Kersten Reich: Die Ordnung der Blicke. Band 1: Kapitel II.3.1

   

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3.1. Die Kränkungen der kognitiven Logik durch Freud:Traum und Wirklichkeit

Für die Aufklärung ist in erster Hinsicht die bewusste, kognitive Verarbeitung von Bedeutungssystemen entscheidend, die ein universelles Schema von Entwicklung – hier auch unabhängig von konkreter Geschichte aufdecken. Darin steckt allerdings ein zu hoher konstruktiver Anspruch auf eine letzte Gültigkeit, die da draußen doch irgendwie als ein Regelwerk zu existieren scheint. Sie steht in der Gefahr als „eigentliche“, hinter dem Rücken der Menschen wirkende „List der Vernunft“, die Hegel zu erkennen versuchte, recht unabhängig von den menschlichen Konstruktionen, die diese List zirkulär in der Zeit produzieren, zu gelten, wobei die Marxsche These vom Wertgesetz, das sich hinter dem Rücken der Produzenten durchsetze, als eine Art Weltgesetz der Moderne – und damit als weitere Aufklärung über die Aufklärung – schlechthin erscheint. Die dann noch weiterreichendere Suche scheint über Marx hinaus im Auffinden universeller Geltungsgesetze einer menschlichen Natur überhaupt zu liegen. So suchten zum Ende des 19. Jahrhunderts viele Forscher nach Geltung einer Vernunft, um die letzten Bausteine zu ergründen, die die Welt zusammenhalten.
Das 20. Jahrhundert wurde zur Ernüchterung dieser Suche. Dies geschah weniger durch bloße Kritik an dem, was Marx und andere herausgefunden haben, sondern mehr durch Thematisierung dessen, was sie auslassen mussten, um zu ihren Aussagen zu gelangen. Hier war es Sigmund Freud vorbehalten, eine wesentliche Auslassung zu thematisieren, die er zunächst noch mit den Mitteln des kausalen Denkens des 19. Jahrhunderts zu begreifen versuchte, die sich ihm jedoch im Prozess der Analyse zu etwas Neuem verwandelte.
Der entscheidende Berührungspunkt von Freud und der Aufklärung ist die Unterstellung einer kausalen Theorie, die eindeutig in der Lage ist, eine Struktur der Wirklichkeit in einer erwiesenen Konstanz zu klären. Gleichwohl entsteht in der Klärung eine Unschärfe, denn je mehr Freud nach kausalen Herleitungen suchte, um so mehr verstrickte er sich in Widersprüchen und unendlichen Möglichkeiten der Zuschreibung. Für eine konstruktivistisch orientierte Beobachtertheorie erscheint es wichtig, die dabei entstandene Unschärfe näher herauszuarbeiten.
Bedeutsam für diese Unschärfe ist zunächst, dass für die Psychoanalyse der Bereich der Mythen (z.B. Ödipus, Narziss) entscheidend ist, um wichtige Grundthesen zu bestätigen bzw. die Plausibilität des eigenen Forschungsinstrumen­tariums überhaupt nachzuweisen. Darin steckt nun aber eine gewisse ahistorische Sicht, die vielfach bei Freud auftritt. Da eine historisch rekonstruierende und die Perspektivenvielfalt der Moderne komplex erfassende Theorie schwierig, wenn nicht als Versuch der Übersicht generell unmöglich ist, fällt das Denken leicht auf die Interpretation archaischer Gesellschaften zurück, um in der Ethnologie als scheinbar ursprünglicher Ort einer Soziologie oder Psychologie enge und eindeutige moralische Qualitäten oder Konflikturpotenziale als höchste (universell wirkende) Realitäten zu entdecken. Der Beobachterbereich muss hier notwendigerweise dadurch unscharf werden, dass Urteile aus heutiger Sicht in die spärlichen Informationen des archaischen Lebens eingebracht werden. Teilnehmende Beobachtung ist hier als erweitertes Beobachtungsverfahren nur begrenzt möglich, aber gerade die Ethnologie hatte dabei die grundsätzliche Gefahr des Ethnozentrismus zunehmend erkennen müssen. Für Freud hingegen dominierte eine sekundäre Literaturanalyse, die als überwiegend spekulierendes Denken entfaltet wurde.1 In dieser Legitimation seiner Theorie löst er sich wenig aus den Denkmustern des 19. Jahrhunderts.2 Radikal ist die Wende jedoch in einem anderen Feld, das ich näher hervorheben möchte.
Was ist die Basis der psychologischen Arbeit bei Freud? Er ist auf die Verständigung mit Patienten angewiesen. Dabei erscheint ein Bruch: Das Dilemma unseres Denkens ist, dass wir Zeichengestalten immer schon voraussetzen müssen, wenn wir uns überhaupt verständigen wollen. Dies gilt sowohl für die Lautbildung im allgemeinen, die wir gattungsgeschichtlich im Prozess der Evolution mit der Menschwerdung erhalten haben, dies gilt auch für die Schrift, die Bild- oder Buchstabengestalt, die wir uns kulturell erwerben. Was nun bedeutet diese Voraussetzung und dieser Erwerb unter dem Gesichtspunkt der Ähnlichkeit, dabei der Herausbildung von Ordnung in unserem Denken bzw. Fühlen (oder Triebleben und seinem Bezug zur Realität)? 
Die Lautgestalt vermittelt dem Menschen die Möglichkeit, sich von der Wirklichkeit abzulösen, diese gedanklich verfügbar und untereinander mitteilbar zu machen, sie zu reproduzieren und zu antizipieren. Die Zeichengestalt der Schriftsprache ist gegenüber der Lautgestalt nicht mehr flüssig, sondern stabil, gegenständlich vermittelt. Das Buch z.B. ist ein geronnenes Zeicheninventar, Computer repräsentieren eine codierte Zeichenansammlung. Würde man Zeichengestalten in ihrer Stabilität mit der durch sie repräsentierten Geltung von Aussagen gleichsetzen, dann müsste jeder Buchstabe der Wahrheit des von ihm Ausgesagten entsprechen. In der Menschheitsgeschichte ist jedoch umgekehrt die Begründung von Erklären und Wissen fundamental darauf angewiesen, diesen Fehlschluss zu vermeiden: Laut- und Schriftgestalten sind von dem zu unterscheiden, was sie bedeuten. Dies habe ich in der ersten Kränkungsbewegung mehrfach ausgeführt.
Betrachtet man das Verhältnis von Laut- und Schriftgestalten zueinander, dann bedeutet die höhere Stabilität des Schriftzeichens, das gegenüber dem Laut ein Verlust und ein Gewinn entsteht. Die Lautgestalt kann besonders vorteilhaft die Verflüssigung des Denkens ausdrücken, die Rede bedient sich des Elementes der Luft, was ihre Vergänglichkeit erhöht, gleichzeitig jedoch auch ihre Schwingungen musizierbar werden lässt, was die Eindringlichkeit emotionaler Aufnahme erhöht, zur Rhythmisierung von Aussagen beitragen kann (letzteres besonders ausschlaggebend in Ritualen). Die Schriftsprache formalisiert und reduziert demgegenüber, d.h. sie abstrahiert den Sprachprozess und erzeugt für den Wahrnehmenden zunächst eine Stabilität der vorher allzu flüchtigen Lautgestalten. Bei kontroversen Aussagen vermag dies die Starrheit von Ritualen aufzulösen, die Konvention zu entdramatisieren, wenngleich die Konventionalität der gebildeten Zeichen sicherzustellen ist, um überhaupt zu kommunizieren. Auf der Basis der Zeichengestalten jedoch wird eine Symbolpraxis als Sicherung authentischer Aussagen erst möglich.
Für Foucault z.B. ist entsprechend dieser Herangehensweise die Differenzierung und Differenz von Signifikanten und Signifikaten der Schlüssel einer Ordnungsbetrachtung von Welt. Unbewusst bleibt im Leben die hinter dem Rücken der Menschen produzierte Geformtheit etlicher – vor allem institutionell organisierter – Prozesse, die als Ordnung der Dinge in das Bewusstsein zurückgeholt werden muss. Dabei werden die schriftlichen Quellen für ihn zur Hauptanalysefigur. Für Freud gilt hingegen ein umgekehrter Weg: In der psychotherapeutischen Praxis geht es um die Analyse ursprünglich flüssiger Aussageinhalte, d.h. die Lautsprache wird im Dialog mit dem Patienten zum Medium der Verständigung. Gegenüber der schreibenden Fixierung büßt dieses Verfahren daher mit Notwendigkeit schon jenes Quantum an Stabilität und Sicherheit ein, das durch die Abstraktion menschlicher Kommunikation auf Schriftsprache hin gewonnen wurde. So wie in den alten Mythen die weitergegebenen Erzählungen von Mund zu Mund variiert wurden und mittels Rückmeldung dem wechselnden Zuhörerkreis angepasst wurden, so entfaltet auch der psychotherapeutische Dialog seine eigene Dynamik, was Freud dazu veranlasste, die dabei stattfindende Übertragung gesondert theoretisch zu problematisieren (vgl. Freud 1989, I, 285 ff., 415 ff.).3
Unschärfe erzeugt sich hier also durch die verflüssigten Lautgestalten und den notwendigen Dialog, der nur sehr begrenzt kontrolliert werden kann. Nun kommt es Freud aber nicht darauf an, Sprechbedingungen sicherzustellen, die auf der Ebene kognitiver Verständigung ein „wahres“ Sprechen ermöglichen. Denn in der Suche nach den unbewussten Strukturen des Patienten, die sein Handeln beeinflussen und die den Therapeuten veranlassen, ein unbewusst Genanntes bewusst zu machen, Verdrängungen aufzuheben und amnestische Lücken zu schließen, ergibt sich gegenüber der Verfügbarkeit lautsprachlicher Auseinandersetzung eine weitere Komplizierung, deren Bedeutung ausschlaggebend für die Freudsche Theoriebildung war: In den Fehlleistungen – wie dem Versprechen, Vergessen, Verlesen, Verhören usw. – liegen nicht immer Zerstreutheiten, Unaufmerksamkeiten und ähnliches vor, sondern scheinbar aus dem Unbewussten empordringende Einsätze unserer Psyche, die Hinweise auf ursprüngliche Antriebe und Motivationen geben (vgl. einführend Freud 1989, I, 41 ff.). Die Fehlleistungen zeigen, dass durch die Störungen Unterdrückungen aufgebrochen werden, sie sind Symptome oder Signale unserer Psyche, die auf ein Unbewusstes hinweisen, das Grenzen der Kognition zeigt.4
Dies ist eine Schlüsselstelle für den Aufbau einer konstruktivistischen Beobachtertheorie. War bisher der Widerspruch des Konstruktivismus gegen die Absolutheit von Wahrheitstheorien, die immer bewusste Theorien sind, gerichtet, wobei die Dialektik von absolut zu relativ und selbst und fremd uns ausführlich beschäftigte und einen begreifbaren Mechanismus von Unschärfe erkennen ließ, so wird nun das Tor der Beobachtung in jene imaginativen Räume aufgestoßen, die nicht ohne weiteres einer konstruierenden kognitiven Reflexion zugänglich sind und dennoch in konstruierten Zeichengestalten ausgesprochen oder niedergeschrieben werden.
Ich werde einige Schritte benötigen, die Folgen für die Unschärfe und den Konstruktivismus zu beschreiben. Zunächst wende ich mich der Traumanalyse zu – dem Haupttor zum Raum des Unbewussten, wie Freud meinte –, um die Beobachtermöglichkeiten im Beobachten des Unbewussten zu differenzieren.

Wenn ein Mensch träumt, so müssen wir nach Freud das, was er träumt, das, was der Traum erzählt, von dem unterscheiden, was zeitweilig oder dauerhaft als verborgener Sinn des Traumes gedeutet werden könnte. Das, was geträumt wird, nennt Freud den manifesten Traum, den verborgenen Hintergrund bezeichnet er als latente Traumgedanken. Dabei hat die Psychoanalyse Freuds mehrere Funktionen des Traumes aufgedeckt (vgl. Freud 1989, II):
Zunächst ist der Traum (1) Hüter des Schlafes; er ermöglicht uns trotz innerer Reizzustände den gesundheitlich notwendigen Schlaf. Dabei wirken im Traum (2) gegensätzliche Tendenzen, indem er einerseits unser Schlafverlangen unterstützt, andererseits einen psychischen Reiz befriedigt. Diese Tendenzen können durch den Traum selbst so gegensätzlich werden, dass wir plötzlich aufwachen, um uns dann ob eines hohen Reizzustandes damit zu beruhigen, dass wir das Wachsein als Erlösung von diesem Spannungszustand erfahren. Wir sagen dann: „Ach, es war ja nur ein Traum.“ So betrachtet sollten wir sagen, dass der Traum (3) ein sinnreicher psychischer Akt ist.
Was jedoch bestimmt den Sinnreichtum? Jeder weiß von den Tageserinnerungsresten, die in Träume eingebaut werden. Aber es sind meist nicht nur Tagesreste, sondern oft Bruchstücke aus der Vergangenheit, mitunter aus der Kindheit, auch Dinge, die wir selbst schon vergessen glaubten. Zudem durchzieht den Traum eine Handlung, oft unvermittelt unterbrochen, die bestimmten Intentionen folgt, die von unseren Wünschen geleitet ist. Dabei werden die Wünsche nicht direkt ausgesprochen, nicht abstrakt verbal, sondern sie erscheinen in einem halluzinatorischen Erleben, sie sind in Bildgeschichten verwandelt. Zum Traum gehören also (4) zwei Hauptcharaktere: Er entspricht einer Wunscherfüllung und hat diese in ein halluzinatorisches Erleben verwandelt.5
Zur Verdeutlichung möchte ich ein Beispiel aus Sigmund Freuds „Vorlesungen“ heranziehen. Er schildert folgenden Traum eines Mannes, der gegen Morgen träumte:
„Ich fahre mit dem Rad in Tübingen die Straße herunter, als ein brauner Dachshund hinter mir dreinrast und mich an einer Ferse fasst. Ein Stück weiter steige ich ab, setze mich auf eine Staffel und fange an, auf das Vieh loszutrommeln, das sich fest verbissen hat. (Unangenehme Gefühle habe ich von dem Beißen und der ganzen Szene nicht). Gegenüber sitzen ein paar ältere Damen, die mir grinsend zusehen. Dann wache ich auf und, wie schon öfter, ist mir in diesem Moment des Übergangs zum Wachen der ganze Traum klar.“ (Freud 1989, I, 192)
Wichtig sind bei diesem Traum noch folgende Ergänzungen, die der Träumer nachträglich gemacht hat:
„ ‚Ich habe mich in der letzten Zeit in ein Mädchen verliebt, nur so zum Sehen auf der Straße, habe aber keinerlei Anknüpfungspunkte gehabt. Dieser Anknüpfungspunkt hätte für mich am angenehmsten der Dachshund sein können, zumal ich ein großer Tierfreund bin und diese Eigenschaft auch bei dem Mädchen sympathisch empfunden habe.‘ Er fügt auch hinzu, dass er wiederholt und mit großem Geschick und oft zum Erstaunen der Zuschauer in die Kämpfe miteinander raufender Hunde eingegriffen habe. Wir erfahren also, dass das Mädchen, welches ihm gefiel, stets in Begleitung dieses besonderen Hundes zu sehen war. Dies Mädchen aber ist für den manifesten Traum beseitigt worden, nur der mit ihr assoziierte Hund ist geblieben. Vielleicht sind die älteren Damen, die ihn angrinsen, an die Stelle des Mädchen getreten. Was er sonst noch mitteilt, reicht zur Aufklärung dieses Punktes nicht aus. Dass er im Traum auf dem Rade fährt, ist direkte Wiederholung der erinnerten Situation. Er war dem Mädchen mit dem Hunde immer nur, wenn er zu Rade war, begegnet.“ (Ebd., 192 f.)
Der Traum ist auch hier Hüter des Schlafes, er verarbeitet einen inneren psychischen Reizzustand, wobei die Verliebtheit als sinnreicher psychischer Akt den Motor einer Wunscherfüllung ergibt. Umgesetzt wird diese Wunscherfüllung in ein halluzinatorisches Erleben, so dass es nicht ganz einfach ist, ja ohne zusätzliche Interpretationen fast unmöglich, den manifesten Trauminhalt von den latenten Traumgedanken zu unterscheiden. Eine weitere Problematik wird in diesem Traum deutlich: Es gibt eine Zensur, irgendeine Instanz, die den Träumer nicht direkt sagen lässt, dass er sich dumm und schüchtern verhalten hat, sondern die ihm aufdiktiert, das Mädchen wegzuassoziieren, in Schwierigkeiten mit dem Hund zu geraten, obwohl er mit Hunden eigentlich nie Schwierigkeiten hatte, ihn öffentlich bloßzustellen, was sich im Grinsen der alten Damen ausdrückt. Vielleicht wissen diese erfahrenen Damen auch, was er eigentlich will, so dass das Grinsen doppeldeutig wird: Sie grinsen über sein Verhalten dem Hund gegenüber, meinen aber eigentlich das Mädchen. Vielleicht sind sie sogar selbst eine Darstellung des Mädchens, wie Freud sagt, drücken also die Angst des Träumers vor einer Ablehnung aus.
Als erste Regel der Deutungsarbeit von Träumen sagt Freud, dass sich der Deutende nicht darum kümmern soll, was der Traum sagt, da dies das Unbewusste nicht direkt enthält, wenigstens nicht bei Erwachsenen, die bereits eine Traumzensur besitzen, also im Traum sich widerständig gegen aus dem Unbewussten aufsteigende Empfindungen verhalten. Der Deutende muss daher zum Traum Er­satz­vorstellungen bilden, Assoziationen freilegen, die nähere Umwelt überprüfen, d.h. abwarten, bis sich eine Deutungsmöglichkeit des Unbewussten einstellt.
In der Analyse von Träumen wird die Deutungsarbeit durch folgende Umstände erschwert:

(1) Die Traumarbeit des Träumers wirkt verdichtend. Dies meint, dass im Traum latente Elemente durch die Arbeit der Traumzensur ausgelassen werden, aber letztlich drängt das Latente dennoch an die Oberfläche. Der Widerstand der Traumzensur formt dies dann um und verschmilzt latente Elemente, die etwas Gemeinsames haben, zu einem manifesten Trauminhalt. Wir hatten eben von dem jungen Mann gesprochen, der sich in ein Mädchen, die ihren Dachshund ausführt, auf der Straße verliebte. In seinem Wunschtraum blieb nur der Hund übrig, der mit grinsenden alten Damen verschmolzen wurde. Die Verdichtung im Traum bedingt vielfach seine Irrealität, so dass wir selbst ins Staunen gesetzt sind, was und wie zusammenhanglos, sprunghaft, wir oft träumen.
(2) Zudem verhilft die Traumzensur durch Verschiebung, uns die Latenz zu bewahren. Hier kommt es vor allem vor, dass durch Anspielung das latente Element auf etwas ferner liegendes verschoben wird, also in unserem Fall den Hund an die Stelle des begehrten Mädchens zu setzen, oder dass Unwichtiges hervorgehoben wird, wodurch sich die Fremdartigkeit des Traumes erhöht.
(3) Der Traum setzt Gedanken in visuelle Bilder um. Freud meint, dass hierin unter Umständen eine Nähe zu unserer archaischen Vorzeit angesprochen sein könnte, nämlich an einen Zustand vor unserer Denksprache. Gedanken werden in Handlungen übersetzt, die bildhaft erscheinen. Statt von Liebe in abstrakten Worten träumt der junge Mann von einem Hund und grinsenden alten Damen. Zwar sind Wortträume nicht ausgeschlossen, mancher hält im Traum die Reden, die er sich am Tage nicht zutraut, aber selbst der Traumredner sieht sich in einer Bilderwelt.
(4) Nimmt man die bisherigen drei Bedingungen zusammen, dann muss man zusätzlich sagen, dass es während des Träumens auch eine Instanz gibt, die alles sekundär bearbeitet. Wird es dieser Instanz während des Traumgeschehens zu brenzlig, dann ruft sie uns zu: Dies alles ist ja doch nur ein Traum! Vielleicht lässt sie uns auch aufwachen, um uns aus möglichen Schrecken zu erlösen.

Mit diesen Hinweisen zu den Träumen ist sowohl eine Theorie möglicher Selbst- als auch Fremdbeobachtung kategorial festgelegt. Was jedoch ist das Grundmotiv des Träumens? Nach Freud träumen wir nicht einfach so, wir geben uns nicht einfach dem Zirkel von Zeichen, Symbolen und konstruierten Welten im imaginativen Fluss hin, sondern verfolgen dabei durchweg ein Ziel, das als Wünschen erscheint. Es ist dies unsere biologische Struktur, die auf Lustbefriedigung drängt – denn alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit, wie Nietzsche im „Zarathustra“ behauptet –, die sich der Wirklichkeit in ihrem Bedürfnis stellen muss und von Konflikten, Zensur und Widerstand, Negation und Verdrängung, um nur einige wichtige Begriffe zu nennen, durchzogen ist.6
Freud vermutete, dass eine Beobachtertheorie des Traums auf feste, erkannte Symbolstrukturen – sogenannte konstante Symbole – zurückgreifen kann, um die rekonstruktive Arbeit des Traumdeutens zu erleichtern. Diese Behauptung jedoch hat sich als besonders heikel erwiesen, weil sie annimmt, dass in Träumen unabhängig von der Person bestimmte Symbolformen auftreten, die einer scheinbar angeborenen gemeinsamen, unbewussten Sprache angehören. Das Traumsymbol steht hier dann direkt für ein latentes Traumelement. Als Beispiele nennt Freud:
„Vor allem ist für das männliche Genitale im ganzen die heilige Zahl 3 symbolisch bedeutsam. Der auffälligere und beiden Geschlechtern interessante Bestandteil des Genitales, das männliche Glied, findet symbolischen Ersatz erstens durch Dinge, die ihm in der Form ähnlich sind, also lang und hochragend sind, wie: Stöcke, Schirme, Stangen, Bäume und dgl. Ferner durch Gegenstände, die die Eigenschaften des In-den-Körper-Eindringens und Verletzens mit dem Bezeichneten gemein haben, also spitzige Waffen jeder Art, Messer, Dolche, Lanzen, Säbel, aber ebenso durch Schusswaffen: Gewehre, Pistolen und den durch seine Form so sehr dazu tauglichen Revolver. In den ängstlichen Träumen der Mädchen spielt die Verfolgung durch einen Mann mit einem Messer oder einer Schusswaffe eine große Rolle. Es ist dies der vielleicht häufigste Fall der Traumsymbolik, den Sie sich nun leicht übersetzen können. Ohne weiteres verständlich ist auch der Ersatz des männlichen Gliedes durch Gegenstände, aus denen Wasser fließt: Wasserhähne, Gießkannen, Springbrunnen, und durch andere Objekte, die einer Verlängerung fähig sind, wie Hängelampen, vorschiebbare Bleistifte usw. Dass Bleistifte, Federstiele, Nagelfeilen, Hämmer und andere Instrumente unzweifelhaft männliche Sexualsymbole sind, hängt mit einer gleichfalls nicht ferne liegenden Auffassung dieses Organs zusammen.
Die merkwürdige Eigenschaft des Gliedes, sich gegen die Schwerkraft aufrichten zu können, eine Teilerscheinung der Erektion, führt zur Symboldarstellung durch Luftballone, Flugmaschinen und neuesten Datums durch das Zeppelinsche Luftschiff. Der Traum kennt aber noch eine andere, weit ausdrucksvollere Art, die Erektion zu symbolisieren. Er macht das Geschlechtsglied zum Wesentlichen der ganzen Person und lässt diese selbst fliegen. Lassen Sie sich‘s nicht nahegehen, dass die oft so schönen Flugträume, die wir alle kennen, als Träume von allgemeiner sexueller Erregung, als Erektionsträume gedeutet werden müssen.“ (Freud 1989, I, 164)7
Bei diesen Beispielen sticht zunächst die Zeitgebundenheit, siehe das Zeppelinische Luftschiff, ins Auge, d.h. wir finden gar nicht so sehr die behauptete und unter Umständen vererbte unbewusste Symbolik, sondern ein Sammelsurium von sehr alten und neueren Assoziationen zu den Genitalien. Dass diese Assoziationen möglich und in einzelnen Träumen tatsächlich in dieser Bedeutung vorkommend sein können, verwundert im Grunde nicht. Wie jedoch steht es um die behauptete Konstanz? Können wir heute die gleiche Symbolik gebrauchen wie vor zweitausend Jahren?
Eine symbolisch repräsentierende Konstanz, so wird aus einer konstruktivistischen Beobachtertheorie klar, können wir nicht aufgrund von Vererbung behaupten, dies widerspricht allen genetischen Erkenntnissen. Sie wird durch das gebildet, was wir als Gesellschafts- und Kulturentwicklung, auch als Entwicklung unserer Sprache, unserer Bewusstseins- und Denkformen, d.h. den jeweiligen konsensuellen Bereichen von Beobachtungen in Interaktion und Kommunikation – oder aus dem Gebrauch heraus, wie ich mit Wittgenstein weiter oben sagte – herstellen. Dabei sind alle mit sozialen Beziehungen beschäftigten Begriffe stark symbolträchtig, denn in ihnen ist nicht nur das jeweils aktuell Gemeinte verdinglichend enthalten, sondern in eine Geschichte eingewoben, die man auch teilweise enträtseln kann. Die Begriffe sind gebildet. Über umfassende Bildung verfügt derjenige, der sie in ihrer Herkunft durchschaut. Da jedoch kein Mensch alles durchschauen kann, bleibt immer wieder die Versuchung, ein symbolisches Eins als diesen Ersatz zu finden. Freuds Symbolkonstanz unterliegt dieser Versuchung.
Fasse ich das Vorgehen Freuds zusammen, dann zeigt sich, dass für Freud vorrangig nicht Text-, sondern im Dialog erarbeitete Lebensanalysen für die Konstruktion seines Wissens über das Unbewusste entscheidend sind, und dass er sich nicht auf die Entschlüsselung einer kognitiven, sondern triebbedingten und sich im emotionalen Erleben äußernden Natur des Menschen bezieht.
Dabei gewinnt der Mythos Bedeutsamkeit, denn in den Mythen scheint ein ursprüngliches menschliches Deutungsprinzip von Wirklichkeit zu liegen, das eine Entschlüsselung universaler Denk- bzw. Triebstrukturen erlauben könnte. Für Freud bedeutete dies innerhalb der Therapie die Hinwendung von den Träumen und ihren Symbolgehalten neben der Patientenanalyse auch zu den Mythen, die ganz ähnlich wie Träume Grundstrukturen offenbaren, die uns direkte Hinweise auf universale Symbole – gleichsam Konstanten unseres Unbewussten – und ursprüngliche Menschheitsängste – Begründung des zentralen Ödipus-Komplexes – geben. Zwar hat Freud diese Deutung nicht so weit geführt wie C.G. Jung, dessen Theorie von den Archetypen in die Behauptung angeborener kollektiv unbewusster Grundtypen mündet; auch scheint die Traumdeutung nach Freud später in der therapeutischen Praxis durchaus überholt zu sein, da es ohnehin auf die Assoziationsbildung gegen die Widerstände der Patienten entscheidend ankommt, aber die Begründung zentraler Grundkonflikte – insbesondere der Ödipus-Komplex – geschieht bei Freud zum Teil auch eindeutig auf dem Hintergrund der Behauptung eines universalen, zeitlosen, d.h. biologisch determinierten Schemas, dessen Bezeichnung jedoch aus mythischen Konstrukten abgeleitet wird.
Bevor dies kritisiert wird, will ich zunächst einigen Gemeinsamkeiten von Traum und Mythos nachgehen, um den Status einer möglichen Beobachtertheorie in Hinsicht auf deren unbewusst wirkende Symbolik zu präzisieren.
Auch die Arbeit am Mythos darf sich nicht von den erzählten Geschichten bloß gefangen nehmen lassen. Sie muss als distanzierende Betrachtung sie aus den Bedingungen ihrer Zeit heraus interpretieren, d.h. die Freilegung von Assoziationen wird hier mittels der Überprüfung von Faktoren der rückprojizierten Lebens- und Denkwelten gewonnen. Es ist wesentlich, dass gerade in neuerer Zeit viele vergangene Mythen eine Deutung erfahren, die sie selbst als geronnene Bestandteile der Selbstbewusstwerdungsprozesse der Menschheit ausweisen. Diese (re-)konstruktive Aufgabe steht ständig unter dem Verdacht, unsere eigene (vermeintlich viel fortschrittlichere) Denkweise in die Deutungen unzulässig hineinzuprojizieren. Dabei scheinen Traum und Mythos in ihrer Erlebnishaftigkeit eben auch unzählige Deutungen zuzulassen. Greifen wir zur Verdeutlichung ein beliebiges Beispiel aus der antiken Mythenwelt heraus.8
Odysseus landet mit seinen Gefährten auf der Suche nach der Heimat nach Beendigung des trojanischen Krieges auf der Insel der Halbgöttin Kirke, die über Zauberkräfte verfügt. Sie verwandelt Menschen in Tiere, die dann bei Erhaltung ihrer Verstandeskräfte ihren Palast als Löwen und andere Tiere bewachen müssen. Die Gefährten des Odysseus, die die Insel erkunden, verwandelt sie in Schweine. Odysseus selbst jedoch erhält auf dem Weg, als er seine Gefährten retten will, vom Götterboten Hermes ein Heilkraut, das verhindert, dass er durch eine Zauberspeise der Kirke in ein Tier verwandelt wird. Da der Zauber bei Odysseus nicht wirkt, zieht dieser sein Schwert und erzwingt von der Zauberin einen Eid, dass sie ihm auf keinerlei Weise schaden wird. Odysseus lebt fortan geschützt im Palast. Kirke will ihn in Lust genießen lassen, aber er wird erst froh und ihr Liebhaber, als sie seine Gefährten in Menschen zurückverwandelt. Sie bleiben dann länger als ein Jahr zusammen.
Diese herausgegriffene Episode aus den Irrfahrten des Odysseus mutet an wie ein Traum. Die Funktionen dieses Mythos haben sich jedoch gegenüber denen eines Traumes ein wenig verschoben. Zunächst ist dieser Mythos nicht Hüter eines Schlafes, sondern Hüter eines Bewusstseinszusammenhanges. Man könnte auch von einem Tagtraum sprechen: Der Wunsch nach der glücklichen Heimkehr wird hier durch alle möglichen Reizzustände, in die Lust und Unlust gemischt sind, gestört. Dabei ergeben sich als gegensätzliche Tendenzen auch in anderen Episo­den der Odyssee immer wieder einerseits die Sehnsucht nach der Heimat und die Unversehrtheit der Rückkehr, andererseits unlustbetonte schreckliche Ereignisse oder lustbetonter Ausgleich wie das Verweilen bei Kirke. Der Mythos insgesamt ist ein sinnreicher psychischer Akt, er ist wie der Traum durchsetzt von Wunscherfüllungsgedanken, und er ist ein halluzinatorisches Erleben, denn der Mythos verlöre sofort an Erlebnisgehalt, wenn er abstrakt erzählt werden würde. Der Mythos lebt wie der Traum von den Bildern, die er als Gefühlsanregung beim Betrachter ankommen lässt.
Nehmen wir den wichtigsten Unterschied: Der Traum scheint auf das Ich, das Individuum bezogen, der Mythos wendet sich an die Gruppe, an alle Menschen, die durch ihn belehrt und gemahnt werden sollen.
Seine Wirksamkeit war zu allen Zeiten sehr groß, da die Stilmittel, mit denen er arbeitet, uns wiederum aus unseren eigenen Träumen allzu vertraut sind. Darin haben wir also eine wichtige Gemeinsamkeit. Fernerhin scheint auch der Gedanke der Wunscherfüllung für den Mythos zu gelten. Zumindest was Odysseus betrifft, richtet sich der Wunsch eindeutig nach sicherer Heimkehr und knüpft sich hier auch an ein sexuelles Bedürfnis, nämlich zu den Frauen zurückzukehren. Ersatzweise wird dieser tiefere Wunsch zwischendurch dort befriedigt, wo es möglich ist – so z.B. bei Kirke.
Und wie ist es mit der Traumzensur? Der Träumer kann sich im manifesten Traum nicht alles zugeben, was er an latenten Traumgedanken zum Teil sich selbst – nicht durchschauend – verbirgt. Gilt dies nicht auch gerade für den Mythos? Auch dies kann zumindest für die Odyssee scheinbar bejaht werden, denn Odysseus sieht sich zwar einerseits in großer Abhängigkeit vom Willen der Götter und jener für ihn vorzivilisatorischen Welt, in die er verschlagen wurde, aber andererseits zeigt seine Reise dem Zuhörer oder Leser immer mehr, wie er sich von der Unterwerfung und Abhängigkeit emanzipiert und sich die Götter in Abhängigkeit von seiner List, Klugheit und seinen Opfern selbst als Abhängige erweisen. Dies jedoch wird nicht ausgesprochen, es erschließt sich uns erst in der Interpretation der Abenteuer, indem wir die Erlebnisse, das Manifeste, von dem von uns Gemeinten, dem Latenten, unterscheiden.
Wenn ich Traum und Mythos so miteinander in Beziehung setze, dann habe ich eine weitere Voraussetzung aufzuklären, die ich dabei stillschweigend vornehme. Wesentlich ist, dass ich sowohl den Traum als auch den Mythos unter einem konstruktivistischen Gesichtswinkel betrachte. So bilde ich als Beobachter konstruierter mythischer Ereignisse einen Rahmen neuer Konstruktion, eine Re-Konstruktion, um das Gemeinte, das ich so als meine Erfindung meine, in Form einer Zuschreibung zu interpretieren: Als Epos, Erzählung, Dichtung oder wie auch immer. So wird das früher konstruierte und schriftlich überlieferte „Wissen“ in einen Rahmen der Neukonstruktion eingebunden, die zu einer scheinbar gemeinsamen Interpretation führt. Zugleich wird in dieser Entdeckung des Überlieferten durch mich aber immer mein wertender Bezug sich mit dem vermischen, was für mich Erinnerungsspuren sind.
Die bewusste Seite solcher Erinnerung ist nicht zu bestreiten, da ich den Sinn meiner Argumente soweit bewusst offenlegen muss, dass wir uns hierüber verständigen können. Die unbewusste Seite ist hingegen immer heikel. Nicht selten ist z.B. bis heute die Ansicht insbesondere bei Medizinern, dass besonders Träume eher dem Zufallsprinzip folgen und als rein physiologische Restschwingungen unseres Gehirns in der Schlafphase anzusehen seien. Damit wären aus dieser Sicht alle Trauminterpretationen unzulässige Hineindeutungen. Analog könnte man die Meinung vertreten, dass auch die Mythen eher zufällig gewachsene und assoziierte sowie tradierte Denk- und Handlungsmuster seien, die sich nur aufgrund der Ungewöhnlichkeit und dem Fantasiegehalt der Darstellungen haben behaupten können, z.B. auch dann, wenn man an sie gar nicht mehr glaubt, wie es heute noch die Märchen zeigen.
Wie lassen sich aus einer Beobachtertheorie heraus solche Ansichten, die sich selbst beobachtend deuten, widerlegen? Stehen hier Behauptungen gegen Behauptungen? Je unschärfer die Beobachtungen durch die Selbstbeteiligung der Beobachtenden werden, desto schwieriger wird es, sich zu einigen. Konträre Ansichten lassen sich nur dadurch widerlegen, dass wir anhand konkreter Beispiele aufdecken, nach welchen Mustern sich Mythen konstruieren. Aber dies könnte der Gegner solcher Sichtweise ja auch tun. So bleibt letztlich bei solcher Aufgabe – und alle Bestimmungen im Kontext bewusst-unbewusst sind so gelagert – nur der Konsens, den wir deutend und bedeutend mit anderen erreichen können. Dies spiegelt sich in der Tat in der Wissenschaftslandschaft, die in zahlreiche kleinere oder größere Gemeinden zerfällt. Manche haben neben sich unüberbrückbar erscheinende Gebirge oder reißende Flüsse errichtet, um ihre Konsensbedingungen durch Abspaltungen, Grenzen, Risse zu klären. Es sollte jedoch Vorsicht im Absprechen der wissenschaftlichen Geltung geübt werden. Das Unbewusste nach Freud ist kein spekulatives Abstraktum, für das es keinerlei Erfahrungsbeleg gibt. Es ist Ausdruck einer unschärferen Erfahrung als Verhalten, das in Laboruntersuchungen kontrolliert werden kann. Aber es ist ein erlebbares Selbst-Verhalten, das sich durchaus auch in – für andere bloß zufällig erscheinenden, d.h. als Zufall konstruierten – Ereignissen niederschlägt und beobachten lässt.
So wie für den Psychoanalytiker der Traum ein Hilfsmittel ist, um durch die Analyse der Traumarbeit in der Therapie die verborgenen, unbewussten Strukturen an das Licht zu bringen und bewusst zu machen, so könnte es Aufgabe der Arbeit am Mythos sein, sich nicht durch die vielen Abenteuer und Erlebnisse, die geschildert werden, über einen tieferen Sinn täuschen zu lassen. Auch hier ist das Ziel die Bewusstwerdung, was meint, dass ein heutiger Beobachter jene Beobachtertheorien zu rekonstruieren versucht, die zu diesen scheinbar „zeitlos“ objektiven Dokumentationen des menschlichen Geistes gehören. Gewiss sind sie objektiv, sofern sie dokumentiert sind. Aber ihr Schein ist jene Unschärfe der Rekonstruktion, die dadurch notwendig entsteht, dass wir bereits durch die Beteiligung unserer Imagination und Symbolvorräte in sie eingreifen.
Solche Art Bewusstwerdung schließt die Annahme ein, dass der Interpret im Besitz einer Kategorisierung von Welt ist, die das zu interpretierende Phänomen dieser gegenüber korrekt einordnet. Im Rückbezug auf das Phänomen selbst wird die eigene Kategorisierung dann als mehr oder minder plausibler Beleg angeführt werden. Auch eine konstruktivistisch orientierte Beobachtertheorie kommt nicht ohne solchen inhaltlichen Bezug auf die Re-Konstruktion von Wirklichkeit aus. Sie gewinnt ihren inhaltlichen Reichtum im Streit mit anderen und für Mitstreiter erst aus einer Vielfalt von Konstruktionen, die sie bis hin zur Unschärfe des praktischen Gebrauchs vertritt.
Kehren wir nochmals zum Verhältnis von Traum und Mythos zurück. Aus ihrer Art der Interpretation mögen Traum- und Mythenanalysen sich mitunter recht nahe kommen. Betrachten wir es hingegen aus der unterschiedlichen Funktionsweise von Traum und Mythos, dann stellen sich bedeutende Unterschiede her.
Der Traum ist eine Erlebniswelt, die wir alle kennen. Unsere Träume sind jedoch in der bürgerlichen Welt zumeist eine reine Privatangelegenheit. Viele reden mit den besten Freunden nicht über ihre Träume, denn die eigene Unsicherheit gegenüber dem eigenen Traum ist oft so groß, dass wir ungebetene Entdeckungen fürchten. Wir individualisieren unsere Träume oft so sehr, dass wir sie am liebsten schnell vergessen, wenn sie uns überhaupt zu Bewusstsein kommen. Wenn wir unverblümt über das sprechen, was wir träumten, könnte dies nicht die Menschen verstören, die uns am nächsten sind? Es ist ja eine eigenartige Wahrheit, die sich da in Bildern voller Schein und Verworrenheit ausdrückt. Sind wir oft nicht selbst verstört genug über jenen Anteil Peinlichkeit oder „Irrsinn“, der da aus uns hervorbricht?
Der Traum scheint damit deutlich vom Mythos unterschieden: Dieser ist eben keine Privatsache, die verschwiegen wird, sondern eine öffentliche Angelegenheit, aus der jedermann lernen kann. Gemeinsam mit unseren Träumen hat der Mythos den Gedanken des Wunsches, denn auch er soll uns Fragen beantworten und Lebenslösungen bereitstellen, die in der Realität zwar als unwahrscheinlich gelten mögen, in der Fantasie jedoch leicht als denkbar erscheinen. Nehmen wir die griechischen Götter und die Helden von Troja, wie sie in den Homerischen Epen beschrieben sind. Die Menschen sind voller Wünsche: Autarkie des Lebens, Lust in der Sexualität, Frieden in der Heimat und reichen Besitz. Dann der Neid untereinander, die schöne Frau, Helena, die geraubt wird; ein Streit selbst unter den Göttern. Der Mythos zerfällt in viele Geschichten, er verdichtet sich wie ein Traum, er verschiebt den eigentlichen Konflikt auf Nebenschauplätze, er strotzt von breit ausgemalten Bildern, der Dichter schließlich hat alles sekundär für uns aufgearbeitet. Und trotz dieser Gemeinsamkeit mit dem Traum die wichtige Differenz: Die Erinnerungsspuren, die der Mythos verarbeitet, bleiben nicht indi­viduell wie bei unseren Träumen, denn es ist uninteressant, was der einzelne in sich erlebt, sofern es nicht allgemein ein Problem der Menschen, eines symbolischen Handelns, einer Erklärung ist. Der Unterschied besteht also darin, dass mein individueller Traum zwar im Rahmen meiner Biografie ganz aufschlussreich für mich sein mag, der Mythos jedoch aufschlussreich für alle die sein soll, die ihn hören. Der Erfolg des Mythos, besonders in den „Kindertagen der Menschheit“, rührt offenbar daher, dass er in dieser allgemeinen Aufgabe eben gerade die Stilmittel benutzt, die die hohe Erlebnishaftigkeit des Träumens ausmachen.
Dieser Unterschied zwischen Traum und Mythos gilt dann als entscheidend, wenn man den Mythos schon als Vorbereitung des Logos sieht (vgl. Nestle 1975, Cassirer 1985). Aber dies war nicht immer so. In der Frühzeit der menschlichen Entwicklung nahmen die Träumer ihre Träume als direkte Signale aus der mythischen Welt. Insofern gehören die ersten Träume sicherlich mit zur Geburt der Mythen.
Für eine Beobachtertheorie des Träumens oder der Mythen mag diese Unterscheidung im allgemeinen wichtig sein – insbesondere um den individuellen Abweichungen und Variationen ihren immer berechtigten Anteil zu lassen –, aber sie führt in gewisser Weise auch in die Irre. Denn der individuelle Traum wird nie nur eine Privatsache sein. Für Freud bedingt gerade das Lustprinzip eine Objektbesetzung und Befriedigungsleistung, die sich immer auf die Außenwelt, vorrangig auf Personen, aber auch auf Dinge richtet, so dass die menschlichen Wünsche zwar in individueller Gestalt erscheinen mögen, dabei aber zugleich in einen Interaktionszusammenhang verwoben sind. In der erträumten symbolischen Welt erscheint die Lebenswelt in ihren Zeichen und Symbolen vermittelt, wobei nie eindeutig die Systemimmanenz des individuellen Träumers hergestellt werden kann, da diese durch die Lebenswelt transzendiert wird. Die daraus entstehende Unschärfe der möglichen Traumdeutung verhindert eine Beobachtertheorie im engeren Sinne strikter Eindeutigkeit, Wiederholbarkeit und Intersubjektivität, so dass in der Psychologie als Wissenschaft viele den Ertrag solcher Beobachtungen überhaupt bezweifeln.9 In wissenschaftlicher Rigidität neigen sie zur Reduktion und zum Ausschluss interaktionsbezogener und/oder unscharfer Beobachtungen, was sie letztlich zur Leugnung des Unbewussten überhaupt führen kann. In dieser Rettung der Beobachtungswirklichkeit im engeren Sinne dominiert dann ein technisches Verständnis von menschlicher Beziehung, von Interaktion und Kom­munikation, das zwar schärfer im Blick auf die reduzierten Gegenstände und Ereignisse argumentieren mag, aber gleichwohl dies teuer über den Verzicht auf Alltagsnähe und Lebensweltbezug erkaufen muss. Für Wissenschaften, die sich mit dem Menschen und seiner Sozialität befassen, ist ein solcher Verzicht zudem eine Illusion von Wissenschaftlichkeit dort, wo die Unschärfe zum notwendig zu reflektierenden Potenzial von Wissenschaft selbst gehört.
Hier mögen sich auch Tendenzen analysieren lassen, die in den modernen Massenmedien als eine Art neue Mythologie erscheinen. Film und Fernsehen benutzen die Vorrangigkeit des Hör-Bildes und seine Dynamisierung hin zur verdichteten Aktion, die wie ein spannender Traum anmutet, wobei in diesem oft ein variiertes Klischee zum roten Faden der Unterhaltung wird. Werbespots als kleine Mytheme produzieren auf ihre Art eine Welt der Illusionen, die in der Vergänglichkeit der schnell umzusetzenden und zu konsumierenden Warenwelt ihr Äquivalent findet. Die Durchsetzung der Werbung mit dem Lustprinzip führt zu immer neuen Konstruktionen von Banalität, weil sie nur als Klischee demonstriert, nicht aber als lebendige Beziehung geführt werden kann. Dass aus der Häufigkeit des Auftretens solcher Klischees auch klischeeorientierte menschliche Beziehungen resultieren können, zeigt die Macht von virtuellen Konstruktionen in der Be­ziehungs- und Lebenswelt.10
Ich wende mich jetzt der Methode Freuds näher zu. Dabei werden einige Exkurse in andere Begründungszusammenhänge dazu dienen, die Argumentation zu differenzieren.

 

Fußnoten

1 Dabei versuchen psychoanalytische Untersuchungen am Beispiel der archaischen Gesellschaften den üblichen Anthropozentrismus der sozialen Theorienkonstruktion zu überwinden und die Ausgangsposition der menschlichen Natur zu versachlichen. Dies muss man Freud zugestehen.

2 Zur Kritik an der Methode der Einbindung der Mythen bei Freud vgl. Kapitel II.3.7.

3 Ich werde weiter unten in Kapitel II.3.8 noch genauer auf die konstruktivistische Bedeutung dieser Situation zu sprechen kommen.

4 Die Umstrittenheit der Selbstreflexion im Blick auf das Unbewusste wird mich besonders in Kapitel II. 3.6. in Auseinandersetzung mit Habermas beschäftigen.

5 Später gestand Freud dem Traum auch eine Verarbeitung traumatischer Erlebnisse zu; vgl. Freud (1989, I, 451 ff.).

6 Auf die Variationen der Freudschen Triebtheorie – insbesondere seinen Dualismus der zwei Grundtriebe – kann hier nur hingewiesen werden. Triebe waren für Freud keine statischen Größen seiner Spekulation. Er veränderte anhand klinischer und allgemeiner Überlegungen sein Triebkonzept mehrfach.

7 Um es nicht so einseitig zu belassen hier auch kurz die Nennung weiblicher Genitalsymbole: Schächte, Gruben, Höhlen, Gefäße, Dosen, Flaschen, Büchsen, Kisten, Schachteln, aber auch Schränke, Öfen und vor allem das Zimmer – man spricht umgangssprachlich von der alten Schachtel und dem Frauenzimmer.

8 Ganz so beliebig ist das Beispiel aber wiederum nicht, weil gerade die Odyssee sich gut als „Dialektik der Aufklärung“ (Horkheimer/Adorno 1971) zu einer Re-Konstruktion von Mythos und historischem Fortschritt zusammendenken lässt.

9 Solche Zweifler reduzieren Interaktionen meistens auf Verhalten. Verhalten wird dann schlimmstenfalls auf die Trivialität von Reiz und Reaktionen beschränkt. Zur Kritik solcher Ansätze vgl. z.B. Devereux (1967).

10 Vgl. dazu weiterführend insbesondere Band 2, Kapitel III.2.5 und Kapitel IV.4.5.2. Vgl. dazu auch Reich/Sehnbruch/Wild (2005).

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