Kersten Reich: Die Ordnung der Blicke. Band 1: Kapitel 2

   

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II. Kränkungsbewegungen der Vernunft und Unschärfen der Erkenntnis in der Beobachtungswirklichkeit

Die Welt ist voller Beobachtungsvorräte. Die Modi der Beobachtung führten den Menschen zu Konstruktionen von Wirklichkeit, in denen er je nach seinem Zeitalter, je nach den spezifischen Variationen der (Re-)Produktionsaufgaben dieses Zeitalters, sich diese Vorräte erschließen oder eigene anlegen konnte. Es gehörte hierbei zu den Erfahrungen der Menschheit, dass sie die Konstruktionen beobachtend entwickelter Mitteilungen selbst, die Suche nach „wahrer“ Erkenntnis oder einem richtigen und sicheren Wissen meist weniger im Menschen als Konstrukteur zu suchen wagte. So wurde mittels Analogien und Projektionen aus der Natur hergeleitet, was die Menschen sich erfanden und als gerechtfertigt im Wechsel der Zeitalter und im Nach- und Nebeneinander der Ansprüche und Interessen behaupteten, so wurden außerhalb des Bewusstseins gedachte Geister- und Dämonenwelten bemüht und schließlich elitäre Götter oder absolute Ideen herangezogen, um die Erfahrungen mit solchen Konstruktionen als bereits vorausgesetzt von außen wirkende „Wahrheit“ zu legitimieren. Es war ein langer Weg der Selbstbewusstwerdung, dass sich der Mensch mit dem Fortschreiten seiner Erkenntnisse, seiner Konstruktionen von Wirklichkeit, über Wirklichkeit und in der Wirklichkeit sicherer darüber werden konnte, dass er selbst Urheber seiner Gedanken und ihrer Rückkehr in ideeller und materieller Gestalt, besonders in der Form von Religion und Kultur, ist. Solche bewusstseinsmäßige Autonomie gegenüber traditionell von Menschen errichteten Gedankengebäuden, die als Außenwelt auf die Innenwelt kausal projiziert wurden, konnte dann zum typisch aufgeklärten Bild der bürgerlichen Moderne werden und findet einen Höhepunkt in der Vorstellung von Konstruktivisten, die die subjektive Verantwortung des Menschen in der Selbstkonstruktion seiner Weltbilder und Welten betonen. Gleichwohl zerfällt damit nicht alles in Subjektivismus, da die Konstruktionen von Menschen unter der Perspektive der Zeit und in materiell geronnenen Prozessen geschehen, und was dem einen als Konstruktion erscheint, das wird für den anderen zur Rekonstruktion – oder auch zur Dekonstruktion.1 Wenn ich diesen Vorgang hier beschreibe, so geschieht dies aus einer beobachtenden Position, die gleichsam so tut, als hätte sie den Überblick über diesen Vorgang bis ins Detail. Der im Vorgang selbst befangene Konstrukteur beobachtet sich ebenso. Beobachtung zwischen den Polen des Selbst und des Fremden wird damit zu einer Verständigungsweise sowohl über die Position (Ort, Raum) des Beobachtenden als auch die Zeit (und all ihren sozialen Ausformungen des Zeitgeistes) gegenüber dem jeweils Beobachteten. Daher scheint es sinnvoll zu sein, eine Beobachtertheorie zum Zentrum einer Reflexion über Erkenntnistheorie zu machen. Dies ist der Ausgangspunkt einer konstruktivistischen Sicht, wie sie hier vertreten werden soll. Diese Idee ist implizit allerdings auch vielfältig schon in philosophischen Bemühungen um Erkenntnis enthalten. In der abendländischen Tradition ist die erkenntnismäßige Spaltung von Subjekt und Objekt letztlich nichts anderes als der seit der Antike währende und Philosophie genannte Versuch, Beobachtungspositionen auszumachen und in der Wechselwirkung zwischen Ich und Außenwelt, Person und Gegenstand, (Selbst-)Bewusstsein und Natur, (Ur-)Bild und Abbild, und wie auch immer dieser Gegensatz abstrahiert und konkretisiert wurde, zu beschreiben, zu erklären, zu vermitteln.
Aus der Sicht solcher wissenschaftlicher Konstruktionen war der Beobachter dabei zunächst oft so situiert, dass er als Mensch in seinem Verhältnis zu Gott in tiefer Befangenheit stand, ein eher passiver, kontemplativer Betrachter all der erstaunlichen Dinge war, die ihn umgaben und die geschahen. Bereits in der Antike und besonders mit der Heraufkunft des bürgerlichen Zeitalters wurde seine Rolle als aktiv gesehen, bis hin zu dem Zeitpunkt, wo auch das naturwissenschaftliche Experiment den kontrollierten Beobachtungsversuch als Beteiligung des Subjekts an den Größen des Experiments selbst nachweisen konnte. „In unserem Jahrhundert wurde die zwangsweise aktive Rolle des Beobachters beim Erkenntnisprozess eindrücklich in der Quantenphysik (Heisenbergs Unschärferelation) nachgewiesen. Bei der Bestimmung des Impulses und der Lage (des Ortes) eines Atoms führt die Beobachtung zwangsläufig zu einer Störung, die eine ‚Unschärfe‘ zur Folge hat, so dass wir entweder nur den Impuls oder nur die momentane Lage des Atoms feststellen können. Damit wird der Erkenntnisprozess endgültig zum aktiven, den Gegenstand der Erkenntnis beeinflussenden Prozess.“ (Fischer 1991 b, 15) Es bleibt die Frage, ob dies nicht bereits bei jeder Beobachtung der Fall ist und nicht nur in diesem Sonderfall eines Experiments, das die Unschärfe selbst hat offensichtlich werden lassen. Die Folgen sind für den Beobachter jedenfalls weitreichend: Alle Unterscheidungen von innen und außen, von Bewusstsein und Natur, von Subjekt und Objekt erweisen sich als problematisch und unhaltbar, wenn durch sie eine Trennung und monokausale Bestimmung des einen durch das andere bezweckt sein sollte, denn als Konstrukte eines Beobachters sind sie in Bezug auf ihre „reine“ Dingheit, ihre Eindeutigkeit als „tatsächlicher“ Gegenstand oder absolute Wahrheit im Sinne eines Ur-Bilds oder anderen Ur-Zeichens nicht mehr sinnvoll wissenschaftlich konstruierbar.2
Damit aber stehen wir nun vor einer alten erkenntnistheoretischen Schwierigkeit: Ein Bereich des Beobachteten und ein Beobachter stehen sich gegenüber, indem zwar der Beobachter das Beobachtete „irgendwie“ in sich konstruiert und integriert weiß, aber gleichwohl erkennen muss, dass es keine Identität gibt. Es wäre nur solipsistisch zu behaupten, dass alles eben eine Vorstellung ureigenster Einbildung sei, dass es kurzum gar keine Wirklichkeit als die je eigene gäbe. Dies wäre für das Dilemma der Unschärfe der Beobachtungen, die durch die Annahme subjektiver Konstruktion notwendig entsteht, der eleganteste Weg, aber zugleich auch einer, der im Nichtssagenden endet. Denn Beobachtung hat sich gerade in ihrer Erweiterung der aktiven Rolle, die für die Neuzeit typisch ist, kompliziert und existiert in mannigfaltigen, widersprüchlichen bzw. kontro­versen Entwürfen von impliziten oder expliziten Beobachtungstheorien, die mit unterschiedlichen Interessen von Subjekten oder Gruppen von Subjekten um Anerken­nung gegenüber anderen streiten. Einige allerdings sind im Streit dominant, sind vorübergehende Siegertheorien, die mehr oder minder bestimmend auf das alltägliche Leben von Menschen Einfluss nehmen. Viele von ihnen haben sich durch Technik und materielle Umsetzung längst als eigene Wirklichkeit etabliert. Ihre Wahrheit ist ihr Vorhandensein, auch wenn dies mancher erhofften Wahrheit von anderen Denkern widersprechen mag.3
Eine solche Manifestation nennen wir in der Regel „Wirklichkeit“. Einem Beobachter erscheint sie als Beobachtungswirklichkeit. Einem Wissenschaftler wird sie zu einer objektiven Wirklichkeit, soweit seine Beobachtung nach Eindeutigkeit eines „wahren“ oder zumindest wahrscheinlichen Wissens drängt.
Intuitiv unterscheiden Menschen der Gegenwart hingegen sehr deutlich den Grad zumutbarer Objektivation ihrer Beobachtungen. Es hat eine Segmentierung, Partikulari­sierung, Diagnostik usw. von Beobachtungsdaten gerade in wissenschaftlichen Anwendungen gegeben, die nur in der Konstruktion ihrer Anwendung gelten. Kein Laborant kann aus den Diagnosedaten der Substanzen, die er analysiert, Ableitungen für ein zufriedenes Leben oder eine glückliche Welt ziehen, kein Psychologe oder Pädago­ge kann mit seinem Wissen garantieren, seine Lebenskrisen in Beziehungen besser als andere zu meistern, kein Automechaniker Verkehrsprobleme der Moderne durch sein Wissen vom Auto bekämpfen. Beliebig lassen sich Beispiele für die Intuition finden, dass genaues, eindeutiges, möglichst objektives Wissen nicht auf alle Lebensbereiche übertragbar ist.
Was folgt daraus? Beobachter sind überall, aber Beobachtung teilt sich in unterschiedlichste Beobachterbereiche auf. Ich unterstelle deren drei:

  • Die Beobachtungswirklichkeit, in der – in welcher Form auch immer – nach „Wahrheit“ und damit Objektivität gesucht wird. Es ist eine Welt des Wissens und damit vorrangig der Wissenschaft und Technik, auf die wir oft als letzte und klarste Basis vertrauen. Solches Vertrauen stützt sich auf Beobachtungen, zu deren Wahrnehmung wir uns bewusst erziehen, indem wir Schulen besuchen, um uns in die Geheimnisse kausal sinnsuchender Blicke und in das Gehör und die Blickrichtungen der Moderne einführen zu lassen. Diese Beobachtung überzeugt die beobachtenden Menschen besonders dann, wenn sie auf gegenständliche Welten gerichtet ist, die funktionieren. Sie überredet uns auch dort, wo wir in den Medien heute immer mehr, immer schneller und oberflächlicher sehen, was andere auch sehen, was allen geboten wird, wobei die Hintergründe verblassen und unsere Weitsicht in dem Maße abnimmt, wie eine Vordergründigkeit des medial Gezeigten dominant wird. Heute wissen wir dann, wenn wir genauer hinter die Kulissen schauen, dass in der Beobachtungswirklichkeit nicht nur die vermeintlichen „Wahrheiten“ konstruiert werden, sondern auch die Illusionen der Moderne lauern. Dennoch können wir unsere Suche nach dem objektiv Beobachteten nicht aufgeben, wenn wir nicht in riskanter Beliebigkeit landen wollen. Riskant wird die Beliebigkeit dann, wenn sie genutzt wird, bestehende Sinn- und Sachzusammenhänge irrational aufzulösen. Der Kreationismus an amerikanischen Schulen ist hierfür ein Beispiel. Weil Darwins Evolutionstheorie nicht in das Schema bestimmter Christen und ihres Gottesbildes passt, soll  „Gott als Designer“ eingeführt und gelehrt werden. Dies verstößt gegen die Beobachtungswirklichkeit: Selbst wenn Darwins Theorie nicht abschließend die Evolution in Zukunft erklären würde, so erscheint sie als gegenwärtig viable wissenschaftliche Theorie. Wer sie heute aufgibt, ohne ihre Gründe zu widerlegen, der handelt im Sinne der Beobachtungswirklichkeit willkürlich. In diesem Fall sind die dahinterstehenden Interessen offensichtlich und offenbaren einen absurden Kampf des Glaubens gegen das Wissen.
  • Die Beziehungswirklichkeit ist demgegenüber eine offenere Beobachtungswelt. Es gibt keine Regeln und Anweisungen der Wissenschaft, die eindeutig aussagen können, wie wir in unseren Lebensformen sein können oder sollen. Wissenschaft selbst musste begreifen, dass objektive Aussagen und normative Geltung auseinander fallen. Alltag und Wissenschaft unterscheiden sich. Und auch das Beobachten unterscheidet sich, obwohl es in uns geschieht, die wir eben noch in der objektiven Beobachtungswirklichkeit standen und nun in subjektiver Vielfalt stehen.
  • Und – wir stehen nicht allein. Wir sind in einer Welt, wir produzieren auf einer Welt und verändern diese. Die Folgewirkungen, die erzeugte Komplexität, lässt sich nicht mehr allein durch herkömmliche wissenschaftliche Beobachtungswirklichkeit einfangen, weil sie mit der offeneren Beziehungswirklichkeit verknüpft und verwoben ist, so dass die Offenheit und unendliche Vielfalt selbst zu ihrem Thema wird. Die Lebenswelt vermittelt zirkulär die Beobachtungs- und Beziehungs­wirklichkeiten.

Die Blicke erweitern sich, sie zirkulieren in diesen drei Beobachterwelten. Eine Lösung unserer momentanen Verunsicherung, die uns in unseren Beziehungen in der Welt und der Produktion in dieser entstanden ist, wäre es, wenn wir in die Wahrheit der einen Objektivität zurückfinden könnten. Aber wie weit müssten wir zurückgehen, damit wir in einem Glauben landen, aus dem heraus alles Widersprüchliche und Krisenhafte besiegbar wäre? Wir müssten unser erreichtes diverses Wissen aufgeben. Oder wir müssten es vereinseitigen und in jene Wissenschaft zurückkehren, die ein letztes Wissen bewahrt. Doch diese Lösungen sind durch die Wissenschaft und ihre Entwicklung selbst verstellt. Es sind in ihr Kränkungsbewegungen zu erkennen, die uns verstehen lassen, warum wir anders zu schauen gelernt haben oder lernen müssen.
Von diesen Kränkungsbewegungen handelt dieses zweite Kapitel. Es lässt verschiedene Autoren und Argumente auftreten, die nicht chronologisch – nach der Geschichte ihrer Entstehung –, sondern in einer Gedankenführung geordnet sind, die Voraussetzungen meiner Beobachter-, Akteurs- und Teilnehmertheorie absteckt und aus dem Gedanken heraus Grundlagen eines interaktionistischen Konstruktivismus erkennbar werden lässt. So wird argumentativ das Tor in eine Bestimmung der Beziehungswirklichkeit (Band 2, Kapitel III.) und Lebenswelt (Band 2, Kapitel IV.) geöffnet, um dabei z.B. auf folgende Fragen dieser Wirklichkeiten zu kommen: Kann Wissenschaft sich von Beziehungen ausschließen oder zumindest abkoppeln, oder ist sie in solche immer eingebunden? Ist die Welt- und Produktionswirklichkeit bestimmend für Wissenschaft und Beziehungen oder durch diese bestimmt? Lösen wir Erkenntnisprobleme besser, indem wir sie nach Wirklichkeiten aufteilen, um uns eine Schärfe zu sichern, die im Dickicht der Beziehungen zu unklar und in der Welt und Produktion zu komplex wird? Welche Rolle spielen hierbei Konstruktionen im Blick auf die Sicherung von Wahrheiten gegenüber Beliebigkeiten, auf das Erfinden gegenüber dem Entdecken, auf das Bewahren gegenüber dem Verstören?
Dies sind nur einige Fragen, die im Gang der Argumentation aufkommen werden. Sie scheinen in den wissenschaftlichen Kränkungsbewegungen zunächst auf die ohnehin schon ausschließenden Begrenzungen der Wissenschaft eingeengt. Denn es hat vor allem im 20. Jahrhundert innerhalb der Entwicklung empirischer Gütekriterien wissenschaftlich einen Streit darüber gegeben, wie eindeutig, d.h. wie scharf im Blick auf die Beobachtungen, Erkenntnis begründet werden müsse. Dabei ist auffällig, dass Theorie und Praxis solcher Diskussionen sehr stark auseinander driften. So mochte es zwar theoretisch wünschenswert sein, dass jede subjektive Konstruktion so lange als gültig angesehen werden kann, wie sie nicht widerlegt wird. Die Praxis jedoch folgt angesichts ihrer Vereinfachungstendenzen und dem ständigen finanziellen Druck des Kapitalismus auf die Forschung fast ausschließlich dem Weg der bloßen Verifizierung innerhalb sehr enger Grenzen. Eine Dominanz der Wie-Erklärung gegenüber vernetzten Was-Bedeutungen und möglichen komplexen Folgewirkungen ist durchweg als Grenzbedingung erkennbar. Dabei variieren diese Grenzen sehr stark nach dem Forschungsgebiet und den einsetzbaren Kontrollmechanismen. Je weiter wir uns aus dem Labor und seinen experimentellen Anordnungen jenen Konstruktionen von Wirklichkeit nähern, die im direkten Zusammenleben der Menschen eine Rolle spielen, desto unschärfer werden die Beobachtungen. Damit wird oft eine Entwertung solcher Beobachtungshaltungen gleichgesetzt, deshalb unterscheiden wir die hard von den soft sciences, wobei letztere nicht mehr gleichauf wissenschaftlich zu sein scheinen. Es gibt unter diesem Druck einer Suche nach Eindeutigkeit im Sinne eines technischen Erkenntnisinteresses eine Tendenz im 20. Jahrhundert, alle Beobachtungen nach dem Muster technischer Eindeutigkeiten konstruieren zu wollen, weil sie den sichersten Erfolg zu garantieren scheinen. In diesen Sog ist auch der Konstruktivismus geraten, da er bzw. insofern er aus dem kybernetischen Denken sich inspiriert sieht. Gleichwohl konnten gerade konstruktivistisch orientierte Autoren zeigen, dass solch inhaltlich enge Bestimmungen kaum auf Fragen des Alltags und menschlicher Kommunikation anzuwenden sind.4 Andererseits hat der Konstruktivismus dies noch nicht mit einer erkenntnistheoretischen Studie über die Konstruktion von Unschärfe und damit verbundene Problemstellungen verbunden.
Es muss, so bleibt meine Folgerung nach dieser kurzen Skizze, eine wesentliche Aufgabe einer konstruktivistischen Theorie sein, zunächst einmal ihre Beobachtertheorie zu fixieren und dabei ihre Unschärfe genauer zu bestimmen. Hier zeigt sich meines Erachtens bei näherem Hinsehen, dass dem gegenwärtigen Konstruktivismus eine ausgewiesene Beobachtertheorie noch fehlt.5 Dieses Fehlen bildet den Ausgangspunkt der folgenden Argumentationen, in denen es um die Möglichkeit der Konstruktion einer solchen Theorie geht. Wie kann eine solche Beobachtertheorie entwickelt werden? Was ist an wissenschaftlichen Beobachtungen und mit ihnen verbundener Schlussfolgerungen wesentlich? Beobachtungsleistungen sollen aus wissenschaftlicher Sicht in komplexer Weise zwischen einem Subjekt und anderen Subjekten im strukturellen Kontext von Gesellschaft und Entwicklung vermitteln. Ein wissenschaftliches Subjekt stellt es sich immer wieder zur Aufgabe, sich Klarheit über die Treffsicherheit, die Richtigkeit, den Wahrheits- oder Wahrscheinlichkeitscharakter seiner eigenen Beobachtungen in seinen jeweiligen Beobachterbereichen zu verschaffen. Je unschärfer die hieraus resultierende Ableitbarkeit von klaren, eindeutigen, logischen, d.h. notwendigen, vorausberechenbaren und wiederholt und allgemein zutreffenden Aussagen ist, desto problematischer wird es – dies zumindest nach einer traditionellen Auffassung von Wissenschaft 6– sein, Handlungen, Vorstellungen usw. hierauf wahrhaft zu gründen.
Die Entwicklung religiöser Weltbilder war immer der Versuch, solche Wahrheit im Glauben zu finden, sie unhinterfragbar zu machen. Die sich entwickelnde Wissenschaft mit ihren kalkulierenden Beobachtungsleistungen zerstörte aber mehr und mehr solchen Glauben, um sich selbst als Macht an seine Stelle zu setzen. Ihre Selbstbewegung jedoch zeigt sich als Dekonstruktion ihrer eigenen konstruktiven Hoffnungen. Dies ist zumindest die allgemeine These, die ich vorausschicken möchte, die aber nicht zur Vernichtung, sondern allenfalls zur Begrenzung wissenschaftlicher Reichweite von Behauptungen führt. Gleichwohl ist es wesentlich, den Kränkungen nachzuspüren, die wissenschaftliche Erwartung an Eindeutigkeit, Wahrheit, Unumstößlichkeit erfahren hat. Um den Leser meine Argumentation nachvollziehbar werden zu lassen, werde ich in diesem Kapitel den Kränkungsbewegungen in der Suche nach möglichst eindeutiger Wahrheit nachspüren und die dabei entstandene Unschärfe von Beobachtungen diskutieren. Dabei gehe ich in subjektiver Auswahl und assoziativer Darstellung insbesondere drei Kränkungen nach, die für die Begründung einer konstruktivistischen Sicht wesentlich sind und die die Beobachtungswirklichkeit im engeren Sinne einer wissenschaftlichen Verobjektivierung nach meiner Sicht vorrangig betreffen:

  • die Kränkung zwischen absolut und relativ, die nicht einfach in die Behauptung münden kann, dass alles Wissen bloß relativ ist, durch die wir aber zugleich erfahren mussten, dass die Behauptung einer absoluten Wahrheit nicht nur an der Komplexität, sondern bereits an der Logik des sprachlichen Diskurses scheitert;
  • die Kränkung zwischen einem Selbst und Anderen, die einen neuen Horizont in der Betrachtung des Subjekts eröffnete, weil sie das Selbst als Anderes und das Andere als Selbst zeigt, und, wo immer sie differenzieren will, schon Differen­ziertes vorfindet;
  • die Kränkung zwischen bewusst und unbewusst, die zwar die Bewusstheit braucht, um sich Unbewusstes vorstellen zu können, die damit aber doch nicht die Anwesenheit des Unbewussten ausschließen kann.

In der Gesamtargumentation des Buches beginne ich im zirkulären Prozess dieser beobachtenden Unterscheidungen zunächst an einer der wissenschaftlichen Argumentation vertrauten Stelle: der Suche nach objektiven Aussagen. Die Kränkung der objektivistischen Erwartungen wird in den eben genannten drei Schritten vollzogen, die mir recht treffend – ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit – die Beobachtungswirklichkeit der Moderne hinterfragbar machen: Zunächst im Blick auf die Konstruktivität der Erkenntnis zwischen absoluten und relativen Behauptungen, wie sie von unterschiedlichen Theorien angegangen wird; dann in Bezug auf die Interaktion, die über den Prozess der Verständigung immer schon mitgedacht und vollzogen werden muss, wenn es um Beobachter-Erkenntnis geht; schließlich im Bedenken der psychologischen Dimension, die die Ordnung der Blicke aus der Sphäre des Bewussten in die Möglichkeiten des Unbewussten erweitert. In allen Argumentationen solcher Kränkungen bemühe ich mich, die steigende Unschärfe von Erkenntnis als Konsequenz für die Stellung des Beobachters und von Beobachtung deutlich zu machen. Es wird sich auch erweisen, dass neben dem Beobachter der Akteur und Teilnehmer immer mit zu beachten und mitzudenken ist, um nicht zu vereinfachend zu verfahren. Im Rahmen dieser Verdeutlichung wird sich auch mein Konstrukt der drei Beobachtungsbereiche selbst näher klären.
Aus allen drei Kränkungen erwachsen Bestimmungen von Unschärfe, deren Beachtung eine Basis einer konstruktivistischen Theorie ergeben kann, die nicht in die Fehler einer Verdrängung dieser Kränkungen fallen will, um sich blind gegen die Möglichkeiten und Schwierigkeiten von Wissenschaft zu stellen. Denn auch wenn der bisherige Kon­struk­tivismus traditionelle Wahrheitsauffassungen in Frage stellt oder heikel findet, so behauptet er doch damit, da er sich als erklärende Theorie der Konstruktion von Wirklichkeit anbietet, einen Wahrheitsgehalt, dessen Reichweite der Bestimmung bedarf – auch wenn vielfach in der Literatur suggeriert wird, dass man bloß die alte Wahrheit nicht mehr will. Was jedoch ist dann die neue Wahrheitsannäherung, wie ich einmal vorsichtiger formulieren will, gegenüber den schon recht relativen Wahrheitsbehauptungen der alten? Bei Hegel heißt es: „Keine Philosophie (ist) widerlegt worden. Was widerlegt worden, ist nicht das Prinzip dieser Philosophie, sondern nur dies, dass dies Prinzip das Letzte, die absolute Bestimmung sei.“7 Gültig an der Aussage von Hegel bleibt bis heute, dass alle Philosophie als jeweilige Konstruktion ohnehin nicht einfach widerlegt werden kann, sondern nur in ihren Prinzipien und Ideen aus der Sicht eines anderen Prinzips oder anderer Ideen kritisierbar wird. Dies bedingt zugleich, ein abarbeitendes Verständnis für die Konstruk­tionen anderer Ansätze in ihren Kontexten herzustellen, um nicht blind gegenüber dem Entwicklungsprozess solcher Prinzipien und Ideen (Konstruktionen) selbst zu werden.
Die konstruktivistische Lehre, ihre neuen Ideen, ihre Wahrheitsannäherung, ergeben sich besonders plausibel, so die These meines Buches, aus den Beschreibungen der Kränkungen, die wir hier betrachten und interpretieren wollen (vgl. die Abbildung auf der nächsten Seite).
Allerdings ist die Auswahl der Beobachtungsebenen dieser Kränkungen ganz den subjektiven Vorlieben des Verfassers anzulasten. Wenngleich ich versuche, mir im Kränkungsdiskurs der Moderne wesentliche Positionen herauszugreifen, so kann ein solcher Versuch weder vollständig noch nach irgendeiner Seite hin als geschlossen oder hinreichend abgesichert gelten. Dies wird der Diskurs selbst reflektieren. Zugleich wird sich dabei aber auch seine Zirkularität erweisen: Die beobachtende Unterscheidung dieser drei Kränkungen ist so künstlich wie jeder andere theoretische Diskurs auch, aber die beobachtend herausgehobenen Wechselwirkungen mögen uns klarer werden, wenn wir zunächst einmal mit einem Fokus auf einzelne Aspekte des Diskurses tiefer und schärfer schauen, um dann den Blick durch zirkuläre Rückschau zu erweitern.


Abbildung: Kränkungsbewegungen im Blick auf die Gesamtargumentation

 

Die folgenden drei Kapitel (1.; 2.; 3.) folgen den Kränkungsbewegungen zunächst mehr isolierend, um das Ergebnis (in 4.) dann zusammenzufassen und auf den weiteren Argumentationsgang in Band 2 zu beziehen. Der gedankliche Zusammenhang erschließt sich erst nach und nach und im Rückblick auf die Argumentation.

 

Fußnoten


1 Konstruktion bezeichnet die erfindende Bewegung selbst. Rekonstruktionen sind Versuche, die bereits vorliegenden Erfindungen aus der Vergangenheit oder dem Nebeneinander unterschiedlicher Konstruktionen in einem eigenen Konstruktionsversuch wieder herzustellen, ohne der Illusion einer vollständigen Abbildbarkeit anzuhängen. Dekonstruktionen sind demgegenüber Zertrümmerungen von harmonischen Symbolwelten, von Aussagen und symbolgeladenen Begriffen, die durch Situierung in ihren kon­struk­tiven Umgebungen mit neuen Perspektiven angeschaut und deren vermeintliche Klarheit und Eindeutigkeit damit verwirrt wird. Die Unterscheidung dieser drei Perspektiven soll helfen, unterschiedliche Intentionen von Beobachtern freizulegen, wenngleich sich alle drei Aspekte auch in den beobachtenden Tätigkeiten mischen.

2 Dies ist das übereinstimmende Fazit sehr unterschiedlicher neuerer erkenntnistheoretischer Begründungen, von dem ich bereits in Kapitel I. ausgegangen war.

3 Vgl. zu dem Konflikt zwischen solcher Herstellung und der Hoffnung auf ein ökologisches Wahrheitskonstrukt bes. Bateson (1985, 1990).

4 Im Anschluss an Bateson wurde dies zunächst besonders in dem Buch „Menschliche Kommunikation“ deutlich. Vgl. Watzlawick (1985 a, b, 1988, 1990).

5 Die Theorie von Maturana wird in Kapitel II. 1.5.1.1 kritisch betrachtet. Es wird sich zeigen, dass sie nur beschränkt geeignet ist, als soziale Beobachtertheorie zu fungieren. Luhmanns Theorie hingegen weist eine solche Beobachtertheorie zwar auf, aber ich kann ihren Reduktionismus und ihre Entsubjektivierung nicht teilen. Vgl. dazu Kapitel II. 2.5.

6 Wir werden im Verlauf der Argumentation sehen, inwieweit diese traditionelle Vorstellung relativiert werden sollte.

7 Hegel: Geschichte der Philosophie, in: Werke, hrsg. von Glockner, Bd. XVII,  67.

                

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