Kurze Beschreibung der Methode
Primäre und sekundäre Quellen
Theoretische und praktische Begründung
Darstellung der Methode
Beispiele
Reflexion der Methode
Praxiserfahrungen

5. Beispiele

>> 5.1 Beispiel aus der therapeutischen Praxis
>> 5.2 Beispiel aus der sozialpädagogischen Arbeit
>> 5.3 Beispiel für den Schulunterricht


Im Folgenden werden Beispiele für die Vielfalt der Anwendungsmöglichkeiten der Methode des Zirkulären Fragens gegeben. Gleichzeitig soll die vorausgegangene Theorie anschaulicher und verständlicher werden. Ausgehend von einem Beispiel aus der therapeutischen Praxis folgen Beispiele für Versuche des Einsatzes von Zirkulärem Fragen in der sozialpädagogischen Arbeit und im Schulunterricht.
Da die Methode durch ihren systemischen Charakter zunächst auf der Beziehungsebene ansetzt, gestaltet sich die Übertragung auf den Schulunterricht und somit auf die Inhaltsebene etwas schwieriger. Der Einsatz der Methode im Schulunterricht wurde noch nicht evaluiert, aber erste Erfahrungen zeigen, dass sich abhängig vom Kontext die Methode sehr gut einsetzen lässt. Dabei muss allerdings immer ein konzentriertes Zuhören aller Beteiligten erreicht werden.

 

5.1 Beispiel aus der therapeutischen Praxis

Dieses Beispiel aus der therapeutischen Praxis ist Fritz B. Simons Lernbuch „Zirkuläres Fragen“ (2001, 63-66) entnommen. Es handelt sich um einen Auszug aus einer Therapiesitzung. Den weiteren Verlauf der Sitzung und/oder ähnliche Beispiele aus der therapeutischen Praxis können bei Simon nachgelesen werden. Die Dialoge zwischen den Therapeuten und den Patienten sind mit Kommentaren Simons angereichert. Die Vorgehensweise des Therapeuten wird dadurch verständlicher.
Die Familie besteht aus Herrn Gerlach, 48 Jahre alt, von Beruf Postbeamter, Frau Gerlach (M), Hausfrau, 44 Jahre alt, der Tochter Monika (MO), Schülerin, 15 Jahre alt, und dem  12-jährigen Heinz, der ebenfalls noch zur Schule geht.
Die Symptomatik wird folgendermaßen geschildert: „ ... Monika habe begonnen, sich vor dem Urinieren zu ekeln, habe sich nicht mehr auf die Klobrille gesetzt, habe den Urin solange angehalten, bis sie eingenässt habe, und habe dann auch einige Zeit nachts eingenässt. Die Enuresis sei dann nach einigen Familiengesprächen in einer Beratungsstelle am Ort abgeklungen. Monika habe jedoch begonnen, sich zunehmend oft die Hände zu waschen, den Körper zu vernachlässigen, und habe auch sehr ‚verrückte‘ Verhaltensweisen gezeigt, wie z.B. Essbesteck und verschmutzte Unterwäsche im Bücherschrank des Vaters zu verstecken. Insbesondere dann, wenn der Vater die Türklinke oder den Wasserhahn berührt habe, öffne sie diesen mit dem Schuh. Daneben besteht ein Untergewicht aus unklarer Ursache, zuletzt ca. 47 kg bei einer Größe von 170 cm. Erst bei genauer Anamnese wird deutlich, dass Monika häufig auch relativ wenig esse. Ansonsten sei Monika zwar kein unkompliziertes, jedoch ein erfolgreiches Mädchen in der Schule ...“
Zum Erstinterview erscheinen nur die Eltern mit Monika, der Bruder ist zu Hause geblieben. Die Therapeuten sind Helm Stierlin (HS) und Fritz Simon (FS).
Im Verlauf des Gesprächs zeigt sich, dass es innerhalb der Familie zu häufigen Auseinandersetzungen kommt, an denen Monika immer beteiligt zu sein scheint. Die Anteile sind aber ungleich verteilt: Streit zwischen der Mutter und Monika (70%), dem Vater und Monika (30%). Der typische Ablauf solcher Streitigkeiten wird folgendermaßen geschildert:
Monika reize die Mutter durch ihr „unmögliches“ Verhalten, die Mutter rufe dann den Vater herbei und fordere ihn auf, ein Machtwort zu sprechen. Der Vater schimpfe, woraufhin Monika in ihr Zimmer gehe und die Eltern allein zurückblieben. Beide bekämen dann körperliche Beschwerden. Die Mutter sehe Monika als Siegerin.
Im Gespräch scheint deutlich, dass beide Eltern sehr wütend auf Monika sind. Den Vater ärgert vor allem die hohe Wasserrechnung, weil Monika manchmal stundenlang dusche. Beide Eltern betonen ihre eigene körperliche Verletzlichkeit. Über die anderen im Arztbrief erwähnten Symptome wird nur am Rande kurz gesprochen. Auf die Frage, was ihrer Meinung nach in der Familie geschehen würde, falls sie ihr gegenwärtiges auffälliges Verhalten aufgebe, antwortet Monika, dass sich dann die Mutter mehr um sich selbst kümmern und ihre eigenen Wege gehen würde. Sie glaube, dass dann die Wahrscheinlichkeit einer Trennung der Eltern größer werde. Der folgende Ausschnitt stammt aus der zweiten Sitzung. Anwesend ist die ganze Familie, d.h. Mutter, Vater, Monika und Heinz. Thema ist die Beziehung der Eltern. Wenn es zu Meinungsverschiedenheiten der Eltern kommt, zeigt der Vater häufig, dass es ihm körperlich schlecht geht. Er hat Herzbeschwerden, die sich mit einer grüblerischen Traurigkeit abwechseln. (...)
FS: „Monika, was würdest du denn sagen, wann geht es denn der Mutter besser, wenn der Vater sich niedergeschlagen zeigt, oder wenn er losbrüllt?“
K: Die Tochter wird gefragt, um Beobachtungen aus der Außenperspektive über die Beziehung der Eltern zu erhalten. Das hat mindestens zwei Vorteile: Zum einen erhalten die beiden, über deren Beziehung gesprochen wird, eine sehr direkte Rückmeldung darüber, wie ihr Verhalten von außen, hier speziell von der Tochter, gesehen wird. Zum zweiten wird dadurch verhindert, in die logische Falle zu tappen, selbstbezügliche, das Muster verstärkende Schleifen zu erzeugen. Fragt man nämlich einen der an einer Beziehung Beteiligten in Anwesenheit seines Kommunikationspartners über das gemeinsame Kommunikationsmuster, so ist die Antwort auch ein Teil dieses Kommunikationsmusters, über das man etwas erfahren will. Denn auch die Versuche der Metakommunikation eines Paares sind Elemente ihres die Beziehung charakterisierenden Kommunikationsmusters.

(langes Schweigen)
MO: „Ist eigentlich egal.“
FS: „Das beeinflusst einen ja doch, wie es dem Partner geht. Das lässt einen ja nicht kalt.“
MO: „Wenn er mehr schimpft.“
FS: „Wenn er mehr schimpft, dann geht es ihr besser? Nehmen wir mal an, er ist niedergeschlagen und schimpft nicht, was würde dann die Mutter tun? Wie würde es ihr gehen? Würde sie dann auch niedergeschlagen werden? Würde sie eher auf ihn zugehen oder von ihm weggehen?“
MO: „Weg.“
FS: „Eher weggehen!“

K: Die Fragen zielen auf die tatsächlichen Reaktionen der Mutter auf das Verhalten des Vaters. Sehr häufig gibt es einen großen Unterschied zwischen der erhofften und tatsächlichen Reaktion des Partners. Aus dem Erstinterview war bekannt, dass beide Eltern versuchen, sich und die Kinder dadurch zu beeinflussen, dass sie demonstrieren, wie schlecht es ihnen körperlich geht. Dies ist ein weit verbreiteter Kontrollversuch, der zu sehr destruktiven Eskalationen mit den erstaunlichsten körperlichen Symptombildungen führen kann. Die dahinter liegende individuelle Logik ist leicht einzusehen: Wer den anderen als schuldig an dem Elend erlebt, das er selbst erleidet, verhält sich nur konsequent, wenn er für sein Weltbild wirbt und versucht, dem anderen Schuldgefühle zu machen. Allerdings zeigt die Betrachtung aus der Außenperspektive, dass solch eine Strategie häufig als Erpressungs­versuch erlebt wird, dem mit Widerstand und Trotz begegnet wird.

FS (zu Frau Gerlach): „Ich möchte noch einmal vollkommen vom Thema abweichen und wieder auf etwas zurückkommen, wo wir schon waren. Nehmen wir an, Ihr Mann wollte verhindern, dass Monika ihre Kräfte aktiviert, sich ablöst, wie er gesagt hat, und nach draußen geht. Wie müsste er das anstellen? Was müsste er machen, damit sie sagt: „Ich bleib doch lieber hier!“ Sie ist ja sehr pflichtbewusst.“
M: „Was er dafür tun soll, damit sie zu Hause bleibt?“
FS: „Ob er das soll, ist eine andere Frage. Aber, nehmen wir mal an, ganz hypothetisch, er wollte, dass sie auf jeden Fall dableibt. Was müsste er tun? Was könnte er tun?

K: Die hypothetische Unterstellung einer Absicht im Gedankenexperiment sorgt für eine Umkehrung der Zuschreibung von Ursache und Wirkung. Im Idealfall eröffnet sie den Blick auf Einflussmöglichkeiten jedes Einzelnen. Wo die betrachtete Wirkung negativ bewertet wird, wird deutlich, welche Aktionen besser unterlassen werden sollten, wenn man nicht dazu beitragen will, dass genau das passiert, was man eigentlich nicht möchte (wieder „die positive Kraft des negativen Denkens“).

M: „Das wüsste ich schon: einsperren! Das heißt, dass sie überhaupt keinen Hobbies nachgehen kann.“
HS: „Sich selbst einsperren?“
M: „Nein, dass die Monika nichts mehr machen dürfte: Tanzkurs kommt nicht in Frage, ist noch zu früh.“
FS: „Würde das bei Monika eher Wünsche aktivieren: „Nein, ich will aber in den Tanzkurs!““ Oder würde das bei ihr eher dazu führen, dass sie sagt, „Ich bleib zu Hause!““
M: „Nein, ich würde sagen, im Moment würde sie sich wehren.“
FS: „Also wäre das wahrscheinlich keine so schlaue Möglichkeit ...“
M: „Auf keinen Fall!“
FS: „Aber, was müsste er tun, wenn er wollte, dass sie nicht geht...dass sie nicht ihren Interessen nachgeht?“
HS: „Da sie ja sehr sensibel eingestimmt ist, was beide Eltern so im Grunde empfinden.“
FS: „Also müsste er sie eher einsperren oder bei ihrem Pflichtbewusstsein packen? Wie könnte er es am besten anstellen? Das ist ja jetzt auch eher Spinnerei, geb ich ja zu, aber...“
M: „Ja, also wenn man´s brutal sagen würde, könnte er sagen: Hör mal, wenn du jetzt mit so Sachen anfängst, mach lieber deine Arbeit, mach so Sachen nicht! Das macht mich noch mehr kaputt, so vielleicht auf diese Art. dass er sich selbst als Opfer sieht.“
FS: „Wenn er sich niedergeschlagen zeigt, wäre das eine Möglichkeit, zum Beispiel?“
M: „Ja, wenn das der Grund wäre, schon.“
HS: „Noch ein bisschen niedergeschlagener als jetzt, zum Beispiel? Entschuldigen Sie, wenn ich das so sage!“
M: „Na ja, klar, ich meine vielleicht als Druckmittel, eventuell.“
HS: „Also, wenn er sich jetzt noch ein bisschen mehr niedergeschlagen zeigen würde, würde das dann ausreichen, um die Monika zu veranlassen zu sagen: „Nee, zum Tanzkurs geh ich nicht, also jetzt bleib ich lieber bei ihm ...?“
M: „Könnte möglich sein.“ (Pause, denkt offenbar nach) „Ob sie darauf reagiert? Könnte sein...(zögerlich) könnte sein...“[...]

 

5.2 Beispiel aus der sozialpädagogischen Arbeit

Das folgende Gesprächsbeispiel entstammt einem Beratungsgespräch aus dem Autonomen Mädchenhaus Berlin. Dabei handelt es sich um eine vorübergehende, anonyme Zufluchts- und Kriseneinrichtung für Mädchen und junge Frauen im Alter von 14 – 21 Jahren. Im Rahmen der Jugendhilfe bietet die Einrichtung 10 Unterbringungsplätze an, die über ein Krisentelefon vermittelt werden. Das Beratungsangebot ist niedrigschwellig. Der Beratungs­prozess bei aktuellen Konflikten wird hier meistens auch unter Anwendung des Zirkulären Fragens durchgeführt. Ein Beispiel hierzu ist das folgende Gespräch, entnommen aus dem Sozialmagazin, 28. Jg. 3/ 2003, an dem das Mädchen Gülnar, eine Beraterin sowie Gülnars Lehrerin teilnehmen. Dabei handelt es sich um ein Erstgespräch, bei dem zunächst der Beratungsauftrag geklärt werden soll. Die Fragestellung ist hier immer triadisch.

Gesprächsbeispiel:
Beraterin: „Was meinst du, warum deine Lehrerin dir unsere Telefonnummer gegeben hat?“ Gülnar: „Sie sagte, ihr könnt mir helfen.“
Beraterin: „Was denkst du, warum du ihrer Meinung nach Hilfe brauchst?“
Gülnar: „Damit ich in der Schule besser werde.“
Beraterin: „Was glaubt sie, soll sich ändern damit du besser wirst in der Schule?“
Gülnar: „Wenn es mir gut geht, dann wird es auch besser da.
Beraterin (zur Lehrerin): Woran erkennen Sie, dass es Gülnar besser geht?“
Lehrerin: „Wenn sie nicht müde ist, kann sie sich konzentrieren.“
Beraterin (zu Gülnar): Was denkt deine Lehrerin, ist der Grund für deine Müdigkeit?“
Gülnar: „Sie denkt, ich muss zu Hause viel helfen.“
Beraterin: „Was müssen wir ihrer Meinung nach tun, damit du weniger Verantwortung zu Hause trägst?“
Lehrerin: „Wir haben mit ihren Eltern darüber gesprochen, dass ...“
Beraterin (zu Gülnar): „Was soll deiner Meinung nach geschehen?“
Gülnar: „Wenn ich in einer WG Platz bekomme ...“
Beraterin: „Was können wir tun, damit es dir besser geht?“
Gülnar: „Ihr könnt für mich eine WG finden.“
Beraterin: „Was wird in der WG anders sein als bisher?“
(Frage zur Möglichkeitskonstruktion)

Gülnar: „Da sind Leute, die mir zuhören und für mich da sind.“


5.3 Beispiel für den Schulunterricht

Im Rahmen des Ethikunterrichts soll das Thema Euthanasie bearbeitet werden. Zunächst werden die Schüler in die Thematik eingeführt. Im nächsten Schritt entscheiden sich die Schüler für die Rolle einer am Kontext beteiligten Gruppe. Dies können Patienten, Ärzte, Angehörige, Vertreter verschiedener Religionen, Vertreter der Justiz, Philosophen, Krankenkassen, Krankenhauspersonal, Vertreter jüngerer und älterer Generationen, der Pharmaindustrie, Vertreter der medizinischen Forschung usw. sein. Zudem eignen sich die Schüler anhand verschiedener Methoden, wie z.B. Gruppen-Experten-Rallye, Gruppenarbeit u.a. ein Basiswissen zu der von ihnen gewählten Gruppe an und präsentieren ihre Ergebnisse dem Plenum. Die Präsentation kann methodisch auf vielfältige Weise umgesetzt werden, z.B. in Form einer Stellwand, Wandzeitung, Power-Point-Präsentation usw.
Hat nun jeder einen Überblick über die Sichtweisen der verschiedenen Gruppierungen erhalten, so können mit Hilfe des Zirkulären Fragens die Vernetzung der einzelnen Beteiligten miteinander und soziale Wechselwirkungen untereinander offengelegt werden.
Im Rollenspiel wird nun eine Diskussion eröffnet, in der die Schüler stellvertretend für ihre Gruppe befragt werden. Dabei zielen die Fragen aber entsprechend dem triadischen Grundgedanken auf die Perspektive einer anderen Gruppe ab.

„Du als Patient, wie würdest Du eine mögliche Entscheidung deiner Angehörigen für die Sterbehilfe beurteilen?“ (triadische Frage)
„Du als Angehöriger, was denkst du, empfindet ein Arzt, wenn er Sterbehilfe leistet?“ (triadische Frage)
„Du als Arzt, zu wie viel Prozent würdest du der Vermutung des Angehörigen zustimmen?“ (Prozentfrage)
„Was glaubst Du, als Vertreter der medizinischen Forschung, wie die einzelnen Vertreter der Religionen deine Arbeit bewerten?“ (triadische Frage)
„Du als Patient, würdest du der These zustimmen, dass sich die medizinische Forschung mit der Pharmaindustrie solidarisiert hat?“(Subsystemvergleich)
„Was glaubst du als Patient, wer das meiste Interesse an einer Legalisierung der Sterbehilfe hätte? Wer am wenigsten?“ (Klassifikationsfrage)
„Was hat sich für wen verändert, als die Sterbehilfe für Patient X zur Diskussion stand?“ (Wirklichkeitskonstruktion)
„Nehmen wir an, über Nacht wäre Euthanasie in Deutschland legalisiert worden. Was würde sich für alle Beteiligten verändern?“ (Wunderfrage)

Die Methode des Zirkulären Fragens geht, wie aus diesen Beispielen ersichtlich wird, über eine reine Reproduktion des Erlernten hinaus, hin zur Vernetzung des Erlernten, der Fähigkeit des Perspektivenwechsels und der kritischen Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex.