffenen und Beurteilten schildern. Batheny und Sara erzählen mir von den Prüfungen, die sie schon abgelegt haben. Zum Beispiel in Mathematik und in Naturwissenschaften. Sara hat Korrelationsrechnung gelernt und Koeffizienten zum Zusammenhang der Länge von Fußzehen und Fingern in einem kleinen Forschungsprojekt bestimmt. Da ich mich in Statistik gut auskenne, kann ich nachfragen und finde heraus, dass sie die Sache wirklich gut verstanden hat. Beide erzählen, dass sie das bestimmt nicht so gut verstanden und gar behalten hätten, wenn sie so wie in den vorherigen Schulen gelernt hätten, wo man etwas vorgetragen bekam, dann Klassenarbeit und fertig – was meist gleich bedeutend mit vergessen sei. Sie sind daher auch zu Anhängern der hiesigen Lernmethoden geworden. Batheny erzählt mir von ihrem Holografie-Projekt und auch das klingt spannend und ertragreich. Beide sind inzwischen auch als Aktivisten für die Portfolioprüfung tätig geworden und haben Proteste von Schülern organisiert, weil die ganze Sache bedroht ist, denn die Schulaufsichtsbehörden wollen, dass zusätzlich die landesweiten Tests von den Schülern absolviert werden sollen.

Die ganze, gut ausgearbeitete Alternative steht – wie auch in der Urban Academy - derzeit auf der Kippe, wie mir der Direktor berichtet. Er macht das Problem durch den Vergleich mit einem Sportler deutlich. Man könne nicht den Marathonlauf trainieren und dann im Weitsprung getestet werden. Die alternativen Prüfungen und die damit zusammenhängenden didaktischen Reformen sind daher aktuell gefährdet und die Auseinandersetzung findet derzeit vor Gericht statt, weil die alternativ arbeitenden Schulen gegen die entsprechenden Erlasse geklagt haben.

Ich gewinne den Eindruck, dass man an dieser Schule ein gut ausgearbeitetes und erprobtes Modell einer alternativen Prüfung hat, bei dem sich die Schule auf die Erreichung gemeinsamer Ziele konzentrieren kann und gleichwohl den Schülern Spielräume für individuelle Vertiefung und interessengeleitetes Lernen gibt. Außerdem beeindruckt mich, dass die ähnlich arbeitenden Schulen aus eigener Initiative zu Absprachen über Standards gefunden haben und so ein Stück Qualitätssicherung in die eigene Hand genommen haben.

Nach dieser Aufklärung werden wir durch die Schule geführt. Die Flure sind eng, so dass in den Pausen ein großes Gedränge entsteht. Bayard zeigt uns den Theatersaal. Die Schule hat mehrere aktive Tanz-Gruppen und es werden häufig Theaterprojekte gemacht. Auch Kunstproduktionen spielen eine große Rolle. Es geht der Schule aber auch darum, die Künste mit den anderen Fächern zu verknüpfen und so Synergieeffekte zu erzeugen. Davon hat uns zuvor Sara schon ein Beispiel gegeben. Sie hatte ein Phantasietier aus Pappmaschee gebaut. Das war aber nur ein kleiner Teil eines größer angelegten Projekts. Die Phantasietiere mussten nämlich in allen Lebensbereichen und auch seinen inneren, biologischen Funktionen konstruiert und beschrieben werden. Daher waren Kenntnisse über Biologie und Umweltwissenschaften mit der künstlerischen Produktion verknüpft.

Ein weiterer Schwerpunkt der Schule liegt bei der Informatik. Man zeigt uns einen großen, gut ausgestatteten Computerraum. Hausaufgaben und schulische Mitteilungen stehen jeweils im Netz. Ein für die Lehrer einfach zu handhabendes eigenes Programm sorgt dafür, dass sie ohne großen Aufwand und Spezialkenntnisse ihre Texte und Hinweise ablegen können. Dreiviertel der Elternhäuser hätten einen Zugang zum Netz.

Doch nun geht es noch in einen Unterricht – 9. Klasse, Science, Chemieunterricht. Es geht um einen Diffusionsversuch und seine Auswertung. Auf die Mathematisierung des Beobachteten verwendet der Lehrer viel Mühe. Seine Unterrichtsmethode ist eher konventionell: fragend-entwickelnd. Manche Schüler "bedienen" den Lehrer durch Mitarbeit, anderen gestattet dies geistig abzudriften. Am Ende wird ein zweiter Diffusionsversuch gemacht, der in der folgenden Stunde ausgewertet und mathematisch nachvollzogen werden wird.

Nach der Stunde drängeln wir uns wieder durch die vollen Flure. Auf meinen Wunsch hin wird in der Medienzentrale noch eine Filmaufnahme von einer Portfolioprüfung kopiert. Das aber geht nur in Echtzeit, d.h. es dauert lang. Daher dürfen wir noch im Eingangsbereich sitzen und können die Abläufe zur Mittagszeit beobachten. Die Schüler gehen jetzt in die Schulmensa oder – falls sie nahe wohnen zum Essen nach Hause. Eine Schulmensa gehört zur Standardausrüstung der Schulen, da Unterricht bis zum Nachmittag – meist bis 15 Uhr – dauert. An manchen Schulen existieren auch danach noch eine Betreuung und freiwillige Neigungsgruppen.

Im Foyer sitzt - vor der Wand mit den Solidaritätsbriefen - eine alte Frau, die dort Küchlein verkauft. Weiter vorne regiert der agile Sicherheitskerl. Obwohl ich die Antwort schon weiß, frage ich ihn, ob ich ihn fotografieren könne, weil wir solche Sicherheitsbeauftragte in Deutschland gar nicht hätten. Ich spekuliere dabei auf seine Eitelkeit, die er deutlich zur Schau stellt. Aber er verneint pflichtgemäß und erklärt mir, dass man in Germany Sicherheitsbeamte an Schulen ja auch gar nicht brauche, weil dort die Schüler noch wüssten, wo sie hingehen und wie sie sich verhalten müssten. Was er damit meint sehe ich kurz darauf, als die Mittagspause endet. Nun drängen sich vor der (einen) Eingangstür die Zurückkommenden. Sie müssen beim Eintritt wieder ihren Ausweis zeigen. Außerdem wollen - von der Seite her - Schüler aus der Mensa durch das Foyer. Ein solches "Durcheinander" aber kann der gestrenge Mann nicht leiden. Er weist die aus der Mensa kommenden barsch zurück und lässt sie warten, während er die Hereindrängenden kontrolliert. Durch seine Seitenattacken ist er immer wieder abgelenkt, so dass sich der ganze Vorgang zusätzlich verzögert. Die Schüler erdulden es erstaunlich gelassen, obwohl schwer einzusehen ist, dass sie in der Menge nicht raus dürfen. Was aber bleibt ihnen übrig? Die Sicherheitskräfte sind derzeit ja die Helden in Amerika.

Endlich ist unser Film fertig, wir melden uns ordnungsgemäß ab und verlassen das Haus.

Freitag, der 12.10.01

Die International High-School liegt außerhalb von Manhatten, in Queens, einem Stadtteil, der nach Kathys Aussage am meisten durchmischt ist. Die Schule liegt innerhalb eines Colleges. Ein großer Kasten, der offensichtlich in den 70´er Jahren gebaut wurde. Treppauf, treppab, viel Beton, wenig Fenster. Ein Kindergarten und ein Hallenbad sind mit im Komplex. Alles ist funktional und eckig, nirgendwo ist ein Sinn für Schönheit zu erkennen. Immerhin komme ich hier ohne Passkontrolle rein. Man fühlt sich wie an der Uni. Ich habe noch etwas Zeit und setze mich zu einigen chinesisch aussehenden Tischtennisspielern. Eigentlich habe ich durch meine vorangegangenen Besuche schon viel erfahren, aber mal sehen, was hier besonders ist. Ich finde mich zu Raum BO-52 durch, dort bin ich angemeldet, bei Raisa. Sie sitzt im Keller in einem niedrigen Büro und bringt mich sofort zum Direktor, der ebenfalls in einem fensterlosen Kellerraum residiert. Vor seinem Schreibtisch, an der Wand, sind die Bilder von Absolventen aufgehängt, das habe ich schon öfters gesehen hier, man ist stolz auf die, die man durchgebracht hat.

Der Besuch ist gut vorbereitet, es gibt ein ausgedrucktes Programm, in dem steht, wann ich mit wem rede. Man hatte eigentlich auch meine Frau erwartet – ein Missverständnis – daher sind zwei Mappen vorbereitet. Der Direktor erklärt mir, dass dies eine besondere Schule für Einwandererkinder ist, nur sie werden aufgenommen und auch nur dann, wenn die Familie weniger als 4 Jahre im Land ist. Man hat sich spezialisiert und auf die spezifischen Aufgaben, die sich aus der Klientel ergeben, eingestellt. Insgesamt sind derzeit 435 Schüler an der Schule. Vorwiegend sind es Latinos, Osteuropäer und Asiaten. Man arbeitet in Teams von je 5 Lehrern, die 75 Schüler intensiv betreuen. Das geht über zwei Jahre (9. und 10.), dann wechselt das Team für die zweite Periode (11. und 12. Klasse). Man möchte einen intensiven Zusammenhang schaffen, in dem die Lehrer die Schüler gut kennen lernen und begleiten. Obwohl die Schüler meistens aus sehr strengen Schulsystemen kommen, passen sie sich hier rasch an die andere Lernkultur an, die schon seit längerem besteht. Auf die Besonderheiten der Schule werden die Schüler und Eltern schon anhand der Bewerbungspapiere aufmerksam gemacht. Sie wissen also, dass sie hier mit Portfolios arbeiten und auch anhand der Portfolios ihre Prüfungen ablegen werden. Lediglich in Englisch gelten die Regents-Exams. Wie auch an den anderen Schulen, sind die alternativen Prüfungen jetzt gefährdet.

Jeder Schüler der International High School erhält einen "Mentor" (Tutor). Er hat die Aufgabe, den Schüler zu beraten und auch die Portfolioprüfungen vorzubereiten. An diesen Prüfungen nehmen außer dem betreffenden Schüler und seinem Mentor drei weitere Personen teil: ein Lehrer aus einem anderen Fachbereich (als Vorsitzender der Prüfung), eine Person von außerhalb der Schule – häufig sind dies Lehrende aus dem College – und ein weiterer Schüler (ohne Stimmrecht). Der Mentor wird seinen Schüler erst dann zur Prüfung melden, wenn er annimmt, dass dieser so weit ist. Die üblichen Zeiten dafür sind – wie überall - Januar und Juni. Man kann nur bestehen oder nicht bestehen, benotet wird nicht.
Man kann die Prüfung wiederholen. Später bekomme ich einige Portfolios gezeigt.

Nach dieser Einführung darf ich den Unterricht einer Klasse besuchen. Sie liegt in einem Raum gleich um die Ecke. Auch dieser Raum ist zu meinem Erschrecken völlig fensterlos und schmucklos, außerdem ist er eng. Ca. 20 Schüler sitzen in vier Sitzgruppen beieinander. Eine zweite Lehrerin nimmt etwa 10 von ihnen mit in einen anderen Raum, um die jetzt anstehenden Aufgaben zu bearbeiten. Dadurch wird es etwas weniger bedrückend.

Freitags um diese Zeit ist – in dieser Klasse - jeweils eine besondere Sache zu bearbeiten. Die Schüler müssen während der Woche einen Zeitungsartikel lesen und dazu ein vorgegebenes Blatt zweimal bearbeiten: und zwar einmal in Englisch und dann in ihrer Herkunftssprache. Es wird u.a. verlangt, eine eigene Überschrift zu finden, Hauptgedanken zu nennen und eine kurze Zusammenfassung des Inhalts zu geben. Was für ein Artikel gewählt wird, bleibt den Schülern frei gestellt. Er wird ausgeschnitten und beigegeben.

Der Tisch, zu dem ich mich geselle, ist tatsächlich sehr multikulturell besetzt. Hier sitzen ein Ukrainer, ein Russe, ein Albaner, ein Junge aus der Dominikanischen Republik, eine Thailänderin, eine Chinesin, eine Mexikanerin und eine Polin zusammen. Sie sind in der 9. Klasse. Die Mexikanerin hat den Vorsitz. Mein Erscheinen ruft typische Fragen hervor, woher ich komme usw. Nach einigem Hin und Her geht es los. Der kleine Albaner liest seinen Text vor. Es geht um die AWACS-Flugzeuge, die jetzt von Deutschland nach den USA verlegt werden, um dort zu helfen, den Luftraum zu überwachen, während die US-Army in Afghanistan beschäftigt ist. Als er seine Aufzeichnungen in Muttersprache vorliest – ich weiß zu diesem Zeitpunkt noch nicht, woher er stammt – lausche ich der Sprachmelodie gebannt und schwanke zwischen Portugiesisch und Polnisch, nichts ist mir verständlich, aber es klingt schön. Nun ist es die Aufgabe der Anderen in der Runde, seinen Beitrag einzuschätzen. Auch dafür gibt es ein Blatt. Zu aller erst geht es darum, zu prüfen, ob es ordentlich geschrieben ist. Die Papiere werden rumgereicht und der Junge erhält schließlich ein B in dieser Hinsicht, aber auch andere Kategorien werden eingeschätzt: ob man eine gute Vorstellung von dem Gegenstand erhielt und ob die Präsentation gelungen war. Da nicht klar ist, was ein AWACS-Flugzeug eigentlich macht, wird der Lehrer, der während dessen abseits sitzt und andere Arbeiten korrigiert, bemüht. Dann geht es weiter, die Prozedur ist bekannt, und man kommt unter der resoluten Leitung der groß gewachsenen Mexikanerin gut voran. Lediglich der Junge aus der Dominikanischen Republik, der hinter seiner Sonnenbrille etwas verborgen bleibt, macht immer wieder etwas Quatsch, was ihm zwar einige Zurechtweisungen einbringt, aber nicht dazu führt, dass er schlecht beurteilt wird. Das Mädchen aus Thailand liest noch vor, sie liest flüssig und erhält gute Beurteilungen. Ich muss nun leider schon weiter, die Sitzung dauert 70 Minuten und ich soll einen zweiten Unterricht besuchen. Der Lehrer erklärt mir noch, dass die Schüler alle schon negative Erfahrungen in anderen Schulen gemacht hätten. Sie wären dort wegen ihrer mangelhaften Sprachkenntnisse z.T. ausgelacht worden, hier sei es anders, weil sie alle in der gleichen Lage seien. Sie würden sich gegenseitig respektvoll begegnen.

Ich ziehe weiter zu einer Klasse, die Computerunterricht hat. Sie machen irgendein Literaturprojekt, aber was die Einzelnen tun, lässt sich nicht leicht beurteilen, wenn man über die Schulter schaut. Ich lasse mir die Web-Seite der Klasse zeigen. Anscheinend ist auch diese Schule gut organisiert, was Computer angeht. Dann hole ich mir selbst meine Mails ab – ich war schon eine Woche auf "Entzug". Anschließend spreche ich mit der Lehrerin Dina über die Portfolioarbeit.

Die Arbeiten, die in die Portfolios gelangen, gehen in der Regel aus dem hervor, was in der Schule gemacht wird. Dieses wird aber vertieft, ausgearbeitet und mehrfach verbessert, bevor es in das "Graduation Portfolio" gelangt. In der Regel stellen die Schüler ihre Arbeiten vor der Graduation in der Klasse zur Diskussion. Sie sollen lernen, eine Sache nicht nur zu erarbeiten, sondern auch zu präsentieren. Die Portfolios in ihrer schriftlichen Form enthalten oft kleine Berichte zur Erarbeitung von Produkten und eine längere Reflexion, mit der der Schüler sich vorstellt und seine schulische Entwicklung beschreibt. Ein Schüler, dessen Portfolio mir vorliegt, beschreibt darin ausführlich seine schwierige Entwicklung, seine Verwicklung in Kloppereien an der Schule und eine Wende, die eintrat, als er seinen Vater bei einer Vorladung bei dem Direktor weinen sah.

Die Portfolioprüfung wird, wie gesagt, nur zertifiziert. Früher hatte man noch mit Nachleistungen gearbeitet, dies aber wegen der entstehenden unklaren Ausbildungssituation fallen gelassen. Wer jetzt durchfällt, muss wiederholen. Dina berichtet mir, die Schüler seien motiviert, mit dem Portfolio zu arbeiten, es gehöre zu Schulkultur. Die enge Zusammenarbeit des Mentors mit dem Schüler sei zwar anstrengend und zeitaufwändig, aber ein vorwärtstreibendes Moment in der Ausbildung. Die Lehrer hätten bei der Einführung der Portfolios Bedenken gehabt, vor allem wegen der vielen Arbeit, aber auch, weil das, was sie in der Klasse machten, nun nach außen sichtbar wurde. Heute sei das aber kein Problem mehr, ein Vertrauensklima sei entstanden.

Ich bedanke mich schließlich bei meiner Gesprächspartnerin und suche mir den Weg durch die Flure ohne Tageslicht ins Freie. Draußen herrscht ein großes Gewimmel von Menschen und Autos, darüber rattert die S-Bahn und in der Ferne sind die Hochhäuser Manhattens zu sehen. Aus allen Himmelsrichtungen strömen Menschen hierher, warum auch immer.

Beeindruckt hat mich an den Schulen, die ich besucht habe, dass man es mit dieser Vielfalt aus Sprachen, Kulturen, Wünschen und Nöten versucht aufzunehmen und Strategien entwickelt, diese jungen Menschen in Amerika zusammenzuführen. Bevor ich nach NY flog, hatte ich in einem Zeitungsartikel von Jeremy Rifkin noch einmal die Inschrift der Freiheitsstatue gelesen: "Gebt mir eure Müden, eure Armen, eure bedrängten Massen, die sich sehnen, frei zu atmen, das elende Strandgut eurer übervölkerten Gestade. Schickt sie, die Heimatlosen, die Sturmverwehten zu mir, ich erhebe meine Lampe am goldenen Tor." Ich hatte gedacht, das stimmt doch längst nicht mehr, was dort steht. Welcher arme Mensch wird denn heute noch dort eingelassen? Aber wie es scheint, ist immer noch etwas dran, und für viele, die hier herkommen, hat die Fackel der Freiheitsstatue noch immer Leuchtkraft. Mag auch vieles weniger golden sein als behauptet, die Schulen, die ich besucht habe, waren nicht schlecht, sehr engagiert und von guten Konzepten getragen. Sie stellen freilich eine positive Auswahl dar, die meine Gastgeberin Kathe Jervis getroffen hat, aber immerhin es gibt diese Schulen und die Portfolioprüfungen und sie arbeiten mit Erfolg. Der ist nicht zuletzt daran abzulesen, dass die Dropout-Rate an den genannten Schulen – im Vergleich zum New Yorker Durchschnitt - halbiert wurde und die Zahl der Übergänger zum College um 50% höher liegt. Und das, obwohl der soziale Hintergrund der Schüler eher schlechter als besser ist. Ein Ergebnis, das uns angesichts der "Hausaufgaben", die uns aus den PISA-Studien erwachsen, sehr interessieren sollte. In Deutschland ist der Begriff Portfolio inzwischen zwar bekannt, aber die Möglichkeiten, welche dieses Instrument für eine Reform des Unterrichts und der Leistungsprüfung bietet, sind bei weitem noch nicht erkundet. (Siehe hierzu: Winter, F.: Ein Instrument mit vielen Möglichkeiten - Leistungsbewertung anhand von Portfolios. In: ders.; Groeben, A. v. d.; Lenzen, K.-D. (Hrsg.): Leistung sehen, fördern, werten – neue Wege für die Schule. Bad Heilbrunn 2002 )

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