Kersten Reich: Die Ordnung der Blicke. Band 1: Kapitel II.2.2.1

   

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2.2. Die Spuren des Anderen: Symbolisches, Imaginäres und „reale“ Ereignisse

Hegel hat uns auf ein Dilemma aufmerksam gemacht, das seither als Konstrukt durch die Köpfe von Erkenntnistheoretikern geistert. Was ist dieses Etwas, dieses Ding, das sich jeweils zwischen die Subjekte schiebt, wenn sie sich miteinander verständigen? Ist es etwas Materielles? Also sind es etwa Gegenstände des Gebrauchs, Gebrauchswerte, Waren, ist es das Geld als allgemeines Äquivalent für diese, die die Kommunikation zusammenhalten? Oder ist es das, was diese materiellen Werte erst herstellt: Arbeit? Oder ist diese Sicht zu begrenzt? Ist es das Er-Leben selbst, diese kaum fassbare Form des Lebens, die wir flüchtig an uns vorbeihuschen sehen, in der wir wandern, die uns intuitiv ihre Wege vorzeichnet? Ist es die Lebenswelt als allgemeines geistiges Äquivalent für alles, was sagbar und unsagbar ist? Oder ist es die Sprache, mit der wir uns artikulieren, die uns bestimmte Ereignisse erinnern und deuten, inhaltlich austauschen lässt, die damit als eigentlicher Kern der Kommunikation erscheinen mag? Immer neue Fragen lassen sich anschließen, immer mehr Wege eröffnen sich, je länger wir darüber nachdenken mögen.

 

2.2.1. Unterschiede zwischen Symbolischem und Imaginärem und der Blick des
         „Dritten“ (Sartre)

In der ersten Kränkungsbewegung habe ich stark auf das Symbolische abgehoben, das in Form von Zeichen, Worten, Begriffen, Aussagen und ihren Bedeutungskontexten innerhalb von Verständigungsgemeinschaften auftritt. Wir sind dabei auch schon auf den Begriff der Imagination gestoßen, die als Vorstellungskraft des Individuums in die symbolischen Ordnungen eingreift, ohne doch in ihr aufzugehen. Im Imaginären wurde dabei eine Art bewegliche Kraft gesehen, die in unserem Vorstellen wirkt, bevor sich die Vorstellungen symbolisch verfestigen und zu einer kommunizierbaren Symbolik gerinnen. Doch ist damit die Grenze zwischen Imaginärem und Symbolischem genau genug bezeichnet? Bisher habe ich ja gerade den interaktiven Anteil an der Formung des Imaginären und Symbolischen nur genannt, aber nicht differenziert ausgeführt. So könnte es so scheinen, als wäre die Vorstellungskraft des Imaginären bloß eine individuelle Problematik, die sofort dann ins Symbolische umschlägt, wenn jemand mit Anderen tatsächlich über Zeichen und Sprache kommuniziert. Oder verfehlt diese Sicht das Imaginäre, weil sie das Symbolische so in ein Vorrecht in aller Kommunikation setzt?
Sartre hat sich in seinem Buch über das „Imaginäre“ (1971) mit den rationalen Bedingungen der Entstehung von Imagination befasst und dies in „Das Sein und das Nichts“ (1989) fortgeführt. Eine Schwäche seiner Argumentation wird allerdings später von ihm eingestanden: „Der Begriff des „vécu“, der „gelebten Erfahrung“, kennzeichnet meine Entwicklung seit „Das Sein und das Nichts“. Meine früheren Werke waren der Versuch einer rationalistischen Philosophie des Bewusstseins. Soviel ich auch über offensichtlich nicht-rationale Prozesse individuellen Verhaltens zusammengeschrieben habe, „Das Sein und das Nichts“ bleibt ein Monument der Rationalität.“ (Sartre 1971, 20 f.)1 Und diese Rationalität verfehlt die gelebte Erfahrung gerade dadurch, dass sie sie bloß rationalisiert auffassen will und damit letztlich in diesem übertriebenen Bestreben selbst irrational wird. Sartre erkennt später, dass symbolische Aussagen über die Welt als rationalisierte Ansprüche nicht die gelebte Erfahrung vollständig wiedergeben können, weil diese einerseits ein „Beisichsein“ einschließt, damit sie in der Psyche überhaupt anwesend sein kann, obwohl sie andererseits eine „Abwesenheit von sich selbst“ voraussetzt, weil sie für das Bewusstsein selbst undurchsichtig ist.
Im „Idiot der Familie“ (1977), seiner Flaubert-Studie, geht Sartre in seinem Spätwerk von dieser Differenzierung aus. Nachdem er den Mythos vom einsamen Helden, der an die Robinsonade weiter oben erinnert, aufgegeben hatte, stand er vor folgendem Problem: Wenn die symbolvermittelte Welt und Wirklichkeit jeweils ein Individuum in seinem Verhalten determiniert, wie kann es dann sein, dass ein Individuum, wie z.B. Flaubert, „etwas aus dem machen kann, was aus ihm gemacht wurde“?2 Es scheint nur eine kleine Bewegung zu sein, die menschliche Freiheit beansprucht, in der sich jedoch die gesamte Persönlichkeit der Individuen als ihr eigenes Dasein entfaltet. Dies wiederholt den Situationsbegriff, der bei Sartre auch früher schon auftauchte, und in dem eine Situation als eine Bedingungssetzung durch die Umstände wie auch als eigener Entwurf von Möglichkeiten doppeldeutig gedacht wurde.
Aber was bringt uns dies als Beobachter eines Flaubert oder eines beliebigen anderen Menschen? Was können wir von ihm wissen? Es scheint nur einen Zugang über das Symbolische zu geben, den wir mannigfaltig in immer neuen symbolischen Perspektiven nutzen können: Soziologisch, psychologisch, historisch, literarisch, oder wie auch immer wir die Konstrukte unseres Wissens als symbolvermittelnde Konstruktion wie ein Netz über das Leben eines Anderen zu werfen uns bemühen. Damit geht als Vorbedingung das Wissen darum, was ein Mensch ist, in einer Zeit sein kann oder könnte, schon als Vorannahme in die Setzung der Perspektiven ein, die wir uns von ihm machen. Und umgekehrt auch. Sartre bemüht sich differenziert herauszustellen, inwieweit Flaubert durch die Welt der Anderen, mit denen er interagierte, zu einem Ich fand, das als Interaktion mit Anderen in einer Epoche zirkulierte. So entsteht ein „wahres“ Wissen über Flaubert, das doppelt fragwürdig ist: Es ist erstens eine Konstruktion eines perspektivischen Netzes, das Sartre aus seiner Zeit und seinem Verständnis auswirft, es ist zweitens die Interpretation von Diskursen der Anderen, durch deren Zeugnisse wir überhaupt etwas über Flaubert wissen, wobei deren und Flauberts Zeugnisse selbst für uns auch schon wieder Zeugnisse eines spezifischen Anderen sind. So ist es nur der symbolisch artikulierte Flaubert, den wir hier überhaupt antreffen können.
Sartre betont dies, wenn er den Menschen ein einzelnes Allgemeines (universel singulier) nennt (vgl. Frank 1990, 265 ff.). Es realisiert Werte einer Epoche, Bedeutungen eines soziokulturellen Kontextes als ein Allgemeines eines solchen Kontextes, um darin dennoch als Einzelnes zu widerstehen. Insoweit gibt es hier keine instruktive Interaktion, die das Individuum vollständig festlegt, es sei denn wir würden Sartres Einsicht fallen lassen. Das Individuum in seinem Leben lässt sich – mit anderen Worten – durch kein symbolisches System allein hinreichend kontrollieren, die Universalisierungstendenzen der symboli­schen Welt, die bereits gewaltig vor den Individuen bei ihrer Geburt stehen, lassen sich nicht ungebrochen in die Gedächtnisse hinein verpflanzen, um dort als Saat der Zukunft in symbolischer Reinheit und Echtheit aufzugehen.3 Zwar gibt es sowohl eher Veränderung als auch eher Erhaltung von Systemen, in die man hineingeboren wird, aber selbst die geringfügigsten Verschiebungen bereiten schon einen Umsturz der scheinbar universellen symbolischen Ordnungen vor, die ein Zeitgeist unterstellen mag. Insoweit wohnt dem Individuum eine negierende Kraft und dabei Freiheit inne.
Aber wie äußert sich diese Kraft? Ist sie selbst symbolischer Natur, dann scheint sie im Symbolsystem selbst aufzugehen, was z.B. Strukturalisten (vgl. Kapitel II. 3.3.) dazu verleitete, nur dieses System zu untersuchen. Dann interessiert weniger das Subjekt, als vielmehr die symbolische Hinterlassenschaft solcher Subjekte, die sich als struktureller Zusammenhang in Differenzen und Serien von Ereignissen zeigt. Aber Sartre verneint diesen Weg. Er kann auf das Subjekt als einigende Instanz des Symbolischen und anderer Leistungen nicht verzichten. Was aber macht das Subjekt über das Symbolische hinaus aus? Hier erscheint erneut das Imaginäre aus seinen früheren Arbeiten. Er wählte Flaubert als Objekt seiner Beobachtung aus, weil „er das Imaginäre bedeutet. Bei ihm bin ich an der Grenze, an der Schwelle des Traums.“ (Sartre 1971, 23) Und dies setzt seine Arbeiten über das „Imaginäre“ fort.
In seiner frühen Arbeit über das „Imaginäre“ hatte Sartre zu zeigen versucht, dass das Imaginäre komplizierter als eine naive Annäherung an das Bewusstsein ist. Naiv könnte es nämlich erscheinen, dass Vorstellungen im Bewusstsein sind und dass in diesen Vorstellungen Gegenstände enthalten sind. Dann müssten unsere Vorstellungen im Bewusstsein von lauter kleinen Figuren bevölkert sein, die in uns herumschwirren. Dies ist aber eine Illusion, die dadurch entsteht, weil man sich die objektive Welt als irgendwie eingeprägt und abgebildet in das Bewusstsein vorstellt (vgl. ebd., 44 ff.).
Wenn ich einen Stuhl wahrnehme, so argumentiert Sartre, dann nehme ich diesen ja nicht über die Wahrnehmung in mein Bewusstsein auf, denn das Vorstellungsobjekt ist im allgemeinen nicht identisch mit der Vorstellung selbst. Es handelt sich offensichtlich um eine komplizierte Beziehung. Dabei geht es nicht um eine abbildende Vorstellung, sondern eigentlich um eine Vorstellung als-ob: Ich stelle mir vor, als ob es ein Stuhl wäre. Dieser Wechsel aber ist entscheidend, denn nun rückt das Subjekt als Beobachter in den Vordergrund: Es ist in seinem Bewusstsein und dessen Konstruktionen zu befragen, wenn es eine Vorstellung entwickelt. In seine Vorstellungen gehen mit anderen Worten sehr komplexe psychische Strukturen ein, die jenes Als-ob erst konstituieren, mit dem scheinbar immanent die Welt geschaut wird. Aber was ist dann die Vorstellung noch?
Grenzen wir sie zunächst mit Sartre von der Wahrnehmung ab. Eine Vorstellung und eine Wahrnehmung können nicht gleichzeitig sein. In der Vorstellung habe ich ein eingebildetes Phänomen in einer Art Quasi-Wahrnehmung, in der Wahrnehmung hingegen den direkten sinnlich vermittelten Eindruck. In der Wahrnehmung beobachte ich Objekte, z.B. den Stuhl. Aber schon sind wir in dem Dilemma von Eins und Auch, denn die Wahrnehmung bleibt immer begrenzt auf bestimmte Seiten eines Objekts. Ich sehe den Stuhl – und nur diesen Stuhl – z.B. von vorne. Wie aber könnte ich nun über die Wahrnehmung zu einer geschlossenen, vollständigen Vorstellung gelangen? Muss ich so lange warten, bis ich das Objekt genügend beobachtet habe, um mir sicher zu sein? Aber dann müsste ich mich selbst bei längster und genauester Beobachtung doch auf ein Eins fixieren, auf das ich dieses Objekt schließlich zusammenfasse.
Ein solches Eins könnte nun der Begriff sein, mit dem ich auf der anderen Seite die Vorstellung abgrenzen könnte. Hier müsste der signifikante Begriff Stuhl mir als Voraussetzung aller Wahrnehmungen und Vorstellungen dienen, um bereits ohne Wahrnehmung und Vorstellung das zu bezeichnen, was ich zu sehen intendiere: einen Stuhl. Hier nun kann ich mit Begriffen operieren, indem ich z.B. von Stühlen spreche, ohne sie noch wahrzunehmen oder vorstellen zu müssen, weil ich einfach nur über sie – außerhalb konkreter Situationen – denke. Dies mag mit Stühlen immer noch As­soziationen an konkrete Gegenstände mitschwingen lassen, wird aber bei abstrakten Dingen zu einem rein begrifflichen Denken, das sich über die gegenständlich-sinnliche Welt verselbstständigt.
Nun wissen wir aber bereits aus der ersten Kränkungsbewegung, dass die Entstehung begrifflicher Welten kompliziert ist, bevor sie die Wirkungen erzeugen können, die Sartre hier vorschweben. Gleichwohl betont auch Sartre durchaus den konstruktiven Charakter der Erkenntnis, indem er im Anschluss an Husserls Phänomenologie die konstruktive Seite der Beteiligung des Subjekts an der Herstellung von Wirklichkeit vor allem über die Intentionen sieht, mit denen Objekte in ihrem Sinn konstituiert werden.

Exkurs zu Husserl:
Husserl hatte die Sinndefinition von Gegenständen im Rückgang auf die Sinn gebenden Akte eines transzendentalen Bewusstseins zu klären versucht. Dabei war er darauf gestoßen, dass die Sprache eine besondere Rolle spielt, dass aber noch vor der Sprache Gesetzmäßigkeiten zu beachten sind, die im sprachlichen Phänomen erst hervorscheinen.
Husserl nun stieß auf einen Widerspruch, der in unserem Zusammenhang sehr bedeutsam wird. Welche Gegenständlichkeiten können in der Wissenschaft eindeutig und klar erscheinen? Es können dies in seiner Sicht nur ideale Gegenständlichkeiten sein, denn nur sie schließen die mögliche Vielfalt realer Gegenstände aus. Solche Idealität aber setzt eine Wiederholung des Erscheinens voraus, einen Idealtypus, der die Unterschiedlichkeit der Gegenstände selbst, die im Idealen irgendwie aufgehoben sein müsste, durch das Idealisieren selbst ausschließt. Damit sind wir in einer Paradoxie gefangen. Betrachten wir sie auf der Ebene der Zeichen, dann erscheinen ebenfalls nach Husserl „Anzeichen“ und „Ausdrücke“.4 Anzeichen, das sind Ereignisse, die, wie das eigene Erröten, wie fiktionale Geschichten, wie vieldeutige Worte usw., die Idealität kompromittieren und zu einer Ungewissheit von Sinn führen. Solche Ungewissheit erzeugt Missverständnisse, bloße Wahrscheinlichkeiten, und selbst wenn ich zu einem Anderen spreche, so bleibt in den Anzeichen ein Rest des Unausgesprochenen, der Vieldeutigkeit, eine bloße Anzeige möglicher dahinterstehender Intentionen, die nicht ausgeschöpft werden kann. Meine Ausdrücke mögen sich mit solchen Anzeichen mischen, aber sie können nicht in solchen enden. Der Ausdruck, so die These, kann sich von den Anzeichen reinigen, er kann in sich zu einer Klarheit gelangen.
Wie soll dies geschehen? Wir müssen hierbei offensichtlich von einer inneren Stimme des Ichs ausgehen, von einer Präsenz, in der jegliche Kommunikation ausgeschlossen ist, in der ein reines Vorstellen enthalten bleibt, das als fantasierte Kommunikation von der wirklichen Kommunikation, die immer auch etwas anzeigt und Anzeichen benötigt, zu unterscheiden ist. Wie aber können wir überhaupt diese Unterscheidung zwischen Fantasie oder Imaginärem und Tatsächlichem darstellen? Dies geschieht durch Zeichen. Jedes Zeichen aber steht in einer Wiederholung, die eine Repräsentation bzw. Reproduktion ermöglicht. Wie aber soll dieses Zeichen die fantasierte reine Seite berühren dürfen, wenn Husserl durch die Wiederholung, die das Zeichen erzeugt, die Seite einer reinen Vorstellung in sich in Zweifel ziehen muss?
Dies geht nur über die Pointe des transzendentalen Weges, die auch für Derrida bestimmend ist: Die Präsenz eines Sinns, der von jeder Faktizität freigestellt ist, kann nicht ein Konstrukt eines spezifischen, singulären, empirischen Subjekts und spezifischer Anzeichen hierüber sein, sondern muss gerade dieses Subjekt transzendieren. Sie muss aus der Lebenswelt dieses Subjekts sich herauslösen, indem sie dieses Subjekt überlebt, sie muss jenseits des individuellen Todes eine Wiederholbarkeit sichern, wie sie insbesondere der Schrift – so Derridas Auslegung – eignet. Weniger radikal als bei Derrida könnten wir auch davon sprechen, dass diese ideale Reinheit des Bewusstseins, die für Husserl noch Wahrheit repräsentieren sollte, in einem symbolischen, überindividuellen System gedacht wird, das nun aber umgekehrt genau das wieder bekämpfen muss, was als imaginäre Heraufkunft von Anzeichen hervorgehoben wurde. Wir haben es hier also mindestens mit zwei Widerspruchsebenen zu tun: Einerseits erscheinen Subjekte, deren Kommunikationen teils fantasiert und teils real darzustellen sind, wobei die Präsenz des Fantasierten nie vollständig real erfasst werden kann; sie wandert in Anzeichen umher, deren Kern aber in der Präsenz eines Subjekts bei sich doch zu einer Reinheit zu gelangen scheint, denn das Subjekt weiß seine Fantasien immerhin, aber gelangt dadurch, dass es sie in Zeichen verwandelt, die sie ihm aussagen, in einen Widerspruch mit der bloß einmaligen Präsentation des Imaginären – z.B. einer Vorstellung von Schönheit in einem Blick – und deren Re-Präsentation durch Zeichen.
Andererseits sind diese beiden Ebenen nun aber schon zeichenvermittelt ausgedrückt, so dass das Symbolische, wenn wir damit die zeichenvermittelte Ebene hervorheben, gegen ein Imaginäres steht und sich dieses einverleibt, obwohl beide Ebenen nicht kompatibel sind. Indem die Anzeichen ausgedrückt werden, verschwinden die Anzeichen. Dann bleibt nur das Zeichen selbst, das wie ein eigenes Leben für sich zu stehen scheint.
Radikalisieren wir dieses Zeichen, indem wir es in der Schrift erblicken und in einem Gedankenspiel aus den Wirklichkeiten des je subjektiven Lebens und Todes entfernen, dann impliziert für Derrida die Wiederholbarkeit der Zeichen „die Endlichkeit jedes Bewusstseins oder Subjekts und die ursprüngliche Möglichkeit der Repräsentation und der Fiktion (die Wahrheit ist nichts anderes als eine solche „Fiktion“).“ (Bennington/Derrida 1994, 78) Diese Dekonstruktion schließt eine Ausrichtung von Diskursen auf eine Wahrheit aus, denn die Zeichenvermittlung selbst erzeugt eine Paradoxie, indem sie durch die Universalisierung, die mit Zeichen erreicht wird, zugleich die Universalisierung menschlichen Bewusstseins in einer seiner Formen vernichtet.

Sartre wählt ein anderes Sprachspiel, um aus Husserls Widersprüchen zu entkommen. Er betont folgendes Problem: Wenn das Subjekt in sich einen Beobachter trägt, den wir „ich“ nennen, der die Wahrnehmungen kontrolliert, um an ihnen zu entscheiden, was und wie er wahr-nimmt, dann muss dieses Ich dies auch gegen die Vorstellungen tun. Auch den eigenen Vorstellungen gegenüber befindet sich dieses Ich in einer Beobachterstellung, aber sie unterscheidet sich von der Beobachtung der Wahrnehmung einer äußeren Realität. Es handelt sich bei den Vorstellungen um eine Quasi-Realität, weshalb Sartre die Einstellung des Ichs zu den Vorstellungen als Quasi-Beobachtung bezeichnet. Es ist zwar wirklich eine Beobachtungshaltung, aber sie führt zu Beobachtungen, die uns nichts lehren können. Es ist eine irrationale Qualität, die hier hereinspielt, denn meine Vorstellung gibt kein Objekt in einer inhaltlich spezifischen Seite preis, sondern enthüllt es mir immer nur im Ganzen, en bloc, als Gewissheit dieser Vorstellung im Hier und Jetzt.
Solche Vorstellungen sind Synthesen, die in sich eine Menge vergangener Erfahrungen mit Intentionen zusammenfassen, um sie zu einer gewissen Identität eines (Wieder-) Erkannten zu bringen. Ich denke an meine erste Liebe. Aber wie stelle ich sie vor? Bestimmte Perspektiven (Ort, Zeit mit spezifischen Anordnungen von Gesichtern, Figuren usw.) tauchen auf, bestimmte Intuitionen mit Verschmelzungen vergangener und gegenwärtiger Intentionen werden wach, und alles bleibt in der Schwebe: ungreifbar. Deshalb folgert Sartre, dass die Vorstellungen „anschaulich-abwesend“ sind, sie enthalten ein gewisses Nichts (Sartre 1971, 57). Und dennoch reagieren wir als Ich auf diese Vorstellungen, als wäre es eine direkt wahrzunehmende Realität, wobei unsere Reaktionen aber sehr unterschiedlich ausfallen mögen. Und unsere Intuitionen und Intentionen erweisen sich als Möglichkeiten unserer Spontaneität, denn nie können wir ganz sicher sein, wohin es unser Ich in seinen Vorstellungs-Möglichkeiten treibt. Es bleibt die Vagheit und Flüchtigkeit des Bewusstseins, weil das Imaginäre sich nicht an symbolische Eindeutigkeit festbinden lässt. „Dank dieser vagen und flüchtigen Qualität bietet sich das Vorstellungsbewusstsein durchaus nicht als ein Stück Holz dar, das auf dem Meer treibt, sondern als eine Welle unter Wellen.“ (Ebd., 58) Es ist zwar ein Bewusstsein, aber es kann sich nicht selbst zu einem abgeschlossenen Objekt – zum Gegenstand wie ein Stück Holz – werden, es ist wie die Wellen ein Medium, dessen Wellenschlag jene Bewegung symbolisieren mag, auf der die Symbole selbst treiben, so möchte ich zu Sartres Argumentation hinzusetzen.
Nun könnten wir schlussfolgern, dass das Imaginäre gegenüber dem Symbolischen eine Latenz darstellt, die immer erst im Übergang, in der Transformation ins Symbolische manifest wird. Dann aber hätten wir das Problem, aussagen zu müssen, was wir über diese Latenz, in dem die Vorstellungen wie Wellen schlagen, über dieses notwendigerweise Unbewusstes, wissen können. Dieser Weg führt zu Freud und in die dritte Kränkungsbewegung. Sartre jedoch will ihn nicht gehen, denn er streitet die Existenz eines Unbewussten überhaupt ab (ebd., 65). Er muss sie hier abstreiten – und damit auf halbem Wege stecken bleiben –, weil er das Ich als rationale Figur des Bewussten ebenso wie Husserl retten will. Im Unbewussten lauert ein Kontrollverlust, eine weitere Kränkung, die hier noch verhütet werden soll. Deshalb können Vorstellungen für Sartre nur in einem Denken stattfinden, in dem keine Gefühle und Empfindungen mit eingeschlossen sind. Das emotionale Begehren ist aus dem Imaginären hier noch verbannt, weil es überhaupt ins Irrationale zu führen scheint. Insoweit orientiert sich Sartre vorwiegend an den Manifestationen, was die oben von ihm im Spätwerk kritisierte Rationalisierungstendenz ausdrückt. Aber selbst bei solcher Rationalisierung, dies ist die positive Seite dieser Analyse, zeigen sich schon deutliche Unterschiede des Imaginären und des Symbolischen.

In der Imagination ist zunächst der Stoff, der Kontext oder die Struktur, nicht der gleiche wie in der Wahrnehmung. Wo Wahrnehmungsobjekte durch eine Vielzahl von Bestimmungen und möglichen Bezügen konstituiert werden, da sind Vorstellungen eher karg, verkümmert, diskontinuierlich, sie bleiben auf halbem Wege stehen, ihr Zusammenhang zu Objekten der Außenwelt bleibt dunkel (ebd., 60). Sie sind mit Intentionen zwangsläufig verbunden. Zusammenfassend lässt sich sagen, „dass image ‚Bild, Vorstellung‘ ein Akt ist, der auf ein abwesendes oder nichtexistentes Objekt zielt in seiner Körperlichkeit, durch einen physischen oder psychischen Inhalt hindurch, der sich nicht als das gibt, was er eigentlich ist, sondern als ‚analoger Repräsentant‘ des angezielten Objektes.“ (Ebd., 66) Die Quasi-Beobachtung bildet also Analogien, die in Repräsentanten münden, die nicht das sind, was sie zu sein vorgeben. Hiermit will Sartre auf den Bruch in der Abbildung (Repräsentation) selbst aufmerksam machen, der dadurch entsteht, dass ich Dinge der äußeren Welt wahrnehmen kann (Repräsentation) oder analog repräsentiere, wenn ich sie bloß vorstelle, dabei aber nicht unbedingt hinreichend verstehe: Denn als Vorstellungen bleiben sie mir noch unbegreiflich – imaginär.
Radikalisiere ich Sartres Anspruch konstruktivistisch, dann ist die Imagination ein psychischer Akt, der eingebildete Objekte und Kontexte konstruiert – sie können in ihrem Status alles sein, was irgendwie konstruierbar ist –, die sich als das geben, was sie jeweils sind: erfundene menschliche Konstrukte. Damit rücke ich die Repräsentanz in die Intentionalität des Subjekts ein, denn nur das konstruierende Subjekt selbst – allerdings immer im Zusammenhang seiner interaktiven Verständigungsgemeinschaft – mag wissen, was beobachtet und aus dieser Konstruktion heraus repräsentiert wird. Gleichwohl bleibt auch konstruktivistisch die Differenz der äußeren Realität und der inneren Realität, die durch Wahrnehmung mit dem Ich verbunden sind. Damit zerfällt auch konstruktivistische Beobachtung in zwei Aspekte, die ich jedoch nicht Quasi-Beobachtung im Blick auf analoge Repräsentationen, sondern äußere und innere Beobachtung nennen will. Der Begriff Quasi-Beobachtung birgt nämlich Tücken. Er unterstellt, dass ein Beobachter bereits nach klaren und allseits anerkannten Regeln beobachtet, d.h. er unterstellt eine gültige Theorie von Beobachtung. Diese Gültigkeit wird durch den Begriff der Analogie präzisiert: „Man kann die Vorstellung ‚image mentale‘ nicht gesondert untersuchen. Es gibt eine Welt der images (‚Bilder, Vorstellungen‘)5 und eine Welt der Objekte. Aber jedes Objekt, dargeboten durch die äußere Wahrnehmung oder dem inneren Sinn erscheinend, kann als gegenwärtige Realität fungieren oder als image (‚Bild, Vorstellung‘), je nach dem gewählten Bezugsrahmen. Die beiden Welten, das Imaginäre und das Reale, sind durch die gleichen Objekte konstituiert; lediglich die Zusammenstellung und die Interpretation dieser Objekte variieren. Was die imaginäre Welt wie das reale Universum definiert, ist eine Bewusstseinshaltung.“ (Ebd., 66 f.)
Und in dieser müssen, sofern es um Rationalisierung geht, affektive Zustände ausgeschlossen sein, d.h. sie werden nicht vom Bewusstseinsstrom mitgeführt. Auch das Begehren erscheint nur als vorstellende Repräsentation (vgl. ebd., 131 f.); auch hier benötigen wir also analoge Repräsentanten, wenn wir bewusst etwas aussagen wollen. Kaum deutlicher kann der rationale Anspruch an das Bewusstsein ausgedrückt werden: Das Ich soll als Bewusstsein die Kontrolle auch der imaginären Welt bewahren, indem es weiß, dass es durch gleiche Objekte konstituiert ist.
Daraus ergibt sich nun recht klar die Rolle des Imaginären: „die Funktion der Vorstellung ist symbolisch.“ (Ebd., 168) Sartre kann ja auch nur diesen Weg gehen, denn die analogen Objekte, auf die sich das Vorstellen stützt, müssen irgendwelche Schemata sein, in denen sich Bewegungsgefühle und Affekte angesiedelt haben, um intentional in Verständnisprozesse des Ichs über sich wechseln zu können. Wenn wir ein Denken in Vorstellungen beschreiben, dann wechseln wir notgedrungen in die bewusste, symboli­sche Ebene einer Darstellung. Eben deshalb muss uns das Imaginäre aus dieser Sicht als karg, kümmerlich, dunkel usw. erscheinen. Es erscheint als ein Denken in Objekten als-ob, in analogen Repräsentationen, als Quasi-Wissen von Quasi-Personen, Quasi-Gesichtern oder Quasi-Ereignissen.
Aber welches Wissen erreichen wir von den imaginären Vorstellungen? Im Zeitalter der Moderne ist das Wissen eine Narration: Es gibt immer noch eine weitere Geschichte vor der letzten, die uns erzählt wurde. Nur im Glauben an eine erste Geschichte (etwa christlich: „Am Anfang aber war das Wort“), die Menschen erfinden mussten, konnte man dem Narrativen – damit den poetischen Charakteren und Konstruktivisten – entgehen, um sich ein Eins festzuhalten, das die Imaginationen kontrolliert. Wie aber sollte dies die Wissenschaft können? Um dem unendlichen Regress zu entgehen, der aus den Wellenschlägen der Vorstellungen entsteht, die stets wiederkehren und doch unendlich variieren, „muss man“, so sagt Sartre, „eine radikale Haltungsänderung vollziehen, eine wahre Revolution, das heißt von der unreflektierten Ebene zur reflektierten Ebene übergehen. Auf dieser Ebene gibt sich das Denken nämlich gleichzeitig mit seinem Erscheinen als Denken: so ist es für sich selbst ganz und gar transparent.“ (Ebd., 193) Damit ist der Siegeszug des symbolischen Denkens bezeichnet, zugleich eine Illusion, denn auch Sartre muss zugeben, dass man nicht einfach vom unreflektierten zum reflektierten Denken einen Übergang finden kann. Das Symbolische wird sich nur transparent, wenn es das Imaginäre vollständig besiegt hat: So und so ist es, dann sind die Zeichen geordnet, die Namen vergeben, die Symbolik ist gesichert, Anderes ist ausgeschlossen. Das heißt dann auch, andere mögen es sich anders vorstellen, aber damit wird es nur falsch. Das Symbolische als Eindeutigkeit, dies hatte ich in der ersten Kränkungsbewegung ausgeführt, ist so eine Hoffnung auf Erhalt wissenschaftlicher Objektivität, zugleich aber auch eine Illusion von universellen und zeitlosen Gesetzen.
Die Verdopplung der Realität in eine wahre und eine analoge, die sich bei Sartre findet, ist nicht haltbar. Sie unterschätzt die konstruktive Tätigkeit des Subjekts, das bereits konstruiert, wenn es perspektivisch wahrnimmt. Sie muss einen Meta-Beobachter unterstellen, der jede Verwechslung von Wahrnehmung und Täuschung aufbrechen kann, was aber die Wahrnehmungsfähigkeit menschlicher Beobachter übersteigt. Konstruk­tivistisch gesehen lässt sich nicht einmal aus der Biologie als Ort physiologischer und evolutiver Festlegungen des Menschen eine Position ausmachen, wo ein solcher Beobachter eindeutig nach natürlichem Recht situiert sein soll. Er kann es immer nur in einem interaktiven sozialen Kontext und einer bestimmten sozialen, kulturellen  Fixiertheit von Verständigung. Hier geht Sartre nur den halben Weg, wenn er zugesteht, dass die Wahrnehmung immer auch intentional gebunden ist. Aber er verbleibt noch in einer Repräsentationstheorie, die das Reale wie einen abbildungsfähigen Raum betrachtet, wenn er etwa wahre Gefühle, die sich auf den Raum von Wahrnehmungen in der Realität stützen, und imaginäre Gefühle, die in den Raum des Als-ob greifen, unterscheidet (ebd., 235). Ein imaginäres Leben zu führen, bedeutet dann, ein imaginäres Verhalten und imaginäre Gefühle anzunehmen, sich vom realen Leben abzusetzen. Dies markiert bei Sartre aber immer nur eine Leerstelle im Realen selbst, das sich symbolisch angefüllt hat, aber nicht in der Symbolik aufgeht. Im Grunde gibt es gar keine imaginäre Welt: „In Wirklichkeit handelt es sich nur um ein Glaubensphänomen. Wir detaillieren diese Welt als Vorstellung nicht, wir vergegenwärtigen uns keine Einzelheiten, wir ziehen nicht einmal in Betracht, es zu tun. In diesem Sinne bleiben die Vorstellungen voneinander isoliert, durch ihre wesensmäßige Kargheit getrennt, dem Phänomen der Quasi-Beobachtung unterworfen, im Leeren“. (Ebd., 265 f.) Das Imaginäre wird durch eine undifferenzierte Masse umgeben, wobei sich ihr Raum und ihre Zeit durch die inneren Eigenschaften der vorgestellten Sachen selbst ergeben (ebd., 266). Damit aber ist das Imaginäre den vorgestellten Sachen ausgeliefert, es wird aus dem psychischen Leben abgekoppelt – zwar noch bewussten Intentionen unterstellt –, aber aus dem unbewussten Begehren, aus gefühlsmäßigen Verankerungen usw., aus allen Latenzen herausgerissen. Sartre betont dennoch, dass sich die sogenannte reale Welt, die im Wissen als symbolisch geordnete erscheint, nicht als ausschließliche für das menschliche Bewusstsein behaupten lässt. Ihr zur Seite steht eine imaginäre Welt, die in jeder konkreten Situation des realen Bewusstseins in dieser durch das Vorstellen selbst enthalten ist. Der Mensch hat die Freiheit des Imaginären, er hat die schöpferische Kraft des Vorstellens und damit stets eines Überschreitens des Realen. Allerdings entsteht daraus kein Widerspruch oder unüberbrückbarer Gegensatz, denn das Imaginäre überschreitet das Reale in der Regel nicht kontraproduktiv – dies führt in die Pathologien –, sondern repräsentiert „in jedem Augenblick den impliziten Sinn des Realen.“ (Ebd., 291) Es kann dies, weil es analog repräsentiert. Es erschließt Sphären, die zudem dem Realen entgehen. Schönheit z.B. entsteht im Imaginären, im Vorstellen selbst, aber nicht im Realen (ebd., 298 f.). Man kann dem Leben keine ästhetische Haltung gegenüber einnehmen, denn das Reale selbst ist absurd in seiner Existenz. Hier darf man nicht Moral mit Ästhetik verwechseln. Gut und moralisch kann etwas nur in der Welt des Realen sein. Über Schönheit eines Augen-Blicks aber kann man nur im Imaginären urteilen (ebd.). In diesem Sinne ist – symbolisch gesprochen – eine Ruhe eingekehrt, an der sich die phänomenologische Auslegung befriedigt. Sie meint ein rationales Modell erkannt zu haben, das das Imaginäre und das Reale als die zwei Hauptformen des Bewusstseins überhaupt verstanden hat.
Konstruktivistisch betrachtet wird allerdings hierin, so möchte ich es zuspitzen, das Reale überschätzt und das Imaginäre unterschätzt. Die Überschätzung liegt in der Reichweite, die der wahren Repräsentation noch zugegeben wird und die zu wenig den konstruktiven Anteil des Erkennens berücksichtigt. Jede „reale“ Wahrnehmung ist bereits ein Konstrukt von Wirklichkeit, wie die erste Kränkungsbewegung lehrte. In der Wahrnehmung des Wirklichen ist es schon schwierig, Wahrnehmung und Täuschung zu unterscheiden, weil die Täuschungen sich eben an die Gesetze der Wahrnehmung halten, denen wir biologisch unterliegen. Deshalb konnte Maturana zu recht darauf hinweisen, dass es konstruktivistisch gesehen hier keine eindeutige Unterscheidungsregel zwischen Repräsentation und analoger Repräsentation geben kann, denn das Wirkliche liegt sowohl in der Wahrnehmung wie in der Täuschung, weil wir nicht anders wahrnehmen können, als wir es biologisch strukturdeterminiert vermögen. Dennoch hatte ich auch darauf verwiesen, dass Maturana dann andererseits die Rolle der Verständigungsgemeinschaft, die als soziale in der Moderne immer auch eine reale ist, vernachlässigt. Es ist in der zivilen/kulturellen Gesellschaft ja längst kodifiziert und sozialisiert, was als Wahrnehmung und was als Täuschung zu gelten hat. Auch wenn niemand hier eine Geschlossenheit der Klärung behaupten könnte, so wird alles Neue in diesem Sinne dem symbolischen Ordnungssystem – insbesondere in den Naturwissenschaften – unverzüglich eingeordnet, um die Beobachtung gegen den Beobachter einsetzen zu können. Und hier erscheint schnell wieder Sartres Bild von einer Repräsentation und analoger Repräsentation, das sich als Illusion der symbolischen Ordnungswelten zwangsläufig einstellt, wenn wir so etwas wie Wissenschaft mit konstanten Symbolbezügen betreiben. Repräsentation wäre dann die von der Verständigungsgemeinschaft festgelegte symboli­sche Ordnung, analoge Repräsentation die auch vom Subjekt quasi erlernte und soziali­sierte Wiedergabe dieser Symbolordnung – allerdings unabhängig davon, welche Wirklichkeiten an sich – über die wir nichts sagen können – wir zugrunde legen. Insoweit entspricht Sartres Klassifizierung zwar keiner konstruktivistischen Sicht an dieser Stelle, gibt aber gut die Praxis des Wissenschaftsbetriebes wieder.
Die Unterschätzung liegt in der Rationalisierung des Imaginären, das sie entleert, um es als karge, kümmerliche Welt der realen Erfahrung entgegenzusetzen. Gleichwohl gebietet solche Kargheit und Kümmerlichkeit über das Erfassen der Schönheit und anderer sensationeller Eindrücke, die wir en bloc, auf einen Schlag verstehen, obwohl wir das nicht näher angeben können und sofort zerreden, wenn wir es symbolisch zu begreifen suchen. Aber welche anderen Teile in uns gehen in diese Perspektive ein? Ist es ein inneres Begehren, sind es Projektionen? Oder sind es Erfahrungen mit anderen Menschen, interaktive Verständnisse, die zu unerkannten imaginären Bedeutungen wurden? Ein rationalistisches Konzept verweigert hierauf die Antwort, wenngleich es trotz des Rationalismus erkennen muss, dass es Imaginäres gibt.
Aus dem sehr umfangreichen Werk Sartres will ich eine Schlüsselszene aus „Das Sein und das Nichts“ herausgreifen, die das Imaginäre verdeutlicht und zugleich aufzeigen lässt, wo Sartre es zu sehr beschränkt. In seinem Kapitel über den „Blick“ (1989, 338 ff.) beschreibt er zunächst die dualistische Grundkonfiguration zwischen einem Selbst und einem Anderen. Wie soll ich den Anderen als Objekt ganz so erkennen, wie er ist? Ich kann einen anderen Menschen kaum verobjektivieren, wenn ich nicht bloß meinen Blick gelten lassen will, sondern anerkennen muss, dass der Andere als ein Selbst auch mich als Anderen sehen kann. Allein der Wechselbezug erschüttert alle meine Symbolisierungsversuche, mit denen ich Klarheit über einen Anderen erzielen will. Nehme ich den Anderen als meine Konstruktion, dann binde ich ihn an die Ziele meines Beobachtens, meiner Entfernungen, die ich den Objekten und Zielen zuschreibe, ich nehme ihn in Besitz: für mich. Darin kann es sogar geschehen, dass er in dieser Welt selbst abwesend ist, weil er in meiner Welt nicht vorkommt, wie er eigentlich ist, sofern ich ihn sich selbst beschreiben lassen würde. Genau dies aber impliziert einen Wechsel: vom Sehen zum Gesehen-Werden. Und muss ich als Beobachter in einer Welt, der weiß und gelernt hat, was Sehen bedeutet, nicht zugleich logisch schließen, dass alle Anderen mich beobachten? So bin Ich mit Anderen zirkulär verbunden: „Das ‚Vom-Anderen-gesehen-werden‘ ist die Wahrheit des ‚den-Anderen-Sehens‘.“ (Sartre 1989, 343) Solche Wahrheit wurzelt also in einer zirkulären Beziehung, die im übrigen eine alltägliche und ständig wiederkehrende ist. Deutlich wird sie im Blick selbst, aber sie kann die unterschiedlichsten Formen annehmen: Etwa, wenn mich die Fenster in einer Straße anblicken oder wenn ich im Wald in der Finsternis mich beobachtet glaube.

Vor diesem Hintergrund eröffnet Sartre ein Sprachspiel, das man als Urszene seines Werkes über das Imaginäre deuten kann, weil sich hierdurch der Blickwinkel, der sich zunächst immer aus der Sicht eines Ichs auf die Dinge in der Welt bezieht, nunmehr auf die Begegnung mit Anderen richtet, und die damit die Argumentation des Buches aus der isolierten Beschreibung menschlicher Existenz in eine Beschreibung von „Men­schen unter Menschen“ wendet.6 In seinem Sprachspiel geht Sartre von einem Ich aus, das vor einer Tür horcht und durch ein Schlüsselloch späht, und das dabei ganz selbstvergessen ist. Von seinen Motiven wissen wir nichts: Es könnte Eifersucht, Neugier oder etwas Lasterhaftes sein, was es antreibt. Stellen wir uns nun einen Menschen vor, der nichts dabei denkt: Er hört eine Unterhaltung und sieht bloß ein Schauspiel, er steht durch Mittel wie Tür und Schlüsselloch getrennt von denen, die er beobachtet. Das ist seine Situation. Diese zeigt ihn in seiner Faktizität wie auch in seiner Freiheit: Faktisch lauscht und späht ein Ich, aber es hat die Freiheit, dies zu tun oder zu lassen. Dann aber ertönen Schritte, und das Ich wird gesehen. Was soll das heißen?
Hier schon endet die Szene, die Inszenierung, die uns Sartre in seinem Sprachspiel bietet. Die Antwort auf die Frage erschließt sich uns durch Reflexion. Der Ausgangspunkt war ein Ich, dessen Kontext (Eifersucht, Neugierde, Laster) selbst unklar ist, dessen Beziehung zu belauschten und erblickten Objekten offen bleibt, aber dessen Beziehung zu einem Anderen nunmehr als unausweichlich erscheint. Diese Unausweichlichkeit aber verändert mit einem Schlag das Ich, das Subjekt, das sich hier zunächst ganz selbstvergessen und für sich wähnen konnte. Es sieht sich, indem es sich als gesehen sieht. Damit nimmt es sich aus einer neuen, zuvor verschlossenen Perspektive wahr. Es erlebt sich hierin und erfährt dabei Scham oder Stolz, je nachdem, wie ihm die Blicke des Anderen begegnen. Vor dieser Tür erwischt, so erstarrt es vor Scham, so können wir die Inszenierung Sartres deuten, auch wenn die Motive selbst ganz unklar sein mögen. Es geht ihm hier um etwas Grundsätzlicheres als um konkrete Anlässe für Scham oder Stolz, es geht ihm um ein interaktives Grundverständnis menschlicher Existenz überhaupt: Ein Ich ist immer Objekt für Andere.7 Darin wurzelt Entfremdung: So wie ich als fremd in dieser Haltung vor der Tür erblickt werde, so blicke ich jenen Fremden an, der mich durch seinen Blick verobjektiviert, ein Blick, der mir nicht gleichgültig bleiben kann.
Worauf Sartre hier abzielt ist die Rückkopplung des Blickens und Hörens, des sich wechselseitigen Entfremdens durch Blicke, die eine Beziehung über den Sinn in der Welt erst herstellen, in der Menschen miteinander existieren. Insoweit ist es völlig gleichgültig, was ihre Wünsche und Interessen sind, was sie begehren, wenn sie durch Schlüssellöcher schauen oder sonst etwas tun, denn der Blick des Anderen transzendiert in jedem Falle meine Transzendenz. Erst in der Interaktion komme ich mit anderen Worten auch in eine Beziehung zu mir selbst, soweit und insofern ich meine Beziehung durch Andere erblickt und damit für mich konstituiert sehe. Oder konstruktivistisch gesprochen: Die Zirkularität von Beziehungen erst erlaubt dem Ich-Beobachter, sich in der Welt selbst als Blickender zu situieren, also sich als Beobachter von Beobachtungen anderer Beobachter zu unterscheiden und hierüber zu verständigen. Hier hat mich dieser Andere vor der Tür erwischt, er hat mich belauert, er könnte mit seiner Hand in der Tasche eine Waffe tragen, er strahlt mich mit dem Licht seiner Taschenlampe an, so führt Sartre die Szene fort. Was kann ich auch vom Anderen wissen, was wird er gegen mich ins Feld führen? Der Andere erscheint als heimlicher Tod meiner Möglichkeiten, als meine Furcht vor ihm, er weckt Ängste in mir, was alles die Entfremdung verstärkt. Es gibt damit keine Wahrheit meines Verhaltens mehr, sondern in der Beziehung nur noch Wahrscheinlichkeiten; ich bin nicht mehr Herr meiner Situation. Der Blick des Anderen teilt mir Raum, Zeit und soziale Intentionen mit, die mich wie ein Netz gefangen nehmen: Es erscheint ein Panoptismus, wie Foucault es aus seiner ganz anderen und doch ähnlichen Sicht auf dieses Verhältnis nennt, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt.
Und doch gibt es in dieser Situation des Ichs Freiheit. Es ist als Ich nicht vollständig entfremdet, denn es weiß, dass das Erwischtwerden selbst nur wahrscheinlich ist. Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Welches ist echte und falsche Scham? Diese Fragen, so sagt Sartre, führen uns nicht weiter, denn an der Konstruktivität und Wahrscheinlichkeit des „In-der-Welt-Seins“ ist ja gar kein Zweifel, denn was die Blicke jeweils berühren, mag unterschiedlich sein, aber sicher ist, dass ich erblickt werde. Mein „Für-Andere-Sein“ ist ein Faktum meiner menschlichen Realität, weil ich nur in Beziehungen existieren kann, wenn ich mich nähere, entferne, Entdeckungen in der Welt betreibe, was in unendlichen empirischen Variationen geschehen kann. Wenn ich für Andere zum Objekt werde, dann ist mir der Andere gegenwärtig. Anders kann ich gar nicht zum Objekt werden. Dies mag alles nur wahrscheinlich oder sogar täuschend stattfinden, aber es findet statt. Es findet statt als konkrete und wahrscheinliche Anwesenheit eines Anderen in meinem Erfahrungsfeld, wobei mein „Erblickt-Werden“ allerlei Erlebnisse wie Scham, Zweifel, in mir wachrufen kann. Erneut bieten sich unendliche Variationen an. Aber das interaktive Grundgeschehen, dass ein Ich weder ausschließlich „für sich“ und auch nicht bloß „für Andere“ ist, bleibt unberührt.
Und doch müssen wir in diesem unterstellten wechselseitigen Bezug von Ich und Anderem noch einmal einhalten. Was ist, wenn der Andere, der mich vor der Tür erwischt, von mir abgewiesen wird? Ich negiere seine Intervention, so wie sein Blick es war, der mich abgewiesen hat. Sartre sagt zur Anerkennung oder Abweisung: „Ich kann ein Bewusstsein, das mich nicht ergreift, weder ergreifen noch begreifen. Ein einziges Bewusstsein gibt es, das mich weder ergreift noch abweist und das ich selbst begreifen kann; das ist aber nicht ein irgendwo außerhalb der Welt vereinzeltes Bewusstsein, sondern mein eigenes.“ (Ebd., 376)
Dies ist die Grundbedingung des Anerkennens: Ich weigere mich, ein Anderer zu sein, damit der Andere derjenige sein kann, für den mein „Für-Sich-Sein“ ist. Dabei setze ich Grenzen, die mein Objekt-Ich darstellen, indem ich mich als mein „Ich“ behaupte, jene Behauptung, die mich als Ganzheit zu einer singulären, individuellen Gestalt macht, die zugleich imaginär und unbegrenzt erscheint, aber auch jene Grenze, die symbolisch durch die Reihung von begrenzten Zeichen entsteht, mit denen ich mich real von Anderen abweise und mich darin mit ihnen verständige. In all diesen grenzsetzenden Akten aber erscheint meine Freiheit – oder die Freiheit eines Anderen –, die sich nun zirkulär als Freiheiten umschließen, und in den konkreten Verbindungen mit Anderen (vgl. ebd., 464 ff.) erscheinen Einstellungen zum Anderen (Liebe, Sprache, Masochismus), deren Scheitern Haltungen (Gleichgültigkeit, Begierde, Hass, Sadismus) stimulie­ren mögen, die diese Freiheiten antreiben, die sie in Situationen selbst erscheinen lassen.
Ich will zwei Kritiken an dieser Inszenierung Sartres diskutieren, bevor eine eigene Einschätzung folgt.
Axel Honneth (1990, 142 ff.) hebt zunächst hervor, dass gegenüber anderen Theorien, die auch schon die Wahrnehmung des Anderen für ein Subjekt betonten, die Pointe bei Sartre darin besteht, dass es hier das Erblicktwerden des Subjekts durch einen Anderen ist, der dieses Subjekt zwingt, zu einem Bewusstsein über sich zu gelangen. Aber hierbei scheint die Blickrichtung einer intersubjektiven Kommunikation schon wertend bestimmt zu sein: Wenn das Subjekt auf den Anderen blickt, dann müsste es um Maßstäbe und Perspektiven einer gelingenden Kommunikation ringen, wohingegen bei Sartre deren unvermeidliches Scheitern schon angelegt ist. Deshalb spricht Sartre ja auch vom „Tod meiner Möglichkeiten“, denn der Blick des Anderen legt mich räumlich, zeitlich und sozial fest, er verdinglicht meine zuvor unbegrenzten Möglichkeiten auf die Horizonte, in denen ich mich erblickt sehe. Dies ist ausweglos. Das Subjekt kann allenfalls durch Abweisung den Anderen auf das festlegen, was es erblickt, was freilich nur zu einer wechselseitigen Verdinglichung führt, wenn dies ein Zeuge solcher Interaktion beobachten würde. Sartre ist ein solcher Zeuge, weshalb er die konkreten Haltungen in der Intersubjektivität analysiert, die dabei im Detail entstehen. Honneth nun setzt seine Kritik auf der Basis an, die ich eingangs mit Hegel fixiert habe: Der intersubjektive Kampf um Anerkennung erfolgt vermittelt über „etwas“, was sich für ihn zunächst in Qualitäten ausdrückt. Ein Blick, so argumentiert er, sagt ja etwas inhaltlich aus, er motiviert, entmutigt oder was auch immer, aber er ist nicht bloß ein Blick. Hinter dem Blick, so können wir auch sagen, lauert ein normatives Verständnis unseres Selbst wie auch des Anderen, das wir nicht einfach übergehen können. Zwar wird dies bei Sartre durchaus angedeutet, denn er lässt konkrete Möglichkeiten wie Eifersucht, Neugierde oder Lasterhaftigkeit ja zu, aber er verfolgt sie nicht weiter, er geht auch nicht auf das Begehren ein, auf etwas, was dahinterstehen könnte, sondern verbleibt schlicht in der Situation des Erblicktwerdens. Sartre bezweifelt offenbar jenes „Etwas“, das als sinnvolle Instanz einer Vermittlung, wie es uns Hegel lehrte, gelten könnte. Denn nur wenn wir mit diesem Etwas etwas in den Händen hielten, das unsere subjektiven Handlungen untereinander, gegen- und miteinander koordinieren könnte, wäre es entscheidend, auf die normativen Gehalte der einzelnen Blicke zu schauen und diesen ein symbolisches Gefüge, einen hinreichenden und bewährten Kontext zu geben, der übergreifend für alle Subjekte gilt. Honneth selbst, der hier dem Ansatz von Habermas folgt (vgl. dazu genauer Kapitel II. 2.4), sieht für sich in der sprachlich vermittelten Kommunikation den notwendigen Weg einer Verständigung, die über die einzelne normative Identität verschiedener Subjekte zu einem Austausch kommen kann. Nur so scheint überhaupt die Hoffnung Hegels bewahrt zu bleiben, dass die Subjekte im Kampf um Anerkennung einerseits ihre Identität bewahren, aber auch zu einer wechselseitigen Versöhnung gelangen, in der sie die subjektiven Begrenzungen verlieren, um in menschlicher Gemeinschaft als Gleiche zu interagieren.
Sollte diese Kritik richtig sein, dann wäre aber zugleich die Unterscheidung zwischen Symbolischem und Imaginärem in der radikalen Form Sartres hinfällig. Denn nach Sartre kann ein Blick, der ein Bild über den Anderen entstehen lässt, nie mit dem Blick und dem Bild eines Anderen deckungsgleich sein. Auch eine symbolische Verstän­digung über die Bilder, die durch Blicke erzeugt werden, kann niemals vollständig das Imaginäre erfassen, das ja eben darum vom Symbolischen unterschieden ist, weil wir als Subjekte unterschiedlich imaginieren. Wären wir hierin gleich, so würden wir gar nicht erst den Bruch hin zum Anderen spüren, die Entfremdung, die eben schon darin lauert und nicht aufhebbar ist, dass wir aus der Sicht des eigenen Bewusstseins nie ein anderes im vollen Sinne begreifen können. Insoweit muss aus Sartres Perspektive die Kritik Honneths zurückgewiesen und mit einer Gegenkritik belegt werden: Glaubt Honneth denn, dass die bloße symbolische Einigung über etwas – hier sprachliche Verstän­digungs­regeln in menschlicher Kommunikation – tatsächlich dazu führen kann, den grundsätzlichen Bruch zwischen mir und Anderen zu übergehen? Kann er nicht erkennen, dass dies selbst eine symbolische Illusion darstellt, weil und insofern sie das Imaginäre schon ausklammern muss? Ein Subjekt ist mehr als eine normative Identität, wenn wir außer dem Symbolischen, worüber es spricht, auch das Imaginäre, was nie gänzlich besprochen werden kann, berücksichtigen.
Aus der Sicht einer interaktionistischen Beobachtertheorie stehen sich hier nicht nur zwei Beobachter gegenüber, die mit unterschiedlichen Perspektiven die Welt des Kampfes von Subjekten betrachten. Bei Honneth ist der gesellschaftlich wünschenswerte Zielpunkt eine Verständigung aller mit allen auf der Basis einer kommunikativen Gleichheit, die für Sartre schon eine Illusion ist. Dies heißt nicht, dass Sartre begrenzte Verständigung ausschließt, aber es wäre ein großer Fehler in der menschlichen Kom­munikation, hierbei nur die symbolische Ebene zu bevorzugen. So wird der Beobachter selbst der Breite seiner Blickmöglichkeiten nicht mehr gerecht. Und hier erst verstehen wir, weshalb Sartre dem Subjekt vor der Tür völlig freistellt, welche Motive es hat: Es sind die konstruktiven, normativen, zeitlichen, räumlichen usw. Möglichkeiten der Subjekte selbst, die ihre Freiheit ausmachen, die aber insoweit begrenzt sind, wie sie im Wahrnehmungsfeld eines Erblicktwerdens durch Andere stehen. Insoweit besitzt Sartre weitreichendere Kategorien zur Erfassung des Subjekts als sein Kritiker. Zugleich mag die existenzielle Position Sartres auf der politischen Ebene des aufgeklärten Subjekts als unbefriedigend erscheinen. Politisch kämpfende Subjekte, die für eine bessere Welt streiten, lassen sich mit Honneth und Habermas deutlich besser beschreiben. Aber Sartre geht es darum, auch für solche Subjekte aufzuweisen, dass ihr symbolischer Kampf – so gerechtfertigt er sein mag – existenziell nicht aufgeht. Nehmen wir allerdings Sartres eigenen Lebensweg, so hat er in seiner Wende zum Marxismus später diese existenzielle Sicht aufgegeben, weil er die politische Hoffnung auf das aufgeklärte Subjekt ebenfalls kommunikativ zu erreichen versuchte.
Matthias Waltz (1993, 71 ff.) kritisiert an Sartre, dass er das Begehren, was hinter den Phänomenen lauert, die er inszeniert hat, unterschätzt. Im Erblicktwerden selbst erscheint ja in dem Beispiel eine Scham, die nur dann wirksam wird, wenn sich der Erblickte ertappt fühlt. Aber wobei? Gerade hier ist Sartre ja offen geblieben, weil es unterschiedliche Begehren wie Eifersucht, Neugierde, Lasterhaftes sein könnten, die eine Rolle spielen. Waltz nun aber behauptet, dass das Begehren darauf hinausläuft, dass es das Angeschautwerden erträgt (ebd., 72). Denn im Kampf um Anerkennung, so ließe sich behaupten, muss das Subjekt seinem Begehren eine Gestalt geben und diese durchsetzen. Aber genau hier erscheint die Szene bei Sartre als missglückt, denn das Subjekt verteidigt gar nicht sein Begehren, es findet hier in keine „Normalität“, wie Waltz sagt. „Die Realisierung des Begehrens, die Verwandlung der Beschämung in Anerkennung ist nur möglich, wenn das Subjekt sich grundsätzlich damit abgefunden hat, das zu sein, was die Anderen in ihm sehen. Es muss sich dem Code unterworfen haben, der das Begehrenswerte regelt.“ (Ebd., 75)
Diese Kritik greift auf die dritte Kränkungsbewegung und hier insbesondere auf Lacan voraus. Sie unterstellt, dass Sartre die Möglichkeiten einer bejahenden („normalen“) Identifikation verneint, weil sie überhaupt den Status eines Subjekts, das nur Subjekt bleibt und nie zum Objekt für einen Anderen – und somit letztlich vermittelt über dessen Rückwirkungen auch für sich selbst – werden kann, verneinen muss. Sartre argumentiert von einer Position aus, die nur „alles oder nichts“ kennt, weil das Symbolische und das Imaginäre in einem unüberbrückbaren Gegensatz bleiben. Zu einer Identifikation im Sinne einer Beziehung der Subjekte – vermittelt über ihr Begehren – aber gehört es, dass das Symbolische begrenzend in das Imaginäre eingreifen kann, auch wenn es den Gegensatz zum Imaginären niemals auflösen wird.
Heikel an dieser Kritik bleibt die Normalität, die sie unterstellen muss, um sich am Konstrukt ihrer Sicht von Wahrheit zu befriedigen. Der Beobachter soll sich dafür entscheiden, dem Symbolischen offenbar doch mehr Gewicht einzuräumen als dem Imaginären, das hier für die Trennung steht. Dann aber müsste eine ausgewiesene Theorie des Begehrens entwickelt werden, die dies zu begründen hätte. In dieser Kränkungsbewegung verfügen wir aber noch nicht über eine solche Theorie.8
Für mich steht eine andere kritische Erörterung im Vordergrund, denn zunächst kann ich Sartres Konstruktion, die die Subjekte als unabhängig voneinander und als prinzipiell nicht ineinander aufgehende und normativ oder symbolisch vereinigte charakterisiert, durchaus akzeptieren. Es sind ja keine isolierten Subjekte, sondern über das Erblicktwerden miteinander vermittelte, die aber durch die Erkenntnis ihrer eigenen Vermittlung keine Hoffnung haben, sich als gleich und irgendwie harmonisch anzusehen, denn das An-Sehen selbst unterscheidet sie.
Und dennoch ist das bisherige Bild illusionär, wenn wir es nicht auf eine weitere Ebene der Betrachtung heben. Die Inszenierung, die uns Sartre gegeben hat, schließt ja nicht nur einen Zirkel zwischen einem Ich vor einer Tür, das von einem Anderen erblickt wird, sondern umfasst auch den Beobachter Sartre als Autor und uns als Leser. Die ganze Inszenierung macht nur durch ihn und uns als Zeugen überhaupt einen Sinn. In dieser Rückkopplung zu den Zeugen aber ist der Blick eines Dritten betroffen, den Sartre vernachlässigt und wodurch sein Modell für mich bereits in seinen Grundzügen der bloßen Interaktion und schon vor einer Betrachtung des Begehrens brüchig wird. Die Grundfigur des Erblicktwerdens ist zwar durch den Blick eines Anderen möglich, aber als Theorie, wie sie Sartre intendiert, nur über den Blick eines Dritten erfassbar. Ich will dies für das imaginäre wie symbolische Spektrum der Szene diskutieren.
Imaginär kann ich mir das Erblicktwerden in meiner singulären, individuellen Art vorstellen. Hier gilt eine Mannigfaltigkeit von Möglichkeiten, von Scham, Zweifel oder auch Stolz und allen möglichen und nur irgendwie vorstellbaren Bildern und inneren Anschauungen hierüber. Aber es ist die Grenze meines Imaginären, dass ich es noch nicht einmal an den Anderen vermitteln kann, sondern nur in mir vermittelt erscheine, weil ich erblickt werde. In diesem jähen Moment verspüre ich meine Begrenzung, das Ende meiner unendlichen Möglichkeiten durch die Festlegung des Blickes des Anderen. Ich könnte nun den Kampf gegen diesen Anderen aufnehmen, und so wird es geschehen. Aber – und nicht nur in diesem besonderen Fall einer theoretischen Illustrierung – ich blicke auch noch auf einen anderen Anderen, auf einen Dritten, mag es nun ein irgendwann in mir durch irgendwen mit aufgerichtetes Bild von etwas sein, oder wie in unserem Beispiel Sartre selbst oder ein beliebiger Leser. Dieser Dritte ist in mein imaginäres Konstrukt eingewoben, denn eine Vorstellung in einem imaginären Bild, wie immer es ausgestaltet sein mag, erschöpft sich nicht in der Dualität einer Begegnung mit einem Anderen, sondern übersteigt diese.
Dies gilt in zwei Richtungen. Gesetzt sei zunächst der theorielose Fall, der von der Inszenierung Sartres absieht, wo er und wir als Dritte ohnehin notwendig sind. Stellen wir uns also nur das Ich vor der Tür und einen beliebigen Anderen, der kommt, noch einmal in ihrer abgeschlossenen Situation vor. Sofort kommt der Einwand: Immer noch sind wir als Leser jetzt ja als Dritte betroffen. Also ergeht zunächst meine Bitte, von dieser Betroffenheit abzusehen. Stellen Sie sich vor, dass Sie alleine irgendwann vor einer Tür ohne weitere Beobachter standen, als ein Anderer kam. Dann entsteht ein elementarer Zirkel: Ich werde erblickt, indem ich blicke, wie ich erblickt werde usw. Der Andere aber wird erblickt, indem er erblickt usw. Sartre nun akzentuiert die Szene auf einen Blick, aber in Wirklichkeit fing es damit nicht an und hört es damit nicht auf. Es ist ein Hin- und Hergeblicke, was zu den unterschiedlichsten Gefühlslagen und Assoziationen verleitet. Sie betreffen das Bild, die Vorstellung selbst, sind also bei beiden imaginär präsent, um in dieser Präsenz aber auch sofort in symbolische Deutungsmöglichkeiten umschlagen zu können, die z.B. „Hab’ ich dich endlich erwischt“ oder „Wie peinlich dies für mich ist“ lauten. Und doch ist diese Dualität eine Illusion, denn auch hier hat es bereits ein Drittes gegeben und wird es auch eins in der Zukunft geben. Denken wir auf unsere ersten bewussten Schritte in dieser Welt zurück, dann erkennen wir ihn immer, diesen Blick des Dritten: Wenn ich als Kind nach den ersten Objekten oder dem Anderen – ersten Gegenständen oder Personen – in dieser Welt blicke, um sie zu ergreifen, um Besitz von ihnen als „meinem“ Objekt zu erlangen, dann ist der Blick zum Dritten – zu meiner Mutter, zum Vater, zu Geschwistern, den ersten Erziehern und Lehrern usw. – eine Selbstverständlichkeit, denn ich muss mich vergewissern, was in dieser Welt möglich ist. Meine Freiheit baut sich erst auf den Erfahrungen solch blickender, erblickter Möglichkeiten auf. Dieser Blick zum Anderen baut sich als ein Bild der Rückkopplung mit dem Anderen in mir auf, ohne noch den direkten Vergleich mit dem Anderen zu benötigen: So erlebe ich Situationen im Spannungsfeld von schön, angenehm, behaglich, zärtlich usw. oder hässlich, feindlich, fremd, gewalttätig usw., weil und insofern sie über meinen Blick zum Anderen, der nach Ordnung in der Welt sucht, und durch mein Erblicktwerden beim Anderen, das mir Ordnung gibt, längst mit Assoziationen versehen sind, die sich bis hin in meine Imaginationen mit meiner ureigensten Kraft von Wahrnehmung und Vorstellung der Welt verwoben haben. Und wen auch immer wir als Subjekt und Anderen uns in welcher Szene auch immer in ihren Blicken rekonstruieren wollen, so kommen wir über das Zugeständnis des Blickes auf einen Dritten nicht hinweg. Dieser unsichtbare Dritte aber – und dies ist bei Sartre später durchaus erkannt9– hat uns bereits Möglichkeiten vorgezeichnet, die zwar nicht unsere Freiheit verhindern, die sie jedoch begrenzen.
Wenden wir nun zweitens diesen theorielosen Fall in eine Theorie, so rücken wir – als Theoretiker – an die Stelle dieses beobachtenden Dritten – oder eines seiner Nachfolger –, um uns darüber zu verständigen, was wir über uns und die Anderen wissen. Es ist nie nur ein Ich und ein Anderer, die wir zu erblicken vermögen. Damit aber zerfällt Sartres Urszene uns in unterschiedlichste Perspektiven, von denen bloß noch die Begrenzungen nach imaginär und symbolisch als allgemeine Beobachterkategorien erscheinen mögen. Und auch hier müssen wir – eben weil es immer den Blick des Dritten gibt – noch weitere Zugeständnisse machen. Als Dritte formulieren wir uns nämlich symbolisch über die Szene des Erblicktwerdens. Als Dritte, deren Blicke und deren Erblicktwerden in einer Sozialisation verinnerlicht wurden, führen wir einen symbolischen Kampf auch im Inneren der Subjekte, die vor unseren Geboten, Normen, vor unserer Moral stehen, wenn sie beschämt oder trotzig vor einer Tür erwischt werden. Als Dritte begrenzen wir die Imaginationen, kontrollieren sie bis zu gewissen Grenzen, indem wir sie stets ins Symbolische überführen. Dann aber haben wir nicht einmal mehr die Gewissheit eines singulären, individuellen und kreativen Imaginären, von dem Sartre ursprünglich ausgegangen war, sondern müssen dieses auch noch durch das Erblicktwerden begrenzen. Wann immer ein beliebiges Subjekt sich etwas imaginiert, so wäre nach dieser Einsicht in das Erblicktwerden und die Blicke eines Dritten, die hierbei unvermeidlich auftreten, zu sagen, sind seine Imaginationen schon über jene Perspektiven und Blicke mit bestimmt und ausgerichtet, die von Anderen kommen. Dann aber entsteht die Frage, ob wir nicht doch das eigene Imaginäre wieder einem symbolischen Anderen opfern müssen.
Das Problem ist von mir jetzt soweit verschoben worden, dass ich über jene inneren Kräfte des Subjekts spekulieren müsste, die als sein eigenstes Begehren über die Blicke der Anderen hinaus sein Blicken antreiben, um mit dem imaginierten Erblicktwerden zurück in die Kommunikation zu treten. Diesen Weg verfolgt Sartre nicht systematisch, obgleich er ihn durch die Arbeiten Lacans kennt. Aber seine Theorie wird im Spätwerk immer offener für meine Unterscheidungen, weil auch Sartre das Symbolische zwar als Lösung einer durch Menschen konstruierten Realität sieht, in die aber das Imaginäre sich nicht vollständig auflösen lässt.
Deshalb werden Sartres Aussagen über das Imaginäre in seinem Spätwerk relativiert. In seinem Buch über Flaubert untersucht Sartre imaginäre Personen, die wie Flaubert selbst Rollen spielen. „Der Mensch gleicht entweichendem Gas, er strebt hinaus ins Imaginäre. Das tat Flaubert sein ganzes Leben lang. Gleichzeitig musste er jedoch die Realität fixieren, weil er sie hasste. Das ist das ganze Problem der Beziehung zwischen dem Realen und dem Imaginären, das ich an Flauberts Leben und Werk studieren will.“ (Sartre 1971, 23 f.) Dies steht auch im Zusammenhang mit Sartres persönlicher Wende hin zum Marxismus. Die Vorstellung einer neuen, einer besseren Gesellschaft, die Sartre hiermit verbunden hat, spiegelt sich zwischen dem, was wir an unserer Gesellschaft hassen, und dem, was wir uns als bessere Welt imaginieren können. Und doch ist Sartre differenziert genug, hierin Brüche und Widersprüchlichkeiten aufzuweisen. Entsprechend seiner phänomenologischen Hintergrundkenntnisse geht er davon aus, dass Handlungen nicht einfache Abbilder von instruktiver Interaktion sind, sondern motiviert sein müssen. Insoweit gibt es zwar einen Diskurs des Anderen, der sich in meine Vorstellungen einschleicht, aber zugleich bedingt dies auch, dass das Ich, in das man sich eingeschlichen hat, im Anderen unterzubringen ist (vgl. Sartre 1977, I, 20). In das „Sein und das Nichts“ hatte Sartre bereits dargelegt, dass Handlungen und Motive immer mit der Freiheit des Subjekts verbunden sind, mit seinen konstruktiven Akten, so können wir auch sagen, und er betonte eindringlich, dass der motivierte Sinn, der dem Handeln zugrunde liegt, nicht aus irgendeiner Ordnung „an sich“ hergeleitet werden kann. Aber schlimmer noch: Auch die konstruktiven Akte selbst sind nur in ihrer Symbolvermittlung so eindeutig, dass wir sie kodieren können, um uns darüber zu beruhigen. Singuläre, individuelle, kreative Akte aber, die ja auch konstruktive Akte sind, können nicht abgeleitet werden, weil wir hierfür einen Raum des „An-sich“ benötigten, den wir aber bereits als zerstört sehen müssen. So erreichen wir symbolisch in unserem Verstehen eine Ahnung dessen, was singulär, individuell und kreativ auftritt, aber durch die Kodierung im Symbolischen laufen wir bereits Gefahr, es zu verfehlen. Hieraus erwächst eine „Hermeneutik des Schweigens“. Da dieses Schweigen aber im Erleben stattfindet, sieht sich Sartre in seinen späten Schriften zunehmend gezwungen, den Begriff des Bewusstseins durch den des Erlebnisses zu ersetzen (vgl. Frank 1990, 290 ff.). Aber die gelebte Erfahrung endet nicht in Beliebigkeit, sondern Sartre hält am Selbstbewusstsein fest, dass es die Kraft und die Macht hat, sich in den Tiefen seines Erlebens selbst auszuloten. Der Riss zwischen einem Sichselbstverstehen, das unmittelbar bleibt, und allen symbolischen Verallgemeinerungen kann nicht überwunden werden, denn die Unmittelbarkeit trägt einen Mangel an Wahrheit, sie wurzelt in der Singularität eines Stils, den keine symbolische Weltsicht aus den Perspektiven bestimmter Fachrichtungen aufheben kann.
Damit sind Grenzen von Disziplinen bezeichnet. Kein Ökonom, kein Jurist, kein Biologe, kein Soziologe oder Psychologe (oder wer auch immer) reicht an dieses Singuläre heran, das durch die Praxis der gelebten Erfahrung jedes Wissen in einem Noch-Nicht oder Nicht-Ganz, in einer Schwebe hält, die im Vertrauen auf symbolische Ordnungen besonders schwer zu ertragen ist.
Was bleibt uns nach diesen Erörterungen als das Imaginäre? Insofern das Imaginäre bewusst wird, erscheint es als eine Grenzfläche hin zum Symbolischen. An dieser Grenze lässt sich immer auch das Singuläre, das Individuelle, aber auch das Kreative ausdrücken. Das Imaginäre ist aber auch ein Vermitteltes, nicht bloße Wahrnehmung oder rein eingebildete Bilder einer reinen Subjektivität und Singularität, sondern hierin ein Erblicktwerden, das sich zirkulär mit den Blicken eines Anderen über die Blicke eines Dritten verschlingt. Und dieses Verschlungenwerden lauert als Gefahr stets im Hintergrund menschlicher Kommunikation: Sei es, dass dieser Dritte ein Gefährte an meiner Seite ist, eine Bezugsperson, die mir wichtig ist, damit ich meine Imaginationen an seinen Blicken ausrichte; sei es aber auch eine Sache, eine Ideologie oder ein mystifizierter Glaube, die sich esoterisch an meine Vorstellungswelten hängen und von denen aus mein symbolisches Streben unbewusst (imaginär) geleitet wird. Dem Imaginären wohnt so der Blick eines Dritten inne, es ist eine Grenzfläche des Symbolischen, mit dem es sich stets reibt und an dem es sich signifikant abzeichnet.
Für eine wissenschaftliche Sicht ist ein solcher Dritter allerdings unerträglich. Schon die Logik des wissenschaftlichen Denkens gebietet seit Aristoteles den Satz eines ausgeschlossenen Dritten (tertium non datur), denn: „Unter den Entgegensetzungen aber hat der Widerspruch kein Mittleres; denn Widerspruch ist ja eben ein Gegensatz, dessen eines Glied jedem zukommt, ohne dass ein Mittleres stattfände.“10 Symbolische Systeme müssen ihre logische Eindeutigkeit bewahren. Ein Selbst und ein Anderer stehen sich in einem Gegensatz gegenüber, so dass sie nicht ein gemeinsames Drittes sein können, es sei denn, dass wir logisch klar auf eine gemeinsame und vermittelnde Menge in ihnen schließen könnten, was dann aber für diesen Teil den Gegensatz ausräumen müsste. Da wir nun aber über den Blick des Dritten im Imaginären nichts sagen können, außer dass wir ins Symbolische wechseln, lässt das wissenschaftliche Interesse an solchen Blicken sofort nach. Mögen Literaten und andere, unscharf operierende, Konstrukteure von Fiktionen sich darum kümmern11, die Wissenschaft selbst scheint sich von diesem Dritten fernhalten zu müssen.
Damit jedoch hält sich die Wissenschaft selbst in jenen Spielarten, die direkt mit Menschen zu tun haben – insbesondere Psychologie und Pädagogik – von Blicken fern, die notwendig das Wahrnehmungsfeld der Akteure bestimmen, von denen sie handeln wollen. Die durch die Blicke vermittelte Beziehungswirklichkeit steht schroff gegen die symbolische Wissenschaftswelt, die das Imaginäre ausschließt und die Blicke des Dritten verbannt, um sich sicher bleiben zu können. Allerdings kehrt die Rache des Dritten zurück. Sie schimmert schon auf in jenen Versuchen, wie bei Sartre, wo bloß zwei sich gegenüberstehen, ohne allein bleiben zu können. Ihre Begegnung ist bestimmt von Motivationen, die ein Begehren ausdrücken, das wir nach der dritten Kränkungsbewegung noch vollständiger zu erfassen vermögen. Aber schon hier sehen wir, dass es mehr als eine individuelle Erfahrung ist, es ist in dieser eine gelebte und damit interaktive Erfahrung. Motive, Sinn und Verständnis sind außerhalb von Interaktionen gar nicht vorstellbar. Würde man sie sich als bloße Ergänzung des Symbolischen vorstellen, dann käme das Imaginäre einer Art Vorrationalität gleich und würde damit durch und durch schon rationalisiert. Aber das Imaginäre ist ein eigenes Reich mit eigener Mächtigkeit und kein Anhängsel des Symbolischen. Es mag zwar stets ins Symbolische übergehen – wie es z.B. dieser Text bezeichnet –, aber es geht darin nicht auf. Was weiß der Leser von meinen Vorstellungen? Was weiß er von dem, was mich motiviert, antreibt, diese Zeilen zu schreiben? Was überhaupt weiß ich selbst darüber? Oder umgekehrt: Was weiß ich von einem möglichen Leser? Und selbst wenn wir miteinander nicht nur in indirekte – wie jetzt –, sondern in eine direkte Beziehung treten könnten, dann würden wir in diesem Erlebnis uns zunächst wahrscheinlich nur das symbolisch über Sprache und Zeichen austauschen, was wir uns zu sagen haben, ohne das Unsagbare unseres Erlebens hierbei berühren zu können. Wir werden letztlich in unsere Subjektivität zurückfliehen, um von dieser aus, von den Auslotungen unseres Selbst-Bewusstseins aus, uns frei für eine zeitlich begrenzte Verständigung zu entscheiden. Und schon sind wir wieder in der Gefangenschaft eines symbolischen Systems, das uns das Imaginäre vergessen macht. In dieser Widersprüchlichkeit steht Sartres Wendung zum Marxismus: Eine Verständigungsgemeinschaft soll dem Selbstbewusstsein eine Gemeinsamkeit sichern, die imaginär die Hoffnung auf eine bessere Zukunft befriedigt, obwohl der Maßstab des Gemeinsamen als symbolisches System die Vernichtung persönlicher Stile und imaginärer Freiheiten stets androht.
Bevor wir also in das interaktive Spiel von Subjekten mit- oder gegeneinander selbst eintreten, müssen wir bedenken, auf welchen Ebenen der Betrachtung wir dies tun. Das Symbolische ist der bevorzugte Ort der Wissenschaft. Sie rekurriert meist dabei auf das Reale, was aber konstruktivistisch gesehen vorrangig Teile des Symbolischen entwirft, die die Wirklichkeit konstruieren helfen. Gleichwohl benötigt auch der Konstruktivist den Begriff der Realität, um für einen Beobachter die Konstruktionen, die er in Bezug auf eine ihm äußere Realität – was immer diese sei – und eine innere Realität, die er in sich aufspüren kann, zu unterscheiden. Aber das interaktive Spiel selbst macht diese Unterscheidungen immer prekär, denn in einer Verständigungsgemeinschaft können imaginäre Werte einer inneren Welt zu einem „Heiligen“ gerinnen, das gegen das Profane der äußeren Welt streitet. In solchen – oft absoluten – Projektionen unterscheiden sich Visionen, die wie ein Licht auf die Welt fallen, statt dass die Welt mit ihrem Licht in das Subjekt einfällt. Es gehört zu den Wendungen in der Erkenntnistheorie des 20. Jahrhunderts, dass der passive Beobachter, in den alles Licht einfällt, als Illusion entlarvt wurde. Es ist der konstruktive Beobachter selbst, der sein Licht auf die Welt wirft, um es in ihr zu spiegeln. Schon biologisch hat er nicht das Vermögen, diese Welt zu sehen, sondern nur seine Welt. Sozial ist es eine Welt der Verständigung mit Anderen in wechselseitigen Spiegelungen über die Welt. Das Heilige und das Profane sind dabei einer der möglichen Gegensätze, die bis in die Gegenwart einander widerstreiten. Das Imaginäre und das Symbolische sind allgemeinere Begriffe hierüber, die für eine Beobachtertheorie besser taugen mögen, die offen für jeden Streit in diesem Feld bleiben möchte. Es ist aber eine Welt, die in dem Gedanken des Etwas von Hegel bleibt: Die symbolische Ordnung unterscheidet sich von der imaginären, um die Grenzfläche dessen zu bezeichnen, was wir wissen, d.h. mit Anderen austauschen, um uns über die Wirklichkeiten zu verständigen. Wir gestehen nur ein, dass diese Verständigung nicht alles sein kann, was wir an der Welt, an Anderen und in uns beobachten können.
Insoweit sind die drei Weisen der Anerkennung der Begierde des einen Selbstbewusstsein durch ein anderes, die ich im Kapitel zuvor erörterte, hier präzisiert worden:
Erstens ist die Anerkennung kein freizügiger Akt, denn ich blicke nicht frei einen Anderen an, sondern werde bereits immer schon erblickt, wenn ich blicke. Hegel hat recht, wenn er betont, dass ich zu mir nur in der Anerkennungsbewegung selbst kom­men kann. Der Blick des Dritten aber stimuliert nicht nur die symbolische Ordnung, die über Lernen, Sozialisation und kulturelle Zusammenkunft in der Lebensform die Dialektik von Ich und Anderem umspannt, sondern nistet sich auch in das Imaginäre eines jeden Ichs oder Anderen ein. Dies verkompliziert den Kampf um Anerkennung, weil nicht nur rational, kognitiv und in symbolischer Weise anerkennend und anerkannt gelebt wird, sondern auch imaginär und irrational, singulär, individuell und kreativ.
Deshalb ist zweitens das Subjekt immer ein anderes in verschiedenen Beobachterbereichen, die nicht nur Beobachterbereiche der Wissenschaft selbst sein können, sondern sich bis hin ins Irrationale erweitern.12 Das Ich kann sich nur begrenzt über den Anderen gewiss werden, und jede Versöhnung der Subjekte mit sich selbst über ein Etwas – sei es Arbeit, Sprache, Leben usw.13– verkürzt diese Grenze notwendig.
Drittens bleibt aber doch erhalten, was Hegel in der Bewegung von Außer-sich-Sein und In-sich-selbst-Sein, die die beiden ersten Punkte charakterisiert, konstatiert: Das Selbstbewusstsein kehrt aus diesen Bewegungen in sich zurück, indem es sich begrenzt und unterscheiden lernt, aber auch dem Anderen wird dies zugestanden. Dennoch ist die Befriedigung, die hieraus für den Beobachter erwächst, bereits symbolisch verharmlost. Gegen solche Verharmlosung streitet das Imaginäre in diesem Prozess als eine Grenzfläche des Bewusstseins, die sich der rationalen Zurechnung entzieht, die in ihrer schöpferischen, beziehungssetzenden Kraft aber unausweichlich zum menschlichen Leben dazugehört.

 

Fußnoten

1 Dieser Text ist aus einem Interview aus dem Jahr 1969, der unter dem Titel „Sartre über Sartre“ in Sartre (1971) veröffentlicht wurde.

2 Sartre zitiert nach Frank (1990, 259). Frank geht ausführlich auf die Flaubert-Studie ein.

3 Deutlich zeigt dies Waltz (1993), wenn er in seiner Sartre-Analyse betont, dass sowohl der frühe als auch der späte Sartre nicht im Kontinuum einer symbolischen Ordnung aufgehen, sondern sich so situieren, dass sie das Begehren des Subjekts als singuläres, individuelles, kreatives nicht ausschließen.

4 Die hier getroffenen Unterscheidungen sind sehr aktuell und insbesondere für Derrida und seinen Konstruktivismus bedeutsam geworden. Vgl. hierzu insbes. Bennington/Derrida (1994, 72 ff.).

5 Diese images können nach Sartre der Welt der Dinge (z.B. Illustrationen, Fotos, Karikaturen usw.) oder der geistigen Welt (z.B. Bewegungsbewusstsein, Gefühle usw.) angehören (ebd.).

6 Waltz (1993, 69 ff.) deutet diese Szene als Urszene und setzt sie auch in Beziehung zu anderen Werken.

7 Wenn Waltz (1993, 69 ff.) die Szene darüber erörtert, welches Begehren hinter dem Voyeur steht, so kommt er der Intention Sartres nicht nah, sondern entfremdet sie, um sein eigenes Konzept zu artikulieren. Es stimmt auch nicht, dass Sartre keinen Versuch macht, in der missglückten Situation dem Anderen sein Begehren zu eröffnen, um zu einer geglückten Kommunikation zu gelangen, denn Sartre interessiert sich hier bloß für das interaktive Grundverhältnis und nicht für seine geglückten oder missglückten Variationen.

8 Dies ist vor allem die Position Lacans, auf die ich in Kapitel II. 3.5. ausführlich eingehe. Leider wird das Wechselspiel zwischen Symbolischem und Imaginärem bei Waltz nur angedeutet und nicht systematisch entfaltet, so dass seine Interpretation für mich nicht immer nachzuvollziehen ist.

9 Vgl. dazu auch eingehender Waltz (1993, 313 ff.).

10 Aristoteles: Metaphysik, 10 (1057 a).

11 Obgleich auch hier eine Kontrolle des Imaginären angestrebt wird; vgl. z.B. Lima (1990), noch deutlicher etwa Deleuze (1993, insbes. 259 ff.).

12 Umgekehrt ist das Irrationale aber so auch nur ein konstruktiver Entwurf des Rationalen, so wie der Wahn ein Konstrukt der Vernunft ist; vgl. Foucault (1973).

13 Dies waren klassische Auslegungspunkte nach Hegel.

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