Kersten Reich: Die Ordnung der Blicke. Band 1: Kapitel II.1.1

   

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1. Erste Kränkung: absolut und relativ

 

1.1. Eins und Auch

Bei einer naiven, unbefangenen oder auch alltäglichen Annäherung an die Entstehung wissenschaftlicher Beobachterpositionen scheint es so, als stünde eine zunächst beobachterunabhängige Realität einem bestimmten Subjekt, unserem Beobachter, gegenüber. Ein Ich begegnet einem „Ding“, wobei dieses „Ding“ Sachen wie auch Personen sein können. Allgemein ausgedrückt spricht man hier traditionell von Subjekt und Objekt, die sich begegnen. Dabei nun scheint es ganz von der sinnlichen Gewissheit abzuhängen, wie das Subjekt das Objekt empfängt, d.h. welche Wahrnehmungen und Empfindungen es in sich auf- oder annimmt, um dieses Objekt wiederzugeben, widerzuspiegeln, abzubilden. Doch diese Begriffe, die eine mehr oder minder direkte Wieder­gabe oder Abbildung ausdrücken sollen, sind trügerisch, weil sie einer kausalen Analogie folgen, die das Subjekt wie eine Figur fasst, in die bloß etwas eingedrückt, eingespeichert oder wie auch immer eingegeben wird, ohne genügend die Eigenreichweite dieses Subjekts zu berücksichtigen. Es ist hier nicht der Ort, die philosophischen Bemühungen um diese Frage nachzuzeichnen, aber spätestens seit Hegels „Phänomenologie des Geistes“ (1970) sollten wir wissen, dass der Vermittlungsprozess zwischen Subjekt und Objekt entschieden komplizierter ist, als es ein einfacher erster Blick uns suggeriert.1
Beginnen wir mit einer anscheinend trivialen Frage: Was ist real? Ein Ich nimmt ein bestimmtes Ding gegenständlich wahr. Es gebraucht hierbei seine Sinne, und der Reichtum der sinnlichen Erkenntnis erscheint als der größte Reichtum einer intuitiven Erfassung dieses Dings, als eine kognitiv als auch affektiv eingestellte Beobachterperspektive, die der Aktualität des Zeitpunktes, des Ortes (Raumes) sich gewiss weiß und in diesem ihre Gegenwärtigkeit als Wahrnehmung findet. Dieses Ding sei nun ein kleines Kind, das sich das erste Mal bewusst in einem Spiegel sieht. Voller Entzücken, so scheint es, steht das Kind vor seinem Ebenbild, ohne dass es die Gegenseitigkeit bereits begriffen, ohne dass es den Prozess der Spiegelung so durchschaut zu haben scheint, wie wir dies als äußerer Beobachter der Szene tun.2
Um über die sinnliche Gewissheit das auszudrücken, was uns als real erscheint, müssen wir, indem wir diese Szene nicht nur für uns behalten wollen, sondern auch Anderen mitzuteilen versuchen, die Sphäre unserer unmittelbaren Sinnlichkeit verlassen. Dies gilt in mehrfacher Hinsicht, und ein Teil dieser Geltung bestimmt auch bereits unsere Wahrnehmung, ohne dass wir uns dies vielleicht bewusst gemacht haben. Zunächst bilden wir Begriffe, die das in sprachlicher Form wiedergeben sollen, was wir in sinnlicher Form beobachten: Kind, Spiegel, Ausdrucksformen wie Lächeln, Zweifeln, Grimassen usw. gerinnen uns zu einer Wahrheit des Beobachteten, die längst nicht mehr sinnliche Gewissheit sind. Sie sind auch schon nicht mehr sichtbare Beobachtung, sondern entrutschen ins Sagbare. Die unterstellte Sinnlichkeit hatte sich ja ohnehin schon in die Beobachtung des Kindes selbst, von der wir nichts wissen, und unsere Beobachtung gespalten, die wir zum Maßstab dessen nehmen, was das Kind wohl empfinden könnte. Da, wo die sinnliche Gewissheit noch als reichste Erkenntnis erschien, da wird sie unter dem Blickwinkel der Wahrheit eines Beobachters zu einer abstrakten, armen Wahrheit, wie Hegel es ausdrückt. Oder um es noch drastischer für jenen Ort auszudrücken, der die höchsten Gefühle in einem direkten Erleben eines beteiligten Beobachters komprimiert: Einen Orgasmus kann ich erleben, erfühlen, er kann mir sinnlich gewiss sein, wenn er auftritt, aber die Er-Zählung hierüber, die Ab-Rechnung meiner Gefühle, die Wahr-Nehmung dessen, was war, erscheint als etwas Abstraktes, als arme Wahrheit, wobei Armut hier überhaupt eine Differenz bezeichnet, die immer dann auftritt, wenn ich meinen Beobachterstandpunkt einem Anderen vermitteln will. Und weitreichender noch: Selbst wenn ich mir selbst, d.h. mein Ich meinem Ich, dieses „innerlich“, in einer Zwiesprache mit mir, vermitteln will, komme ich ohne diese Armut nicht aus.3
Das Dilemma der sinnlichen Gewissheit liegt darin, dass wir keine wahre Realität behaupten können, ohne abstrakte Wahrheit zu äußern. Die einzige Alternative wäre zu schweigen, ganz in der Intuition zu verharren, ganz sinnlich gewiss zu bleiben.4 Aber diese Alternative wird durch die menschliche Kultur und den zivilisatorischen Zwang auf Entwicklung5 , durch die Bedingungen der Sozialisation und Spracherlernung verstellt, sie erscheint nur als fiktive Möglichkeit.
Im Aufsteigen zur Wahrheit verlassen wir also die Ebene der Sinnlichkeit, die uns zunächst reine Realität schien, und geraten in das Reich von Imaginationen, d.h. von menschlichen Vorstellungen über die Realität, die eigentlich gar keine dinglich fassbare Realität als reine Sinnlichkeit ist. Denn das Imaginäre, das der Ort jener Verarbeitung in uns ist, die wir von Geburt an in uns entwickeln, verkürzt sich als Reden und Meinen und in entwickelter Form als Diskurs vor allem auf das Sprachliche, das Bezeichnendes und Bezeichnetes auseinander hält, das uns also sagen lässt: „Das ist ein Kind, ein Spiegel, eine Reaktion“ usw. Und auch jenes Kind vor dem Spiegel erlernt genau in seiner Gegenwart, in dem Moment seiner sinnlichen Gewissheit, viel mehr als jene Gewissheit, die entschwinden könnte wie das Plätschern eines Baches, dem ich eine Weile gelauscht habe. Das Kind bezieht in seinen Imaginationen weit mehr aus seinem Erlebnis, als es unsere sinnliche Beobachtung uns verrät. Es errichtet ein deutlicheres Ich in sich auf, weil es sich sieht, sich spiegelt in dem, was es bisher als in irgendeiner uns nicht sehr bekannten Art mit sich verbunden oder unverbunden weiß: Es sieht sich so das erste Mal als ganze „Figur“, bildet sich ab und imaginiert diese Abbildung als ein Bild von sich selbst, ohne damit sinnlich gewiss bezeichnen zu können, was es ist. Die Folge aus dieser Differenz ist, dass das Kind sich ausprobiert, sich wie einer fremden Person zulächelt, Grimassen schneidet, sich anspricht und was auch immer tut, um die Differenz zu überbrücken und dabei doch gleichzeitig zu erkennen und zu begreifen, dass es selbst hier bezeichnet wird und bezeichnet ist. Man hat diese Spiegelung auch ein erstes und wesentliches Aha-Erlebnis genannt. Es ist dies eine menschliche Erfahrung, die dieses Kind wie jeden Menschen sein Leben lang begleiten wird, die wir uns aber nicht sehr oft bewusst machen. Die Imagination, d.h. die Vorstellung von uns selbst, erleben wir in jeglicher körperlicher Befindlichkeit, in der wir uns auf uns selbst spiegeln und dabei von uns so reden müssen, als wären wir ein uns Fremdes. Wir erleben uns, wir sind uns Wirklichkeit, obwohl wir dies nur im Banne der Mitteilungen an Andere außerhalb von uns oder an jenes Andere in uns auszudrücken verstehen, d.h. nur dann, wenn wir uns mit Vorstellungen „über“, also mit bestimmten Perspektiven der Beobachtung, imaginativ vermitteln.
Es ist wesentlich, dass dies nicht nur sprachlich geschieht. Das Kind ist sehr stark in seinem Gefühl betroffen, das wir als Interpret jetzt z.B. sprachlich nachvollziehen, wobei wir eine ganz andere Ebene der Realitätsbeschreibung wahrnehmen. Dabei ist das Vertrauen auf lange Sicht in die Mitteilbarkeit durch Sprache, die sich aus Zeichen, Worten, Begriffen, Sätzen mit Aussagen formt, am gewissesten in der Wahrheitssuche. Der innere Fluss, die Bewegung solchen Vorstellens ist die Imagination, Imago, die sich in einfachster Form ikonisch vermittelt, die in erweiterten Formen über die Zeichengestalten bis hin zur Symbolik gerinnt, wie später noch genauer diskutiert werden soll.
Was bleibt uns von der Realität? Zunächst immer die sinnliche Gewissheit als reichster Ort der Erkenntnis. Es ist ein Ort des symbolischen Schweigens. Sodann geraten wir in das Reich des Imaginären, das als ein eigenartiges Medium unsere Beobachtungen verflüssigt, unser Denken zumindest in Bildern und Intuitionen ermöglicht, unsere Erinnerungsspuren in ein Nach- und Nebeneinander bringt, d.h. die uns eigene Welt der Vorstellungen erzeugt.
Wir wollten die Realität aufspüren und sind nun schnellen Schrittes bei scheinbar reiner Subjektivität gelandet. Dies ist aber nur scheinbar so, denn die hier angesprochene Vermittlung ist wiederum komplizierter. Die menschliche Entwicklung hat sich gegenüber der möglichen, auch immer wieder auftretenden Willkür individueller Vorstellungen, die sich selbstbezüglich als allgemeine Wahrheit behaupten, abgesichert. Zwar zeigt dieser Absicherungsprozess sehr oft die Hilflosigkeit des Versuches selbst, aber wir wähnen uns heute symbolisch vermittelt und intersubjektiv abgesichert auf einer Stufe, auf der wir relative Sicherheit in der Behauptung der Gültigkeit allgemeiner gegen­über bloß individueller Wahrheit verspüren. Was ist geschehen? Die Sicherungsvorkehrungen sind vielschichtig.
Die Vorstellungen über das Kind in seinem Spiegelstadium erfolgen bereits begrifflich vermittelt. In der Sprache gebrauchen wir Zeichen, die als Worte oder Begriffe6 etwas bezeichnen, was ich meine und ein Anderer als etwas verstehen kann, was ein gemeinsames Feld von Assoziationen, Zuschreibungen, Bedeutungen einschließt. Hierbei gibt es einen doppelten Prozess, damit solch ein Vorgang überhaupt gelingen kann: Ein Ich und ein Anderer müssen zu einer Konvention darüber kommen, dass die Zeichen, die sie gebrauchen, ein Bezeichnetes auch so bezeichnen, dass beide Seiten entsprechend wissen, was gemeint ist. Die Zuschreibung mittels Worten muss für beide Seiten so erlernt werden, dass möglichst hohe Übereinstimmung über das Bezeichnete erreicht wird. Die Imaginationen werden hierbei gerichtet, gleichgeschaltet, die Perspektiven gesetzt, die Beobachterstandpunkte durch Bedeutsamkeit eingefangen, was für uns hier der Begriff der Symbolisierung ausdrücken soll. Symbole, das sollen für uns jene geronnenen Formen vor allem sprachlicher Abarbeitung der Imaginationen über je subjektive Wirklichkeitskonstruktionen sein. Symbole setzen die Verbindung von Ich und Anderen voraus, sie werden kulturell vermittelt, indem die Menschen die Heranwachsenden zwingen, den jeweils erreichten Symbolvorrat zu einem gewissen Teil in sich aufzunehmen und jeweils zu erinnern, um nicht nur Beobachter, sondern auch konventionell gebundener Teilnehmer am interaktiven und kommunikativen Geschehen in der Lebensform zu werden. Zugleich aber erscheint eine zweite Seite, die den Sachverhalt kompliziert: Auch das Bezeichnete selbst repräsentiert einen Anta­gonismus, der zwischen dem „Eins“ des Bezeichneten und seinen möglichen „Auchs“ entspringt.7 So sind die Begriffe Kind, Spiegel, Lächeln, Grimassen usw. zwar deutliche und intersubjektiv nachvollziehbare Worte, aber die je individuellen Gestalten, die Sinnlichkeit des Vorgangs, die Unterschiedlichkeit der Kinder, der Spiegel, die unzähligen Arten des Lächelns oder die konkreten Formen der Grimassen usw. sind Möglichkeiten eines Auchs, die hinter dem Eins der von uns gewählten Begriffe Kind, Spiegel usw. stehen. Die Sprache verzeichnet Realität im Fluidum der Imaginationen hin zu Symbolen, die ein Allgemeines ausdrücken, das bloß in einem einzigen Begriff, in einem Wort sich symbolisiert, obwohl eine ganze Welt von Möglichkeiten und Ausdrucksformen in der konkreten Realität vorliegt.8 Das Kind kann auch groß oder klein, dünn oder dick, schön oder hässlich usw. sein, aber selbst diese Worte sind bloß Zuschreibungen einer konstruierenden Imagination, die sich auf die Schablonen erlernter Symbolik beruft, mit denen die Welt in ihrer Unendlichkeit sinnlicher Eindrücke überschaulich und geordnet erscheinen soll, damit sie verallgemeinert werden kann. Der Imagination ist es zwar möglich, hier neue Symbole zu schaffen, die dann Form und Bedeutung erhalten, wenn sie auch nur von einem Teilnehmer an der Imagination, also mindestens dem Erschaffer, benutzt werden, deren Geltung im für Andere erkennbaren Sinne jedoch Interaktion und Kommunikation und generationenübergreifend Tradierung und Fixierung der Symbolform voraussetzt. Eben dies nennen wir Verallgemeinerung. Allerdings müssen die Symbole damit nicht immer gleichgerichtet sein, sie können auch widersprüchlich, paradox, ambivalent sein.
Was nützt uns solche Verallgemeinerung? Sie ist die Basis einer Vereinfachung, die Verständigung in ihren „wahren“ Formen überhaupt erst ermöglicht, weil wir die vielen Auchs nur dadurch sprachlich uns vermitteln können, dass wir sie vereinfachen. Es ist das Wesen unserer Sprache und damit Kommunikation, dass wir das Eins brauchen, um uns überhaupt ein Auch ausdrücken zu können. Wir mögen zwar öfter im Leben, im Erleben spüren, dass die geäußerten Worte kaum das hinreichend wiedergeben können, was wir im Fluidum unserer Imaginationen empfinden, fühlen, wahrnehmen, denken, aber die Interaktion von Ich und Anderen führt uns auf die Begrenztheit unserer symbolischen Redeweisen zurück, und mitunter recht umständlich suchen wir dann, uns verständlich zu machen. Gelingt es uns nicht, dann können wir sogar die Differenz zwischen Erleben und Worten ansprechen, und die meisten Menschen werden dafür Verständnis haben, weil ihnen Gleiches begegnet ist. Wahrheit unserer Aussagen aber benötigen wir, um uns nicht als ständig Verrückte, also Verrückende von Erleben und Bezeichnen, zu begegnen, weil dies ein ständiges Hindernis im symbolisch organi­sierten Zusammenleben wäre und unsere wechselseitigen Handlungskoordinationen verkomplizierte. Wir empfinden dieses Hindernis zumindest als so schwerwiegend, dass wir die Menschen von uns isolieren, die ständig „unwahr“ sind, also einen Teil der Gruppe von Verrückenden repräsentieren, die wir als Verrückte aus dem normalen Leben aussondern.9
Eigentümlicherweise klammern viele Menschen die Wissenschaft jedoch von den hier geschilderten Prozessen aus. Ihre Wahrheit scheint viel umfassender, obwohl wir uns auch hier denken müssten, dass die Differenzen von Ich und Anderen, von Eins und Auch Grunddilemmata jeder Wissenschaft ebenso beschreiben wie jene des menschlichen Alltags.10 Wie kommt es zu der Zuschreibung, dass bestimmte gesellschaftliche Institutionen der Wahrheit näher sein können als das Individuum in seiner Subjektivität?
Ein Subjekt, das einen Beobachter darstellt, scheint die Dinge immer dann für reale Dinge nehmen zu können, wenn es sie wahrnimmt, aber es widerspricht sich hierin bereits dadurch, dass es Begriffe gebrauchen muss, um sich dabei mit sich selbst und anderen ideell (imaginär und symbolisch) zu vermitteln, weil die Wahrheit der Dinge sich nur vermittelt äußern lässt. Beobachtung wird, ganz gleich wie nah sie mikroskopisch oder wie fern sie makroskopisch zu den von ihr beobachteten Objekten steht, damit zu einer Grenzerfahrung der unendlichen Vermittlung von Realität und Imagination.11 Ein wesentliches Dilemma jeglicher Beobachtungen in unserer Welt ist dabei die Unerschöpflichkeit des Beobachtungsvorrats. Ein kontemplativer Beobachter könnte, wenn man ihn ließe, sein Leben lang Beobachtungen anstellen und diese in irgendeiner Form aufzeichnen, ohne dass damit der notwendige Teil erkannt werden könnte, den es zu beobachten lohnt. In der Beobachtung selbst liegt nämlich kein Kriterium für das Ende der Beobachtung, weder für ihre Vollständigkeit noch für die Erkenntnis, wo der Vorrat an Beobachtungen beherbergt ist. Der Mensch hat sich Begriffe wie Universum, Kosmos oder Natur geschaffen, um das Ganze des Beobachtungsvorrats sich zu bezeichnen, ohne dass der Begriff, der die Unendlichkeit gefangen zu nehmen scheint, bei näherer Hinsicht bezeichnen kann, was wir mit ihm genauer gefangen haben.
Bei kleinen Kindern wird die Unermüdlichkeit der menschlichen Beobachterposition durch die nicht endend scheinende Neugierde und Kraft der Kinder ausgedrückt, sich allen Gegenständen ihrer Umgebung zuzuwenden, sofern sie affektiv durch die schützende soziale Hülle ihrer Hauptbezugspersonen gestärkt sind, sich der Welt zu öffnen, die Welt sich aktiv anzueignen. Nur einem fernen Beobachter erscheint die Hilflosigkeit des Kindes gegenüber seiner Welterfahrung, diese Erfahrung selbst aber ist assimilativ und akkommodativ zugleich, dabei konstruktiv und rekonstruktiv.12 Im Weltbild des Kindes erscheint der gleiche maßlose Anspruch wie in der Wissenschaft, wo er nur rationalisierter erarbeitet wird: Maßlosigkeit ist das Muster, weil der Mensch als Maß aller Erkenntnis fungiert, auch wenn er sich dabei äußere Kräfte projiziert oder seine Imaginationen so symbolisiert, dass sie in geronnener, versteinerter Form ihn rekonstruktiv zu überzeugen nötigen. Darauf wird gleich noch näher zurückzukommen sein. Aber allein schon die Beobachtung als Ausdruck menschlicher Wahrnehmung scheint ein wie auch immer sicherster Ort der Gewinnung von jenen Abstrakta zu sein, die als Worte, Begriffe und Sätze sich zu Aussagen und Vorstellungen formen, die in der Welt unserer Imaginationen uns zu Symbolen, Symbolzusammenhängen gerinnen, die wir als die Wahrheit zu nehmen bereit sind. Die sinnliche Gewissheit als scheinbare Basis solcher Wahrheit entpuppt sich allerdings als ein Ungeheuer, als ein Dämon, der gleich der vielköpfigen Hydra immer neue Köpfe nachwachsen lässt, weil die einmal verselbstständigte Beobachtung im Reich der Imagination sich eigene Konstruktionen schafft, die nach Gesetzen menschlicher, vor allem psychischer, Verarbeitung reguliert werden, aber nicht nach einem eindeutigen Maßstab außerhalb dieser Psyche. Gerade deshalb gehörte es immer zu den größten und mächtigsten Projektionen der Menschheit, sich einen äußeren Exekutor zu wünschen, der, obwohl er immer auch eine Spiegelung sozialer Prämissen der Zeitalter war, als einmal symbolisierte Sehnsucht eine Hoffnung auf einen höheren Grad an Begründung ausdrücken sollte. Die kindliche Regression auf Gott-Vater war, wie Freud recht zutreffend beschrieb, einer, sicher der bisher wesentlichste, dieser Versuche im abendländischen Kulturkreis (vgl. z.B. Freud 1989, IX, 126 ff., 432 ff.). Es gibt analoge Projektionen in anderen Kulturkreisen. Der Ersatz dieser Vaterfigur durch die abstraktere Wissenschaft stimulierte viele Wissenschaftler im Zeitalter der Aufklärung zu der nicht immer durchschauten Konstruktion einer Suche nach verborgener Wahrheit hinter den Dingen, kurzum: auch hinter den Menschen. Es kommt für einen Teil der neueren Wissenschaft daher immer noch einem Sündenfall gleich, die Zeichen unserer Zeit so zu deuten, dass wir uns zunehmend mehr als Beobachter unserer selbst erschaffenen Konstruktionen nicht nur sehen können, sondern auch die grundsätzliche Konstruktivität von Erkenntnis (als unsere sehr eigene und nicht als von außen uns gegebene) anzuerkennen gezwungen sind. Die Wissenschaft hat sich ihre Beobachtungsvorräte errichtet und in einem Verteilungskampf gesichert, der sich in den Fakultäten und Fächern an Universitäten widerspiegelt. Diese symbolisch-institutionelle Gerinnung scheint schon Garant von Wahrheit zu sein, obwohl sie eine bloße Konstruktion durch Konvention und – wenn man es zuspitzt – Unwissenheit ist. Unwissenheit deshalb, weil die Spezifikation der Forschung letztlich immer auch mangelndes Denken in Zusammenhängen ausdrückt, wie die ökologische Katastrophe, die das 20. Jahrhundert hinterlassen wird, versinnbildlichen kann. So, wie das kleine Kind trotzig auf der Richtigkeit seiner Wahrnehmung beharrt, wenn es einmal einen Begriff einem Ding zuzuordnen gelernt hat, so organisiert sich Wissenschaft als Logik eindeutiger Ordnung und baut stolz auf den Abfrageleistungen von Konzepten, die deutlich brüchiger sind, wenn sie aus anderen Perspektiven beschaut, in anderen, d.h. vor allem komplexeren, Beobachterbereichen beobachtet werden. Hier steckt ein nicht über­holbares, nicht ohne Dekonstruktion eingrenzbares, Dilemma von Wissenschaft überhaupt: Beobachten zu müssen, um Welt zu erfahren, was aber heißt, Welt zu konstruieren, um sie erfahrbar, genauer diskursiv vermittelbar zu machen. Das Dilemma wurzelt darin, dass die bisherigen Vermittlungsleistungen die Beobachtungen oft noch so orientieren, dass die Lösungen der Welt, des eigentlich Anderen, der aber nie isolierter Anderer sein kann, immer durch jene Brille wahrgenommen werden, die alles schon so einfärbt, so in den Fokus nimmt, so verzerrt, wie sie reduktiv intendiert wird. Und hier sind es insbesondere die Versteinerungen, in die die Bilder des Glaubens oder Wissens gebannt wurden, in die sie gefangen wurden, um uns in diesem Gefängnis ihre Wahrhaftigkeit zu versichern, uns unseren möglichen Zweifel auszureden, hier sind es die Versteinerungen einer Architektur, einer Institutionalisierung – materielle wie auch ideelle Versteinerungen oder symbolhafte Verdichtungen, die uns umgeben und wie selbstverständlich als Realität auftreten –, der unsere Imaginationen begegnen und aus der sich unsere Symbolsetzungen speisen. Der Brillenträger bemerkt in seinem Schauen gar nicht mehr, dass er überhaupt eine Brille trägt.
Wie aber sollte hier nun ein Beobachter seine Augen, seine Sinne schulen, seine Sprache differenzieren und seine Gefühle verfolgen, um die Wirklichkeit so wahrzunehmen, wie sie ist? Er muss die Kränkung hinnehmen, dass die Forderung nach einem So-Sein von Wirklichkeit, nach unüberbrückter und vollständig eindeutiger Wirklichkeit, wie sie ist, nach einem ontologischen Anspruch des Seins im Sinne einer Ent-Bergung von Hinter-Grund menschenunmöglich ist. Dies bleibt Göttern vorbehalten. Da wir aber keine anderen Götter als die von Menschen konstruierten kennen, da wir überhaupt niemanden kennen, dem dies in unserer Welt möglich wäre, müssen wir diese Unmöglichkeit überhaupt zugestehen. Wir können uns auf die scheinbar klaren Sicherheitsvorkehrungen unserer „wahren“ Beobachter und Akteure nicht verlassen. Daraus aber erwachsen uns nicht nur Grenzen der Bescheidenheit, sondern auch neue Möglichkeiten.
Wo die Technik noch Sachwalter einer Wahrnehmung in der Moderne schien, die als Logik in klarer Kausalität das Eine aus dem Anderen entstehend sah, da wird sie heute aufgrund der Komplexität von Ereignissen, die in technische Zusammenhänge eingreifen, immer mehr zum Ausdruck einer Komplexität, die mit Mitteln der Wahrscheinlichkeit und Ungewissheit behaftet ist. Gerade in diesem Bereich wird besonders scharf beobachtet, um sich Analogien darüber zu gewinnen, was passiert, wenn. Das Wie und Was der Reaktion treten dabei in komplexen Zusammenhängen gegenüber dem Warum immer mehr in den Vordergrund.13 Hierin zeigt sich der Kampf zwischen dem Eins und dem Auch besonders deutlich. Die Welt der Beobachtungen wird durch diesen Kampf zerrissen. Es ist dieser Riss, der durch die Brücke der Imagination überquert wird, es sind die symbolischen Welten, die uns eine Fassade bilden, um die Risse zu verbergen und ungeschehen zu machen.
Der passive, kontemplative Beobachter, der alles aus der Natur empfängt, kann noch diesen Riss verdrängen und abwehren, er wird die Entfremdung nicht vordergründig spüren, die der aktive Beobachter empfindet, wenn er bereits durch die Auswahl seiner gezielten Beobachtungen in den Prozess dessen eingreift, was er erfahren wird.14 Erfahrung gewinnt aus dieser Sicht eine andere Dimension: Sie ist Produkt jener Beobachtungsleistung und ihrer Regeln selbst, die der teilnehmende Beobachter agiert, die er herstellt, die er behandelt. Außerhalb solcher Handlung ist sie verrückt, denn ihre Eigenart ist es, sich immer durch Beobachtungs-Handlungen auszudrücken. Es mag den Selbsttäuschungen des passiv scheinenden Beobachters noch gelegen sein, sich als Objekt des Begehrens eines großen Anderen, Fremden, einer väterlichen Gestalt zu gewahren, aber der aktive Beobachter, der dem Selbstzwang ergebene Mensch der Moderne, der sich heute sogar die Freiheit nimmt, sich selbst als postmodern beobachten zu wollen, ist selbst voller Begehren und erlebt die Suche nach dem Eins durch das Vielerlei der Auchs.
Die moderne Warengesellschaft korrespondiert dem sinnfällig, so dass kaum noch unterscheidbar ist, inwieweit das Subjekt nach partikularisierender Teilnahme am Warenmarkt bloß aus Gründen der Wunschbefriedigung strebt und sich damit einem entfremdeten Treiben unterwirft, oder ob diese Partikularisierung seinem Denken selbst entspringt, das sich aufgrund seiner Struktur gar nicht anders als im Spiel gegen andere partiell verhalten kann. Wie auch immer wir eine Beobachtertheorie drehen und wenden mögen, so kommt sie aus den Bindungen von Eins und Auch weder in den Gefühlen und Bewegungen, auch nicht im bildlichen Vorstellen und Denken noch im sprachlichen Diskurs hinaus. Bilder mögen noch ganzheitliche Intuitionen zulassen, aber die Sprache als „anständiger“ Diskurs des Gemeinten und damit als Austausch zwischen den Subjekten, der vernünftig organisiert werden soll, lässt keinen Ausweg aus dem Dilemma dieser grundlegenden Spannung. Dies hat nicht immer bedachte Folgen, wie die nächsten Kapitel erweisen sollen.

 

Fußnoten


1 Vielfach führt man als ersten Autor, der uns in die Kritik des eigenen Selbst-Bewusstseins eingeführt hat, Kant an. Dies ist sicher zutreffend, sollte dann aber mindestens um die Kette hin zu Fichte und Hegel erweitert werden. Diese Philosophie des deutschen Idealismus ist noch keineswegs für heutige Diskussionen ausgeschöpft, weil wir bis in die Gegenwart erfahren können, dass es klug ist, insbesondere diese Autoren bei angeblich ganz neuen Fragestellungen zu konsultieren. Sie haben ihrerseits als gute Kenner der Philosophiegeschichte die Problemlagen der Selbstbewusstwerdung, d.h. der Suche nach Wahrheit in der Dialektik von Subjekten und Objekten in ihren Theorien akkumuliert, so dass sich jede neue Theoriebildung im Laufe ihrer Entwicklung produktiv und detailliert mit ihnen auseinander setzen, aber auch von ihnen absetzen kann.

2 In Kapitel II. 3.5. werde ich mit Lacan dieses Beispiel wieder aufnehmen und zeigen, dass es noch komplexer als in der nachfolgenden Deutung, die sich in den Grenzen der ersten Kränkung bewegt, interpretiert werden kann.

3 Warum ein Ich in sich zu einem Anderen in Beziehung tritt, wird die zweite Kränkungsbewegung verdeutlichen. Insbesondere wird dies aber in Kapitel II. 3.5. aufgenommen werden, um dort dann auch die Unterscheidung von symbolisch Anderen und imaginär anderen einzuführen.

4 Eine solche Sichtweise ist der romantischen Sehnsucht nach Ganzheit in ihren wiederkehrenden Zeitepochen nicht fremd. Sie taucht in philosophischer Wendung insbesondere dort auf, wo Philosophen kaum Handlungschancen im Staat hatten, also z.B. in der asiatischen Kultur, in China, wo sich Theorien bildeten, die wie der Daoismus ganz auf die Innenschau abstellten und sich hier eine Verschmelzung von Geist und Materie vorstellen konnten. Hier ist der Weg mehr als das Ziel. Vgl. Reich/Wei (1997, 181 ff.).

5 Hier erscheint die Macht der Welt- und Produktionsrealitäten, die ich später in Kapitel IV. als wesentliche Momente der Beobachtungen differenzieren und problematisieren will.

6 Ich gebrauche hier nicht die Terminologie, die in der Semiotik üblich oder sinnvoll ist, weil es für unsere Zwecke ausreicht, die zu diskutierenden Probleme mit relativ vertrauten Sprachmustern zu analysieren. Zu den Unterschieden von Zeichen, Worten, Begriffen, Symbolen vgl. Eco (1985). Zu einer Problematisierung und Verrückung regt z.B. Tyler (1991) an.

7 Vgl. hierzu insbesondere den Abschnitt Wahrnehmung im subjektiven Bewusstsein in Hegels „Phänomenologie des Geistes“.

8 Konkrete Realität ist aber kein Absolutum, sondern ebenfalls eine Zuschreibungsform. Sie liegt den Erfahrungen der Außenhaut (vgl. Anzieu 1991), der Wahrnehmung, der Poiesis und Praxis näher, was der Begriff konkreter ausdrücken soll. Hegel spricht hier vom Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten, um die Bewegung vom Begriff zur sinnlichen Gewissheit auszudrücken, ohne jedoch zu vergessen, dass der größte sinnliche Reichtum der Erkenntnis ihre ärmste Wahrheit darstellen wird. Wahrheit ist Prozess der Verallgemeinerung, Abstrahierung, Logik, dabei zugleich ein Verlust der sinnlichen Gewissheit.

9 Ich will an dieser Stelle nicht näher auf die sprachtheoretischen Implikationen meiner begrifflichen Bestimmung eingehen. In der Sprachtheorie von Peirce z.B. wird das hier ausgedrückte Dilemma in anderen Worten beschrieben. In seiner Unterscheidung von Ikon, Index und Symbol z.B. findet sich die Beschreibung von Eins und Auch wieder. Zugleich akzentuiert Peirce seine Theorie so, dass deutlich wird, dass eine bloß individuelle, rein singuläre Erfahrung irreal bleibt, weil Realität sich sprachlich nur dann vermittelt, wenn sie intersubjektiv verallgemeinert wird. Vgl. einführend und weiterführend Kapitel II. 1.3.4.1.

10 Ich kann hier nicht näher auf historische Hintergründe eingehen. Gewiss wirkt sich jedoch aus, dass die Wissenschaft für viele Menschen heutzutage an die Stelle der sicheren, dogmatisch eingefangenen Einheit des christlichen Weltbildes, die sich bis heute durch eine Kirche als Sicherheitsorgan verkörpert sieht, getreten ist. Deren Symbolik hat sich in Stein geformt, in monumentale Gotteshäuser, was an sich schon das ungeheuerliche Vorhaben dokumentiert, die Imaginationen im Blick auf Gott als Ausdruck einer überwachenden und real gewordenen Symbolik auszudrücken und sich dauerhaft festzuhalten.

11 Gerade die Aufklärung hat jedoch die Austreibung der Fantasie aus der Philosophie sich als Programm gesetzt. Dies wirkt in den Wissenschaften bis heute fort. Vgl. dazu in kritischer Sicht z.B. Böhme/Böhme (1992, bes. 231 ff.); Kamper (1986).

12 Piaget wies auf diesen fundamentalen Unterschied hin, der bereits von Hegel deutlich hervorgehoben worden war. Es ist immer eine wechselseitige Bewegung des Selbstbewusstseins, die in der Begierde zu einer Aufnahme äußerer Gegebenheiten, also z.B. Sprachaneignung, führt, zugleich aber hierin sich selbst artikuliert und ins Zentrum der Bewegung, des An-Triebs setzt, um für sich Wirklichkeit zu erfahren. In dieser Erfahrung liegt der grundlegend konstruktive Charakter menschlichen Erkenntnisaufbaus.

13 So ist z.B. in der Zeittheorie die Komplexität an Ereignissen so groß geworden, dass immer weitere Zeitdimensionen als theoretische Hilfskonstrukte eingeführt werden, um diese Logik überhaupt aufrechtzuerhalten. Vgl. z.B. Hawkings „Kurze Geschichte der Zeit“ (1988).

14 Michel Foucault hat dies in seinem Buch „Die Ordnung der Dinge“ (1993 a) treffend herausgearbeitet.

 

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