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Autorin: Riegel, Enja.

Titel: Schule kann gelingen - ein Interview mit Enja Riegel

Quelle: 2004.






„Schule kann gelingen“



Ein Interview mit Enja Riegel, der ehemaligen Direktorin der Helene-Lange-Schule, die bei der Pisa-Studie als beste Schule in Deutschland abgeschnitten hat



Lesen, Mathematik, Naturwissenschaften – in sämtlichen Disziplinen haben die Schülerinnen und Schüler der Helene-Lange-Schule bei der Pisa-Studie 2001 andere Schulen in Deutschland geschlagen, um Längen. Sind die Schüler aus Wiesbaden einfach klüger als andere Schüler? „Natürlich nicht“, sagt die ehemalige Schulleiterin Enja Riegel. In ihrem Buch „Schule kann gelingen!“ beschreibt die 64-jährige Pädagogin, wie eine Schule aussehen kann, die „starke und selbstbewusste Individuen“ hervorbringt – ohne dabei an bildungsbürokratischen Hürden zu scheitern. Seit 2003 befindet sich die Autorin im kreativen Ruhestand. Mediaculture-online hat sich mit der von Ideen sprühenden Autorin unterhalten.





Frau Riegel, Sie waren fast zwei Jahrzehnte lang Schulleiterin an der Helene-Lange-Schule, die durch die Pisa-Studie berühmt wurde. Wer Ihr Buch liest merkt – diese Frau ist eine Lehrerin aus Leidenschaft. Warum haben Sie diesen mitunter sehr mühseligen Weg eingeschlagen?

Enja Riegel: Nach meinen ersten Jahren als Lehrerin, die ich an unterschiedlichen Schulen verbracht habe, wusste ich, dass ich auf keinen Fall in einer Art Lernfabrik unterrichten wollte. Lehrerin zu sein fand ich sehr faszinierend – die Institution Schule hat mir jedoch überhaupt nicht gefallen. Zwanzig Vokabeln am Tag pauken, ein paar Formeln auswendig lernen und ab und zu abgefragt werden – das sind, auch in den Augen der Jugendlichen, keine Herausforderungen. Wenn das alles ist, was Schule zu bieten hat, braucht sich niemand zu wundern, wenn Jugendliche der Schule überdrüssig werden. Mir war jedoch klar, dass ich als Lehrerin nur begrenzte Möglichkeiten habe grundlegendes zu verändern. Deshalb beschloss ich Anfang der 80er Jahre Schulleiterin zu werden und die Schule als Lebens- und Erfahrungsraum umzugestalten.



...und Sie rannten mit ihren reformpädagogischen Ideen beim Lehrerkollegium an der Helene-Lange-Schule offene Türen ein...



Riegel (lacht laut): Nein, ganz gewiss nicht. Das Kollegium, das vor meinem Kommen zum Teil schon zehn, zwölf Jahre auf herkömmliche Art und Weise unterrichtete, war anfangs aus verschiedenen Gründen alles andere als begeistert. An meinem ersten Tag als Schulleiterin empfingen sie mich in Trauerkleidung. Doch dann kam ganz unerwartet Hilfe von außen: Das Hessische Parlament verabschiedete ein Gesetz, wonach die fünfte und sechste Klasse als Förderstufe entweder der Grundschule oder einer Gesamtschule zugeschlagen würden. Weil wir sonst die fünfte und sechste Klasse verloren hätten, stimmte das Kollegium zu, die Helene-Lange-Schule von einem Gymnasium zu einer Gesamtschule umzukrempeln. Das bedeutete aber nicht einfach, dass schwächere und stärkere Schüler gemeinsam unterrichtet werden, sondern dass ein methodisch komplett veränderter Unterricht etabliert werden musste. Im vergangenen Jahr übrigens hat mich das teilweise noch aus den Anfangsjahren stammende Kollegium mit einem grandiosen, fünf Tage dauernden Fest in den Ruhestand verabschiedet.



Der Schulalltag in der Helene-Lange-Schule passt nicht in das übliche Unterrichtsschema, in dem eine Schulstunde noch immer 45-Minuten dauert und nur Fachlehrer vor der Klasse stehen. Fächerübergreifender Unterricht, viele Projekte, außerschulisches Lernen und ganz viel Theaterspielen - wird von Lehrern da nicht ein komplett neues Verständnis von ihrer Arbeit verlangt?



Riegel: Ja, der Kern der Veränderung an der Helene-Lange-Schule bestand in der Reform der Lehrerarbeit. Sie arbeiten nicht mehr als Einzelkämpfer hinter verschlossenen Türen, sondern im Team von acht bis zehn Lehrern, die für einen Jahrgang zuständig sind. Der Klassenlehrer unterrichtet 14 bis 18 Stunden in der Klasse, es gibt keine 45 Minuten-Stunden, höchstens Doppelstunden, längere Einheiten und fächerübergreifende Projekte innerhalb und außerhalb der Schule. Die Klassenlehrer lernen ihre Schüler wirklich kennen und müssen nicht wie an anderen Schulen, wo ein Lehrer mitunter 300 bis 400 Schüler in der Woche unterrichtet, Fotos auf Namenslisten kleben, um Schüler zuordnen zu können. Das verändert die Arbeitssituation radikal und es geschieht etwas sehr Erstaunliches: Lehrer unterrichten nicht mehr Fächer, sondern Schüler. Seit wir in der Helene-Lange-Schule anders arbeiten – und das heißt mehr Arbeit und längere Zeit in der Schule – hat sich der Krankheitsstand um die Hälfte halbiert. Die Lehrer in den Teams bekommen weit mehr Verantwortung übertragen, als das in Deutschland üblich ist. Mit dem Ergebnis: Wer mitbestimmen, gestalten und verändern kann, ist zufriedener. Außerdem bekommen die Lehrer von den Schülern ein tolles Feedback – all das macht auch Lehrer zu reiferen Personen.



Sie haben Lehrpläne über Bord geworfen und eigene Jahresarbeitspläne erstellt. Gab es da nicht Ärger mit der übergeordneten Schulbehörde?



Riegel: Die Lehrpläne haben wir nicht komplett über Bord geworfen, sondern genau hingeschaut und überlegt, was wir übernehmen können. Dann haben wir sehr begründet unsere Spielräume genommen. Gefragt haben wir allerdings nie, sondern einfach gemacht. In einer integrierten Gesamtschule beispielsweise muss man die Schüler in Leistungsniveaus A, B und C einteilen. Gemeinhin schließen Schulen daraus, dass die unterschiedlich eingeteilten Schüler in unterschiedlichen Räumen getrennt voneinander unterrichtet werden müssen. Wir aber haben beschlossen, sie gemeinsam zu unterrichten. Es ist unglaublich, aber das haben hier in Deutschland noch immer so wenige Leute begriffen: Man lernt erst wirklich, wenn man anderen etwas erklärt. Für die schwachen Schüler ist diese Einteilung noch folgenreicher als für die stärkeren Schüler – es ist eine mitunter sehr schmerzliche und verletzende Erfahrung, einer Nieten-Gruppe zugeordnet zu werden. Insgesamt sind wir bei unseren Veränderungen nach der Devise verfahren: Wir fragen den Schulrat in vielen Dingen, die wir anders machen wollen. Aber es gibt Dinge, da schonen wir ihn, denn die müsste er verbieten.



16-jährige Schüler werden zum Sozialpraktikum nach Görlitz, Neuntklässler werden beim Projekt „Sich in der Fremde bewähren“ zu viert oder sechst auf Reisen geschickt. Gehen bei so viel ‚die-Kinder-loslassen’ nicht auch die Eltern auf die Barrikaden?



Riegel: Nein, die Eltern haben sich für das Konzept der Schule entschieden und sie sind ausdrücklich erwünschte, wichtige und zuverlässige Partner der Schule. Projekte, die über den Unterrichtsalltag hinausgehen, könnten ohne Unterstützung der Eltern kaum realisiert werden. Eltern sind wichtige Verbündete. Ich glaube, um sie als solche zu gewinnen und um überhaupt ein solches Vorhaben wie die Reform der Helene-Lange-Schule durchzubringen, muss man eine richtig gute Utopie haben und wissen wo man hin will.



Ihre Utopien konnten Sie, trotz bildungspolitischer Betonwände, stets weiterentwickeln....



Riegel: Ja, aber neben utopischem Denken habe ich stets auch unternehmerisches Denken hoch gehalten und immer gesagt, ich leite ein Unternehmen. Ich habe mich selbst um neue Lehrer gekümmert und es nicht der Schulbehörde überlassen, sie mir zuzuweisen. Ich würde gerne noch weitergehen: Schulen müssen autonomer werden, über ein eigenes Budget verfügen, einstellen – und entlassen können. Unser Putzdienst, den Schüler erledigen, ist für viele Leute eine ungeheuerliche Einrichtung für eine Schule. Neben dem pädagogischen Wert dieser Arbeit kann das eingesparte Geld für andere Dinge verwendet werden. Meiner Ansicht nach tut es jeder Schule gut, auch wirtschaftlich zu denken anstatt immer nur darüber zu klagen, dass Land und Kommunen die notwendigen Mittel nicht zur Verfügung stellen.





Schule kann gelingen. Der Titel Ihres Buches legt nahe, dass man die Institution Schule stets verändern kann – wenn man nur will und sich nicht hinter den zahlreichen Vorschriften und Gesetzen verschanzt. Hängt vieles nicht auch von der Schulleitung ab?



Riegel: Sicherlich, die Schulleitung spielt eine zentrale Rolle, sie muss Verantwortung übernehmen, Mut machen und Freiräume schaffen. Wie oft im Leben, sind Personen, die Zusammensetzung des Teams und einiges mehr wichtig. Mein Buch ist nicht als Unterrichts-Vorbereitungs-Buch gedacht - ich will es als Mut-Mach-Buch verstanden wissen. Ein Buch, in dem nicht herumgejammert wird, wie schrecklich Schule ist und wie ausgepowert alle sind, sondern ein Buch das zeigt: Schule kann gelingen, Schule kann gut sein. Schule ist ein Ort, in den Lehrer und Schüler gerne gehen und dabei auch noch hervorragende Leistungen erbringen.



Sie haben ja nun schon hervorragende Leistungen erbracht. Dennoch ist es fast unvorstellbar, dass Sie sich zur Ruhe setzen...



Riegel (lacht abermals herzlich auf): Stimmt, ich plane derzeit gemeinsam mit einem in Deutschland lebenden Chirurgen in Afghanistan eine Schule zu gründen, das auswärtige Amt ist auch mit von der Partie. Und in Wiesbaden arbeite ich zusammen mit Kollegen an einem größer angelegten Projekt: Ein Waldkindergarten, eine Montessori-Grundschule, eine weiterführende Schule und eine Akademie für Lehrerfortbildung sollen entstehen. Dies muss allerdings zunächst privat finanziert werde, weil das Land Hessen Schulen in freier Trägerschaft erst nach 3 Jahren unterstützt.





Die Fragen stellte Brigitte Ströbele





Enja Riegel: Schule kann gelingen! Wie unsere Kinder wirklich fürs Leben lernen; Fischer-Verlag, Frankfurt 2004; 255 Seiten, 17,90 Euro



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