Kersten Reich: Die Ordnung der Blicke. Band 2: Kapitel III.2 und 2.1

   

>> zurück zum Inhaltsverzeichnis und zur Auswahl der Kapitel

2. Interaktionistisch–konstruktive Beziehungslogik

Es gehört zu den immer wieder diskutierten anthropologischen Voraussetzungen des Menschen, dass er nicht alleine überleben kann. Gehlen (1986) bestimmt den Menschen als ein handelndes Wesen, das sich selbst noch Aufgabe ist. Als weltoffenes Wesen muss es sich nicht nur mit der Umwelt auseinandersetzen, sondern benötigt notwendig eine Verständigung mit anderen Menschen, um zu überleben (ebd., 31 ff.). Nach seiner Geburt ist er zunächst  hilflos. Diese Hilflosigkeit erscheint besonders dann, wenn wir unterstellen, dass er alleine auf der Welt ist. Doch diese Unterstellung ist fiktiv. Seine Geburt produziert, wenn wir systemisch schauen, mit Notwendigkeit Helfer, dies ist der tätige Ausdruck seines Aufwachsens, wobei diese Helfer allerdings sehr unterschiedlich sein können und der Begriff Helfen zunächst auch kein moralisches Urteil über das ausdrückt, was geschieht. Der Mensch ist ein strikt interaktives Wesen, sofern er überleben will. Der chinesische Begriff des ren – ein Grundbegriff des Konfuzianismus – drückt dies sehr deutlich aus: Mensch und zwei sind die beiden Zeichen, die ren bilden. Ins Deutsche wird ren gemeinhin mit Menschlichkeit übersetzt. Aber dabei bleibt die Interaktion unterschlagen. Die antike chinesische Philosophie bringt in der Bezeichnung von ren etwas zum Ausdruck, was wir in unserem Ansatz betonen: Die strikte Interaktivität menschlicher Lebensformen (vgl. Reich/Wei 1997).
Gleichwohl fällt es schwer, die Interaktion als Grundvoraussetzung menschlichen Lebens zu sehen. Was hindert uns?
Zunächst erscheint die Interaktion als trivial und banal. Es ist bloß eine Tätigkeit, die ohne wissenschaftliche Relevanz auftritt. Diese Tätigkeit erscheint als normal: Es ist der Alltagstrott des Aufwachens, des Einschlafens, der Tätigkeiten des Tagesablaufs im menschlichen Mit- und Gegeneinander. Motorische Aktion und Reaktion, psychische Muster und konventionelle Verhaltensstandards sind als Elementarbestandteile solcher Tätigkeiten so selbstverständlich, dass wir sie bei Abweichungen vom „Normalen“ Spezialisten anvertraut haben, die sie aber auch erst beobachten, wenn Störungen erscheinen. Ausschließung und Ausgrenzung bedingen die Beobachterfelder. Dies reicht bis hin in die höchsten Ausbildungsformen, die z.B. Lehrer und Erzieher qualifizieren, ohne sich direkt mit dem Tätigkeitsfeld – diesem banalen Feld des Alltags – auseinanderzusetzen. Solche Praxis geschieht ohnehin alltäglich, und der in erster Linie fachlich qualifizierte Pädagoge erscheint als Idealtypus eines Vergessens.
Hier vereinfachen wir unser Bild von Kindheit und Erwachsenwerden gerne darauf, das Subjekt solcher Tätigkeiten in den Vordergrund zu stellen, ohne die Anderen zu bemerken, die dieses Subjekt sind. Das Selbst aber ist der a/Andere. Ich schreibe ihn als den anderen mit kleinem a, sofern das Subjekt seine Imaginationen auf andere richtet; als Anderen mit großem A, sofern der außerhalb des Subjekts betroffene Andere von einem Beobachter, einem Subjekt zur Geltung gebracht wird.
Das Selbst ist eine Kategorie, die die Summe dessen beschreibt, was ein Ich, ein Subjekt, über sich weiß und was Andere sich einbilden, über es zu wissen. Es scheint ein reiner Ort im Ich zu sein, ein Rückzugsplatz, von dem aus gerufen werden kann, dass die Gedanken frei sind, dass ich „ich“ bin, dass ich dies und das fühle, dass ich ganz allein das bin, was ich bin. Es fehlen die Worte, es auszudrücken. Hinter diesem Schein lauert der Andere, der Fremde, jener, der sich eingeschlichen hat, ohne dass ihm leicht ein Name gegeben werden kann, jener Unsichtbare, der seine Bindungen knüpft, die wiederum nur Spezialisten der Beobachtung uns aufzulösen versuchen.1 Hegel bringt es auf den Punkt: „Das Selbstbewusstsein erreicht seine Befriedigung nur in einem anderen Selbstbewusstsein.“ (Hegel 1970, 144) Der Begriff der Anerkennung vermittelt notwendig ein Subjekt mit einem anderen; ohne Anerkennung kann kein Selbstbewusstsein sich selbst erkennen, weil es sich nicht zu unterscheiden weiß zwischen sich und dem a/Anderen; aber dieser Andere ist längst in ihm, weil nur so die Anerkennung überhaupt gelingen kann. Ein kleines Kind saugt nicht nur die Muttermilch, sondern auch die Bilder, Gerüche, Gefühle und Sprache seiner Eltern auf, jene Welt der a/Anderen, die zu seiner eigenen Welt wird, zur Entfaltung wie auch Begrenzung seines Selbst führt. Es erlebt Affekte nach bestimmten Ereignissen und Mustern, deren Erinnerungsspuren zum Aufbau eigener Assoziationen oder innerer Muster beitragen, die es begleiten werden, und es wird immer Kraft aufwenden müssen, sich von solchen Ereignissen, seien sie an sinnliche Erfahrungen geknüpft oder eher imaginärer oder symbolischer Art, leiten zu lassen oder abzulösen.
Hegel hat deutlich die innere Logik von Beziehungen erkannt, wenn er besonders den Punkt hervorhebt, dass die Selbstbewusstseine sich gegenseitig anerkennend anerkennen, dass also nur von verschiedenen Blickwinkeln verschiedener Subjekte aus überhaupt eine Beobachtung des Subjekts vorgenommen werden kann. So scheint unser Kind ganz für sich, aber indem es Dinge bei ihrem Namen nennt, nennt es Begriffe der Anderen, eines im Detail unsagbaren Wir – Hegel nennt es Geist, wir sprechen heute eher von Kultur, Lebensform oder Sozialisation –; es nennt etwas außer sich, das es seinen Imaginationen einverleibt und symbolisch abspeichert. Es wird sich später gewöhnlich kaum erinnern, wann es etwas gespeichert hat, welche Anderen mit verantwortlich waren, sondern froh sein, die Speicherung selbst abrufen zu können. In den vielfältigen Kombinationen seiner Gefühls- und Denkwelten wird es ihm dann leichthin so erscheinen können, als sei es nur es Selbst, sein Ich, seine Behauptung gegen die Anderen, die es etwas Eigenständiges sein lässt.
So wechselt unser Bild über dieses Kind zwischen subjektiver Autonomie und Überformung durch Andere: Es ist einerseits geprägt durch Andere, weil es einen Kosmos an Gefühlen, Begriffen, Aussagen und Vorstellungen, an Gedankenverbindungen von a/Anderen sich hat einweben können, um ein anerkanntes Selbst zu werden. Aber es ist andererseits eben genau dieses individuelle Ich im Hier und Jetzt, was einem beliebigen Anderen entgegentritt. In unseren Beobachtungen schwanken wir zwischen diesen Deutungen.
Das Ich setzt sich als Ich durch den Anderen; der Andere ist Ich durch seine Begrenzung vom Ich. Die Menschen gaben sich Namen, um in diesem komplizierten Wechselspiel ihre Besonderung zu symbolisieren. Im Familiennamen ist dies aber zum Teil auch wieder aufgehoben, um ein Gruppeninteresse gegenüber dem Anderen zu signalisieren. Aber dies allein hat wenig geholfen, Beziehungsstrukturen zu durchschauen, auch wenn es eine wesentliche Distanzierungsform für Selbst- und Fremdbeobachter darstellt. Sie haben sich gleichzeitig allgemeine Theorien konstruiert, die die Objektivität ihrer Beziehung, die Möglichkeit und Notwendigkeit von Anerkennung symbolisieren sollen. Hegels Philosophie ist in dieser Hinsicht ein Glanzstück in der Abarbeitung des Dilemmas von Anerkennung. Nicht nur, dass er selbst diesen Begriff aufgespürt hat, er führt ihn auch in seiner „Phänomenologie des Geistes“ konsequent bis zu jener Versöhnung durch, die einen aufgeklärten Menschen voraussetzt, der mit sich und der Welt, mit seinem Selbst und den Anderen zu einer Verständigung kommt, indem er auf den objektiven Weltgeist als jene Bewegung achtet, die überhaupt nur als allgemeiner Anspruch jenen Riss versöhnen kann, indem in einer letzten Projektion eine Logik höherer Ordnung angerufen wird, die sich im geschichtlichen Treiben zu zeigen scheint: Nur menschliche Vernunft und die Einsicht in die Geschichte wird uns auf solche Abstrakta hin versöhnen können, die wir zu einem absoluten Ausgangspunkt selbst gewählter wechselseitiger Anerkennung und damit universeller Verständigung machen könnten und sollten. Dieser Anspruch jedoch, so genial er auch von Hegel differenziert wurde, bleibt aus und scheitert immer dann, wenn er konkret, d.h. mit bestimmten Interessen in der Beziehungswirklichkeit formuliert wird. Er scheitert an der Gegensätzlichkeit menschlicher Interessen, die aus der Herrschaft heraus resultieren, die Hegel selbst bereits für das Anerkennungsverhältnis erkannte und als Dialektik von Herr und Knecht beschrieb. Vernunft hat noch keinen Krieg verhindert, der durch Interessen gesponsert war. Vernunft geht eigenartige, rationale wie irrationale Beziehungen als Verobjektivierung, als Symbolisierung zwischen den Menschen ein. Vernunft kurzum ist, wie auch immer ich sie als Geschichte eines objektiven Geistes mir zu rekonstruieren versuche, niemals frei von den Interessen derjenigen, die sie betreiben und desjenigen, der sie re/konstruiert.
Verlassen wir nochmals den westlichen Kulturkreis und wenden uns in das antike China zurück, so finden wir dort ein Paradigma, das konsequent die Vorgängigkeit von Beziehungen als Lebensform artikuliert. In der chinesischen Philosophie ist die westliche Versöhnungsideologie nicht möglich, weil die Position des Menschen von vornherein in unterschiedlichen Beobachterbereichen gesehen wird. Eine Versöhnung wird hier bevorzugt durch Rituale und Herrschaft erzwungen. Aber sie ist als Erzwingung nur deshalb notwendig, weil der Mensch in seinen Interaktionen gegenüber den Herrschaftsansprüchen von außen (insbesondere des Staates gegen die Familie) stets egoistisch, individuell, ambivalent erscheint. Deshalb setzt der Konfuzianismus sehr streng auf Selbstbeherrschungsleistungen, um die Funktionalität und Durchgängigkeit von äußerer Herrschaft zu sichern. Damit erkennt der Beobachter in diesem Kulturkreis aber die Beziehungen als Voraussetzung einer Reflexion über die Welt an. Da so die Unschärfe der Erkenntnis direkt in das reflektierende Denken eingeführt ist, denn Beziehungen lassen sich nicht als Objektwelt ordnen und unter eine Deutung stellen, erscheint kein übertriebener metaphysischer Standpunkt. Sein Fehlen verleitete westliche Denker immer wieder dazu, das chinesische Weltbild als naiv zu diffamieren.
Der abendländische Kulturkreis neigt dazu, wie ich mit Levinas herausgestellt habe (Band 1, Kapitel II.2.2.2), sich insbesondere die zwischenmenschlichen Beziehungen unter einer Verallgemeinerung von Inhalten anzueignen, um Fremd- und Andersartigkeit zu vermeiden. Hier geraten die Beziehungen in Vergessenheit, die Verobjektivierungen der Welt stehen im Vordergrund. So geht ein Bewusstsein für die Unterschiedlichkeit der Subjekte in Beziehungen verloren. Ein Denken in allgemeinen Fällen breitet sich aus. Es entstehen unzählige Versuche, dieses Denken eindeutig – aus den Unschärfen der Beziehungen herausgenommen – zu bestimmen. Die Kränkungsbewegungen zeigen die Grenzen dieser Versuche.
Ein großer Angriff gegen die Versöhnung steckt auch in einer Konstruktion des Menschen, die Freud als Triebstruktur zu entdecken bemüht war. Der Riss bewegt sich nicht nur zwischen je eigenem Ich und Anderem, sondern wurzelt bereits in jedem Ich, das sich gekränkt sehen muss, weil es niemals Herr im eigenen Hause ist. Auch im Blick auf diesen Punkt ist Hegel eine Vorahnung nicht abzusprechen, denn die Dialektik von Herr und Knecht kann bei ihm nicht nur als äußeres, sondern auch als inneres Verhältnis beschrieben und interpretiert werden. Als Stufen der Tätigkeit, die unserer Beziehungswirklichkeit entspricht, nennt Hegel Lust und Notwendigkeit, Gesetze des Herzens und Tugend und Weltlauf. Auch hier ahnt er genial voraus, das der Anspruch von beziehender Tätigkeit zunächst die Lust und eine aus ihr entspringende spezifische Dialektik ist. Doch wo für Hegel Versöhnung auch hier möglich ist, erscheint sie für Freud als gänzlich unmöglich. Freud führt uns jenen animalischen Teil unserer Natur vor Augen, der in Trieb- und Gefühlswelten verankert ist, und aus dessen Sicht Vernunft nur noch einen speziellen Beobachterstandpunkt mit eingeschränktem Wirkungskreis verkörpert. Das individuelle Interesse bringt notwendig Leid hervor; ein geschicktes Leben nach Freud besteht im Blick auf das Triebschicksal vor allem darin, Leidverminderung möglichst effektiv zu betreiben. Es gibt ein neues Selbst, das nicht mehr nur die Anerkennung im Sinne des Geistes suchen und anstreben muss, sondern auch triebbezogene Anerkennung benötigt. Damit verkompliziert sich das Beziehungsgeflecht erheblich: Selbst und Anderes verflechten, verweben, begrenzen sich in unterschiedlichen Interdependenzketten unterschiedlicher Reichweite, wobei Triebe und Gefühle ebenso eine Rolle wie kognitive Bezüge spielen. Es gibt äußere und innere Beziehungs-Welten, die kompliziert miteinander interagieren und kommunizieren.
Drei Aspekte habe ich damit hervorgehoben, die die Beziehungswirklichkeit zu einem schwierigen Beobachtungsfeld werden lassen:

(1) Die Tätigkeit der interagierenden Menschen erscheint in ihrem Alltag, der von wissenschaftlichen Theorien besonders gerne entwertet und abqualifiziert wird. Ihre Unschärfe und Komplexität lässt sich nicht mit den errichteten Normen einer exakten Beobachtungswelt bearbeiten und beschreiben, so dass ein kaum zu kittender Riss zwischen menschlichen Tätigkeiten bzw. Praktiken und wissenschaftlichen Reflexionen über diese erscheint. Diese Entkopplung von Theorie und Praxis ruft aber zugleich nach einer Rückkopplung, wenn Wissenschaft sich menschlichen Tätigkeitsfeldern zuwendet. (Theorie-Praxis-Problem)

(2) Bei näherer Beobachtung ist es dabei unmöglich, feste und sich gleichbleibende Elemente der Beobachtung durch Definition von Subjekten auszumachen. Unser zweites Gedankenexperiment weiter oben verdeutlichte, dass eine neue Logik, eine Psycho-Logik erscheint, deren Grundlage sich aus einem Selbst und vielen Anderen zusammensetzt. (Interaktionsproblem)

(3) Zugleich ist es aber auch unmöglich, das gekränkte Subjekt in seiner Ich-Position auf einige widerspruchsfreie Grundgrößen zu reduzieren. Es ist in sich selbst widersprüchlich und verkompliziert durch diese Widersprüchlichkeit alles Beobachten. Es steht im Theorie-Praxis-Problem und in einer prinzipiellen Interaktivität. Eine Vielfalt von Fremd- und Selbstbeobachtern erscheint in einem Nach- und Nebeneinander, die einen Zirkel von Voraussetzungen und Wirkungen von Beobachtungen bilden. (Unschärfeproblem)

Diese drei Problemkreise durchdringen sich. Sie bezeichnen auch nicht vollständig eine konstruktivistische Herangehensweise an das Thema, sondern gelten für mich zunächst nur als drei besonders wichtige Problembereiche innerhalb der Beziehungswirklichkeit. Ihre Wechselwirkung korrespondiert mit dem, was andere Theorien ebenfalls konstruiert haben: Der Konstruktivismus und systemische Theorien, besonders in der Therapie, versuchten in den letzten Jahrzehnten, die Beziehungswirklichkeit näher als Beobachterperspektive im Rahmen der drei hervorgehobenen Problemfelder zu erfassen. Die dabei entwickelten Theorien haben ein ganzes Spektrum von Beobachtungsmerkmalen erarbeitet, die allesamt um das Phänomen der Zirkularität in den Beziehungen kreisen. Dies ist vergleichbar mit der Suche nach einer Logik in unserem zweiten Gefangenendilemma. Wir müssen jedoch anerkennen, dass wir zwar logisch vorgehen, aber diese Logik wird als Psycho-Logik zu einer Neuinterpretation des Theorie-Praxis-Problems, der Interaktionen und der erkenntnismäßigen Unschärfen führen müssen. Auch Konstruktivisten müssen in Kauf nehmen, dass ihre Beobachtertheorien immer dann unscharf werden, wenn sie die Komplexität sozialer Beziehungen nicht reduzieren wollen. Sie unterliegen hierbei vielfach der Kritik von denjenigen, für die das reduktive Potenzial von Wissenschaft nach wie vor die einzige Argumentationsfigur einer Selbstbehauptung wissenschaftlicher Ansprüche ist. Aber diese Ansprüche werden zunehmend fragwürdiger, sofern die Theorien sich immer stärker von der Praxis abkoppeln, die Interaktionen (Beziehungen und Lebensformen der Menschen) als Hintergrund von Theoriebildungen verbergen, die eigene Unschärfe der vermeintlich eindeutigen Wissenschaftsergebnisse verschleiern. In vielen Bereichen haben die unschärferen konstruktivistischen Theorien in die Praxis der Lebenswelt und Beziehungen (z.B. insbesondere bei systemischen Therapeuten, aber auch zunehmend bei Lehrern, Sozialarbeitern, in Weiter- wie Fortbildungsangeboten von der frühkindlichen Erziehung über die Familienbildung bis hin in die Erwachsenenbildung) als auch in wissenschaftliche Reflexionen Eingang gefunden. Gerade die Anerkennung der Unschärfe verhindert, so denke ich, eine Übererwartung von Theorieleistungen für die Praxis und stellt aus der Sicht der Praxis neue Anforderungen an die Theorien. In solchen Neuinterpretationen unterscheiden sich die Modelle allerdings im Hinblick auf ihre Methodologie erheblich. Im Konstruktivismus ist bisher eine Bevorzugung des äußeren, interaktiven Verhaltens festzustellen. Hier werden kommunikative Grundstrukturen und interaktive Regeln (vgl. dazu z.B. Reich 2005, Kap.2) – so insbesondere durch die Forscher mit und um Bateson und Watzlawick – bestimmt und programmatisch als Beobachtungsfeld beschrieben. In diesen Beschreibungen ist zusätzlich eine über die letzten Jahre anwachsende Anerkennung des Unschärfeproblems festzustellen. Konstruktivisten suchen oft nach der Schärfe der Erkenntnis, um in dieser Suche wie andere Erkenntniskritiker auch enttäuscht zu werden. Das Festhalten der Enttäuschung (vgl. Band 1) scheint mir deshalb ein wesentlicher Garant für ein effektives Fortschreiten in den Neuinterpretationen.

 

2.1. Interaktion als Spiegelung

Die Psychologik ist nur interaktionistisch beschreibbar. Sofern Menschen nicht wie Planeten oder Elemente in einem dinglichen Spiel behandelt werden, verkehren (zirkulieren) sie nicht nur äußerlich mit- und gegeneinander. Das zweite Gefangenendilemma veranschaulicht, was hier fundamental gemeint ist: Menschen existieren in ihren Beziehungen in mannigfaltigen Spiegelungen mit- und gegeneinander, die sich durch Schlüsselszenarien von Kindheit an aufbauen und in verschiedenen Situationen und subjektiven Perspektiven erscheinen. Doch diese Erscheinungen sind gekränkt, weil weder eine reine Verobjektivierung noch ein übertriebener Subjektivismus taugen, das hier zu beschreibende Phänomen hinreichend zu erfassen.
Im Sinne einer wissenschaftlichen Verobjektivierung wird immer wieder versucht, menschliche Beziehungen und Interaktionen aus einer verdinglichenden,  versprachlichenden Perspektive einer Verobjektivierung und Rationalisierung zu beschreiben. Dies führt oft zu rein symbolischen Erklärungsmustern, die das Wissen über menschliches Verhalten überbewerten und irgendwie für abschließend beurteilbar erklären. Solche rationalen Wissenssysteme sehen Trinken und Essen, Schlaf und Sex z.B. als biologischen Ausdruck einer Wenn-Dann-Beziehung, die eindeutig beschrieben und funktional aufgeklärt werden kann. Sie geraten selbst bei sekundären Begehrensaspekten wie der Liebe, der Schönheit, der „heilen Familie“ usw. nicht in Verlegenheit, sofern sie alles Widersprüchliche in diesen übersehen und sich auf eindeutige Ableitungen konzentrieren. Aber dies geschieht durch Auslassung wesentlicher Beobachterbereiche: Kein verobjektivierender und rationalisierender Vermeider vermag hinreichend die Rolle von Gefühlen, von menschlichen Eigenschaften wie Lachen, Weinen, verliebt sein, Trauer, aber schon gar nicht von Ambivalenzen und Ängsten aufzuklären. Wagt er sich in dieses Gefilde, wie z.B. Sousa (1997), dann muss er mindestens die Grenzen seiner Rationalität im Sinne der zweiten und dritten Kränkungsbewegung zugeben: Es gibt neben der einen hinreichend erscheinenden Erklärung von rationalisierenden Subjekten immer auch eine andere; es ist nicht alles erklärbar, was bedeutet, dass wir das Unbewusste anerkennen oder zumindest als Grenzbedingung unserer begrenzten Bewusstheit akzeptieren lernen (zur weitläufigen Bestimmung des Unbewussten vgl. Band 1, Kapitel II.3.2).
Wenn wir andererseits alles in reinen Subjektivismus auflösen, wozu mitunter Konstruktivisten auch neigen, dann wird allerdings nichts besser. Wird der Subjektivismus nur dazu angeführt, um zu belegen, dass jeder nur seinen Gefühlen folgen solle oder könne, dann wird zwar eine übertriebene Rationalisierung bekämpft, aber durch eine genauso übertriebene Irrationalisierung in eine Vermeidungsstrategie geführt. Vermieden wird hier eine Auseinandersetzung mit der grundlegenden Problematik der Interaktion, in die jede Subjektivität eingeschlossen ist und die jegliche Vorstellung von reiner Autonomie untergräbt. Betrachten wir deshalb die Interaktion näher.

 

2.1.1. Subjektivität als Spiegelung

In Band 1 habe ich am Beispiel der Modelle von Mead und Lacan bereits die Bedeutung von Interaktion und Spiegelung weitreichend entfaltet und Konsequenzen aus beiden Ansätzen – im Zusammenhang mit den umfassenderen Kränkungsbewegungen – gezogen. Dies hat für eine Bestimmung der Beziehungswirklichkeit direkte Bedeutung. Vereinfachend nenne ich nochmals folgende Aspekte im Überblick:

  • Kein Subjekt steht rein für sich. Wenn z.B. von Sprachphilosophen die lächelnde Braut als Paradigma eines frei handelnden Menschen angeführt wird – nach der Devise: Niemand zwingt sie zum Lächeln, also gibt es eine freie Handlung, die „wirklich“ frei ist –, dann wird naiv übersehen, dass ein solches Bild bloß eine Momentaufnahme nicht nur in einem Kontext ist, der durch konkurrierende Erwägungen angegriffen werden kann (so Sousa 1997, 306), sondern es wird auch der gesamte interaktive Hintergrund dieses Bildes negiert: Für wen lächelt die Braut? Inwieweit lächelt die Braut als Spiegelung eigener Erwartungen und erwarteter Routinen? Wieso fixiert sich eine Hochzeitskultur gerade auf jene Fotografien, die diesen Spiegelungsvorgang dokumentieren? Ende des 20. Jahrhunderts stellte Prinzessin Diana den Prototyp der lächelnden Braut und unerfüllter Erwartungen eines Massenpublikums dar. Die Jagd nach Bildern dieser Frau dokumentierte, dass es immer um mehr als um dieses scheinbar autonome Lächeln ging. Sie ist nicht nur ein direkter Gegenbeweis gegen die naive These des freien Lächelns, sondern auch kultureller Ausdruck einer Sehnsucht nach diesem Lächeln scheinbarer Freiheit. Von der lächelnden Braut können wir lernen, dass gerade die vermeintlich reinen Autonomiehandlungen in kulturelle Spiegelungsvorgänge eingebunden sind, die die rein subjektive Position stets schon in Vermittlung mit den Erwartungen und Vorstellungen a/Anderer verknüpft. Als andere (a) nisten sie in den Imaginationen des Subjekts, das sein eigenes Begehren an einem inneren Bild entfaltet, das alles aus bloß seiner Sicht sehen will, obgleich es das nur in Mustern kann, deren Schlüssel in Szenarien seiner eigenen Herkunft – der Herkunft der von ihm einverleibten und agierten Spiegelungsvorgänge – liegt. Aber dies bleibt unbewusst und verschlossen und wird erst dann sichtbar, wenn Andere (A) symbolisch eintreten und aufzeigen, wer oder was wir sind. Die Spannung zwischen a und A verdeutlicht, dass dieses Sein nie vollständig, eindeutig und hinreichend erfasst werden kann. Das Subjekt ist nichts ohne seine Rekonstruktionen, aber kein Subjekt ist eindeutig und vor allem nie vollständig durch die Anderen (Eltern, Erzieher, usw.) determiniert. Diese Unschärfe müssen auch Wissenschaftler ertragen, wenn sie nicht naiv in Objektivismus oder Subjektivismus verfallen wollen.
  • Als Selbstbeobachter neigen wir subjektiv gerne dazu, unsere unmittelbaren Wahrnehmungen, Erfahrungen, Wünsche, symbolischen Deutungen, unser Begehren überzubewerten und in Beziehungen zu Anderen zu verallgemeinern. Doch hier gibt es ungeheure Abstufungen und Variationen von Perspektiven, die ein Selbstbeobachter aufweisen kann: Das Spektrum der Selbstbeobachtungen eines Subjekts reicht von einer selbstherrlichen Ich-Setzung nur einer zugelassenen Richtigkeit von Erklärung bis hin zur angstbesetzten und verzweifelten Aufgabe eigener Subjektivität und dem Zweifeln an allem, was richtig sein könnte. Zudem bleibt es sich in der Lebens-Zeit nie gleich, so dass jede Fixierung auf ein Endstadium eine bloße Illusion bleibt. Dies rührt schon von der stets wirksamen Psycho-Logik her: Nie bleiben sich die Beziehungen gleich, da alle miteinander Bezogenen in Veränderung begriffen sind. Selbst wenn ich als Selbstbeobachter erfolgreich versuchen könnte, mich möglichst wenig zu verändern, so wird dies nicht hinreichend Einfluss auf meine Mitmenschen nehmen können, deren Veränderungen meine Psycho-Logik zwangsläufig berühren und mich schon verändert haben, bevor ich es bemerke.
  • Als Fremdbeobachter sehen wir uns (als Selbstbeobachter) kritisch (in unseren Selbstbeobachtungen). Dies mag der verrückteste Teil unserer Beobachtungen sein: Wir sind als Subjekt eigentlich strikt immer Selbstbeobachter, aber durch die Spiegelungserfahrungen mit anderen lernen wir zugleich, aus unserer subjektiven Rolle der bloßen Selbstbeobachtung herauszuschlüpfen und uns aus den vermeintlichen Augen anderer zu sehen. Dies, so denke ich, begründet die prinzipielle Dialogizität menschlicher Handlungen und ermöglicht erst die Transzendenz einer ansonsten isoliert erscheinenden Subjektivität. Hier gehört aus Gründen der Sicherung sozialer Evolution die Sozialisation von beobachtenden Blicken zum Standardprogramm des kindlichen Aufwachsens. Stets werden wir zu einem Perspektivenwechsel aufgefordert, der unser isoliertes Wünschen und Begehren als klein a in einen sozialen Kontext von groß A stellt. Auch wenn in der postmodernen Gesellschaft die Verpflichtung auf  Wir-Gefühle und soziale Kohärenz abgenommen hat (Eskalation von klein a), so hat der selbstbeherrschende Teil einer Rücksichtsnahme gleichzeitig als Selbstzwang – wie Elias argumentiert – zugenommen. Selbst die Robinsonade als verrückteste Form der Einsamkeit des Subjekts lebt schließlich davon, sich selbst aus den Augen der Fremdbeobachter zu beherrschen (bei Robinson vor allem die Erinnerung an die elterlichen Gebote und an Gott, der alles sieht). In diesen Spiegelungen in uns lernen wir durch die Anderen dort draußen aber auch, dass wir ständig tatsächlich von Fremden beobachtet werden. Dies scheint den Reiz des Spiels zu erhöhen und ständig zu dramatisieren. Wir erfahren, dass unser Selbstwertgefühl immer davon abhängt, wie wir uns aus den Blicken der a/Anderen fühlen können: Also aus unseren Imaginationen der anderen, die wir als unser symbolisch noch nicht kontrolliertes Begehren verspüren und aus den tatsächlichen Aktionen im Zusammenhang mit Anderen, die wir als symbolisch vermittelte Realität erfahren.
  • Das Imaginäre verhindert, dass wir andere so sehen können, wie sie „sind“, aber es ermöglicht, dass wir ihnen mit Begehren, Wünschen, Motiven begegnen. Hier ist jede moralische Einstellung zu vermissen, und der Mensch scheint aus diesen egozentrischen Perspektiven wenig für soziale Kohärenz geschaffen. Dennoch aber hängen wir in Beziehungen vor allem an unseren Imaginationen, mittels derer wir uns verknüpfen oder die Illusion einer Verknüpfung erwägen. Verliebte sind vor allem deshalb für ihre Umwelt schwer zu ertragen, weil sie diese Illusion blinden Verstehens übertreiben, was einerseits gerne Neid auf solches Glück und andererseits eine distanzierende Rationalisierung dieser Erfahrung, die als vergänglich gilt, erzeugt. Doch ist solche Liebe nur einer der Protagonisten des Imaginären. Es sind seine Spiegelungen, die überhaupt für uns Antriebe definieren, die wir noch nicht symbolisch erfasst haben. Die imaginären Spiegelungen, sofern sie den anerkennenden Blick eines anderen in uns (a) und außerhalb von uns (A) benötigen, subvertieren alle unsere Rationalisierungen. Gilt nur klein a, so erzeugen wir Illusionen; gilt nur groß A, so erzeugen wir Abhängigkeit von äußeren Ansprüchen; beide Positionen sind als Extrem schwer zu realisieren; gelten a und A, so benötigen wir eine Ausbalancierung unserer Illusio mit dem Realitätsprinzip. Was treibt uns an, bestimmte Dinge zu tun? Warum diese und keine anderen? Was bestimmt Bevorzugungen, Auslassungen, Sympathien und Antipathien usw.? Wie gerne würden wir oft die Imaginationen unserer Mitmenschen kontrollieren (und ist die Werbung nicht eine wachsende Aussageform hierfür)? In unseren Tagträumen funktioniert so viel, was in der Welt weder zählt noch möglich ist.
  • Das Symbolische dient aber der Begrenzung unseres imaginären Überschwangs. Mitunter reicht es so weit, dass das Imaginäre zwar nicht vernichtet, aber entscheidend begrenzt wird. Dies mag ganz positiv erscheinen: Keine Kultur kommt in ihren Manifestationen – Ästhetik, Kunst, Religion, Wissenschaft usw. – ohne das Symbolische aus. Seine Begrenzungen mögen oft das Imaginäre behindern, aber sie setzen ihm auch Ziele und geben ihm Objekte der Lust und des Begehrens. Das Symbolische ist die Abarbeitungsform, mit der wir das Imaginäre erst systematisch erfassen, besprechen und diskutieren lernen. So dient es der Darstellung des Imaginären, was die imaginären Reize fassbar, begreifbar, kommunizierbar werden lässt. Hierauf gründen sich Aussagen über Schönheit und angenehme Gefühle, über positive Erlebnisse usw. Gleichwohl führt eine permanente Dominanz des Symbolischen auch zur Erstarrung des Imaginären, weil die Fülle der Bedeutungen als Festlegungen das Imaginäre in eine Gefangenschaft setzt, deren Grenzen das Vorstellen überhaupt einengen.
  • Das Reale markiert die grundsätzliche Relativität all unserer imaginären und symbolischen Festlegungen. Obwohl wir das Reale immer auch symbolisch festschreiben, geht es darin nie auf. Es erscheint in den Lücken, Erschütterungen, im Erstaunen, in den Brechungen oder auch in einer sinnlichen Gewissheit, die uns eine Grenze zu unseren imaginären Wünschen und Vorstellungen ebenso setzt wie zu unseren symbolischen Ordnungen, die immer schon wissen, wie die Welt funktioniert. Dabei hängt es ganz und gar vom Selbst- und/oder Fremdbeobachter ab, was als Reales erscheint. Es ist eine  Erscheinung, die die imaginären und symbolischen Lösungen durchkreuzt. Tritt das Reale auf, so wird es meist gleich imaginär und symbolisch bearbeitet, um uns zu beruhigen. Wir überführen es aus dem unsicheren Status eines Schreckens, eines Staunens, eines Ungewissen, einer sinnlichen Ungewissheit besonders gerne in eine symbolische Realität, die als re/de/konstruierte Wirklichkeit aussagt, was geschehen ist, was geschehen könnte, wie es sich im Regelfall verhält. Jede Realität, die wir konstruieren wird durch das Reale, das wir nicht kontrollieren können, subvertiert. Wenn wir von Wirklichkeiten sprechen, so ist das Reale nur deren Hintergrund, der ins Ungewisse, Unbewusste, noch offene Beobachtungsfeld hinaus steht. Wäre alles unsere Konstruktion von Wirklichkeiten, dann wären wir übermächtig. Oft genug müssen wir unsere Grenzen erfahren. Das Reale erscheint immer dann, wenn unsere Grenzziehungen und Ordnungen, unsere Erklärungen und Verständnisse, unsere Vorhersagen nicht aufgehen.
  • Rekonstruktiv erzeugen wir immer wieder neue Sichtweisen und Beschreibungen gegenüber unseren Biografien. In Beziehungen werden jeweils unterschiedliche Bedeutungen wesentlich oder vergessen. Wechseln die Beziehungen, so kommt es immer dazu, dass auch unsere Erinnerungen an das eigene Leben wechseln und neue (vergessene) Bedeutungen rekonstruiert werden. Um unsere eigenen Schlüsselszenarien, die unser Verhalten geprägt haben, zu rekonstruieren, reicht es nie aus, nur auf uns in unseren scheinbar tatsächlichen Erlebnissen zu schauen. Diese Erlebnisse gewinnen erst aus den Spiegelungen des familiären und weiteren Kontextes an Bedeutsamkeit. Aber eine vollständige und reine Rekonstruktion unseres bisherigen Lebens ist unmöglich. Deshalb ist unsere Subjektivität rekonstruktiv unabgeschlossen.
  • Insoweit sind gerade Familienrekonstruktionen immer auch Neukonstruktionen aus einem Hier und Jetzt der gegenwärtigen Beziehungswirklichkeit heraus. Dies erweist sich als unsere subjektive Stärke und Schwäche. Eine Stärke wird es dort, wo wir uns selbst neu bestimmen können, wo es uns gelingt, erworbene Muster zu verändern, wenn es die Umstände erfordern. Die Schwäche erscheint hingegen in der Haltlosigkeit und Herausforderung dieses Prozesses selbst: Je weniger wir durch Rituale und sozial verbindliche Handlungsnormen in unseren Urteilen und Handlungen geleitet sind, desto mehr mögen wir die Überforderung spüren, der wir ausgesetzt sind. Das Konstruktive zu leben wird zur Anstrengung eines ständigen Wandels, der auch noch reflektiert sein will. Die Theorie, die dies heute mit Vehemenz fordert, nennt sich Konstruktivismus. Aber die in ihr beobachtete Subjektivität kann nicht solipsistisch sein, sondern ist stets sozial (durch Spiegelungen über/mit/gegen a/Andere) fundiert.
  • In der Welt konstruktivistischer Stärke angelangt, bedarf es einer Umkehrung, wenn die Reflexion gelingen soll: Jede Konstruktion trägt ihre Ausschließung, ihre Einseitigkeit, ihre Verabsolutierung in sich, so dass der glückliche Positivismus, den wir durch konstruktives Handeln gewinnen, kritische Dekonstruktionen erfordert. Sonst werden wir zu bloßen Machern, denen die Distanz zu ihrem Tun fehlt. Dann breitet sich eine neue Naivität aus, die das Herstellen und scheinbar erfolgreiche Subjektivität übergeneralisiert. Da aber jedes Herstellen Auslassung bedeutet, bedarf es der Beobachtung solchen Auslassens als Dekonstruktion der eigenen Mächtigkeit. Dies ist die notwendige Ironie, die der konstruktivistische Wissenschaftler hinnehmen muss: Je besser er subjektiv gearbeitet (konstruiert) hat, um so kritischer muss er sein Werk als zu große Abgeschlossenheit (Subjektivität) betrachten.

Auf dem Hintergrund dieser Beobachtungsstrategien erkennen wir, dass Subjektivität strikt interaktionistisch geprägt ist. Ich will drei weitere Seiten ansprechen, die in diesem Kontext für die Beziehungswirklichkeit als sehr bedeutsam erscheinen. Die Seiten nenne ich Experience (Erfahrung), Projektion und Virtualität. Sie werden in späteren Analysen als Aspekte immer wieder hervortreten.


Experience:

John Dewey sieht jede Handlung als eine Aktion der Widerfahrnis: „Every vital activity of any depth and range inevitably meets obstacles in the course of its effort to realize itself“ (MW6:230). Menschliches Handeln entsteht dort, wo wir auf Schwierigkeiten stoßen, wo Probleme und Schwierigkeiten entstehen, die uns motivieren, nach Lösungen zu suchen oder Lösungen suchen zu müssen.
Handlungen finden als experience statt. Dieser Begriff, der durch das deutsche Wort Erfahrung nicht hinlänglich wiedergegeben werden kann, ist in Deweys Werken sehr zentral. Experience findet dann statt, wenn ein Individuum mit seiner Umwelt interagiert. Dabei kann diese Umwelt auch andere Individuen umfassen. Experience, Leben, Kultur, diese Begriffe lassen sich mitunter synonym gebrauchen, aber Dewey hat eine sehr klare Deutung. Experience ist kein nebulöses Ineinander von Natur und Individuum, sondern ein klar interpretierbarer Handlungsbezug.
Experience scheint zunächst jede Form von Erfahrung im Sinne einer Wahrnehmung, eines unmittelbaren Erlebnisses zu sein. Hier bemerkt das Individuum in einer Situation etwas, kann es aber nicht näher erklären oder deuten. Diese Form des Bewusstseins (awareness) unterscheidet Dewey klar von einem experience, das Erfahrung und zugleich das Bewusstsein dieser Erfahrung ist. Ein solches experience entsteht in den Konsequenzen des eigenen Tuns und eigener Aktionen, was sich durch Widerfahrnis in einer Umwelt zeigt. Experience ist eine sehr enge Verbindung zwischen Tun (doing) und der Wirkung des Tuns im Erfahren (Erleiden, Erleben usw.) (undergoing). Wenn beide getrennt werden, wie es z.B. in Schulen viel zu oft geschieht, dann findet nicht wirklich experience statt. Dann wird nur künstlich, aber nicht für eine Praxis, für Handlungen, für das Leben gelernt. Wenn doing und undergoing hingegen miteinander verbunden sind, dann wird das experience lebendig und signifikant. Dabei sind doing und undergoing immer auch mit der Ordnung und dem Stabilen (stable) und der Unordnung und dem Unsicheren (precarious) verbunden, in ihnen drücken sich bereits Bekanntes, Vertrautes, Familiäres ebenso aus wie Unbekanntes, Unvertrautes, gänzlich Neues.

Experience ist nicht dualistisch, aber Theorien hierüber tendieren oft dazu, künstlich Dualismen zu errichten. Wir haben uns angewohnt, hier lange Listen von Gegensätzlichkeiten zu errichten, weil sich darin unsere Erfahrungen spiegeln, oft zu vereinfachend, um in der Fülle der Möglichkeiten des experience einen Überblick und Strategien des Überlebens zu entwickeln.
Wenn wir nur etwas bewusst wahrnehmen, ohne irgendeine Konsequenz daraus zu ziehen, dann ist es meist eine sehr oberflächliche Erfahrung. Umfassender wird diese Erfahrung erst durch Lernen. Lernen ist der wesentliche Schlüssel für das experience, denn erst durch Beobachtung, Denken, Umsetzung in Handlungen und eine lernende Reflexion hierauf mit einer Erinnerung hierüber entsteht ein umfassenderes experience.
Experience, das ist sowohl experiencing (also ein Prozess des Erfahrens) wie die Anerkennung des experienced (also des bereits Erfahrenen). Dewey unterscheidet ein primary von einem secondary experience:
Primary experinece  geschieht z.B., wenn wir das erste Mal, unvorbereitet, in eine Flamme fassen und uns verbrennen. Dies ist eine Phase noch präreflexiver Interaktion, in der wir die Erfahrung als das nehmen, was sie ist: Dinge werden in dieser Erfahrung direkt benutzt und gebraucht, es wird agiert und gehandelt, erfahren, erlitten, erlebt, mit Freude und Leid. Solche Erfahrung ist noch naiv, unschuldig, frei von Deutungen und damit in gewisser Weise unmittelbar, obgleich auch sie bereits an habits anschließt: Hier, das wir bereits gelernt haben, nach etwas zu greifen. Aber in dieses primary experience sind noch nicht hinreichend Begriffe, Worte, Sätze über die Flamme und die Erfahrung mit ihr eingegangen. Je mehr Konsequenzen eine solche Erfahrung für uns hat, desto mehr werden wir in die nächste Phase wechseln.
Secondary experience ist eine Phase der Verarbeitung wie solcher Erfahrungen mit der Flamme. Wir lernen, dass Feuer gefährlich ist. Dazu müssen wir uns noch nicht einmal selbst verbrennen, sondern wir können mittels Begriffen, Worten, Sätzen und geschilderten Erfahrungen anderer lernen, solche Gefahren uns vorzustellen und sie zu vermeiden. Die reflektierte Erfahrung (reflective experience) hilft uns, nicht jede primäre Erfahrung machen zu müssen, aber hier können auch Gefahren lauern, denn je weniger primäre Erfahrungen wir machen desto abgehobener kann unser Intellektualismus gegenüber der Welt und den Wirklichkeiten werden. Dann beginnt eine Selbstvergessenheit gegenüber den Handlungen, die sich auch schädlich auf unsere realistische Einschätzung der Welt und Wirklichkeiten und damit auf unsere Entwicklung auswirken kann.
Am Ende seines langen wissenschaftlichen Lebens hat sich Dewey vom Begriff  des experience trennen wollen. Für experience wollte er den Begriff Kultur (culture) einführen. Denn er sah ein Missverständnis. Viele glaubten in dem Begriff experience eine Art Realismus oder einen Biologismus zu erkennen, den Dewey ablehnte. Er sieht die menschlichen Erfahrungen im Unterschied zu Tieren nie nur oder vorrangig auf der biologischen Ebene, sondern in seinem anthropologischen Verständnis immer auch als Ausdruck der menschlichen Geschichte, der sozialen und kulturellen Verhältnisse. So schreibt er: „Were I to write (or rewrite) Experience and Nature today I would entitle the book Culture and Nature and the treatment of specific subject-matters would be correspondingly modified. I would abandon the term ‘experience’ because of my growing realization that the historical obstacles which prevented understanding of my use of ‘experience’ are, for all practical purposes, insurmountable. I would substitute the term ‘culture’ because with its meanings as now firmly established it can fully and freely carry my philosophy of experience. “ (LW1:361)
Zwar geht Dewey hier davon aus, dass seine Darstellung und sein Ansatz nicht völlig fehlgeleitet waren, aber er betont nun stärker die kulturelle Seite, indem er auf die bereits gemachten Erfahrungen verweist, die in der Menschheitsgeschichte nicht biologistisch gedeutet werden können: „If ‘experience’ is to designate the inclusive subject-matter it must designate both what is experienced and the ways of experiencing it.“ (LW1:362)
Dewey sieht besonders die Gefahr, dass sein Begriff bloß psychologisch in Form von Wahrnehmung und Erfahrung als individuelle Auseinandersetzung mit Welt gesehen werden könnte (als eine Art Assimilations- und Akkommodationsschema, wie z.B. bei Jean Piaget; vgl. Band 1, Kap.II.1.4), aber er will mehr. Experience im Sinne von culture ist zugleich die umfassendere Erfahrung eines lebensweltlichen, kulturellen Bezuges und geht nicht in einer engen Fachperspektive etwa der Psychologie oder gewisser psychologischer Unterschulen auf.
John Deweys pragmatistischer Ansatz ist zwar noch nicht explizit, aber wohl in großen Teilen implizit konstruktivistisch angelegt. Insbesondere sein Konzept des experience macht uns deutlich, dass die unmittelbare (primary experience) und mittelbare (secondary experience) Erfahrung eine wesentliche Grundlage unseres Wahrnehmens und Beobachtens darstellt. Dies gilt auch und gerade für Beziehungen. Mittels Kommunikation, dies war auch schon Dewey klar, realisieren und konkretisieren wir stets unser experience, unsere Zugänge zur Welt und unsere Lösungen in der Welt. Ich denke, wir können den Begriff durchaus behalten, sofern wir die kulturelle Einbettung, die Dewey im Alter betont, dabei immer mitbedenken. Experience drückt einen interaktiven, kulturellen und auf Kontexte bezogenen Handlungsbezug aus, eine Widerfahrnis, die uns die Zirkularität von experiencing und experienced  grundsätzlich reflektieren hilft.
An dieser Stelle will ich den Begriff des experience jedoch auch erweitern. In den Erfahrungen vergessen wir unsere gespiegelte Herkunft, weil und insofern wir in den imaginär vermittelten und symbolisch bezeichneten Handlungsprozessen auf das vertrauen, was wir konstruieren. Wenn die Wirklichkeit unser Konstrukt ist, dann liegt in der aktiven Bewältigung eine wahrnehmende Mächtigkeit, die sich der Welt dort draußen – und hier auch der Beziehungswelt – wie einem Ding, einem Gegenstand, einem Objekt annimmt, um es passend zu den eigenen Bedürfnissen und Ansprüchen zu machen. Aus solchen Anpassungen entstehen habits – Gewohnheiten –, die ebenfalls durchaus aktiv zu verstehen sind: Es sind Rekonstrukte, die wir verwenden, um die Phänomene unserer Lebenswelt nach assoziierten Mustern zu bearbeiten. Deshalb ist für Dewey eine Lerntheorie (learning by doing) entscheidend, um die Subjektivität im Blick auf ihre sozialen Möglichkeiten und Grenzen zu entwerfen, um Impulse in habits zu verwandeln, die wiederum Ausgangspunkte neuer Erfahrungen sein können. Dies macht eine umfassende Interpretation aus interaktionistisch-konstruktivistischer Sicht interessant.2 Zugleich lässt sich das Modell um eine imaginäre Komponente sinnvoll erweitern. Mit Dewey erkennen wir schon, dass auch Beziehungen als  experience gelebt werden. Dies bedeutet, dass sie wie eine Lernerfahrung gedeutet werden können: Die Schlüsselszenen werden unmittelbar und mittelbar durch Lernen angeeignet und bedingen eine Verobjektivierung und Verdinglichung mittels Wahrnehmung. So entsteht der Anspruch, das, was man unmittelbar sieht, auch als begriffen und wahr zu deuten. So entsteht die Erwartung, dass die einmal erlernten Bedeutungen des mittelbaren Umgangs mit Erfahrungen die Wirklichkeit selbst repräsentieren. Doch je mehr wir auf unser experience vertrauen, um so mehr entgehen uns tiefer liegende Schichten, die zwar im experience enthalten sind, die aber symbolisch oft nicht komplex genug angeeignet werden. Dies sind die Spiegelungen. Wir machen uns nämlich aufgrund der Dominanz von Wahrnehmungen als experience keine Gedanken über die Hintergründigkeit solcher Erfahrungen. Wenn wir lernen, dass ein Ball rot ist, dann wissen wir später die Farbe rot auf andere Formen zu übertragen. Wir benötigen keine Erinnerung an die Schlüsselszene, in der der aufmunternde Blick der Mutter uns unermüdlich antrieb, endlich die Farbe rot dem Ball zuzuordnen. Wir haben auch unsere fragenden und spiegelnden Blicke vergessen. Und doch sind sie Teil unseres experience geblieben, denn als motivierender Ansporn, als dunkle Erinnerung an einen geweckten Ehrgeiz, als Strebertum oder Verweigerungs- oder Trotzhaltung mögen diese Spiegelungen – abgekoppelt von den Schlüsselszenen – später wieder erscheinen.
Hier irren die Theorien, die meinen, dass die Relativität unseres Erkennens nur aus den Beziehungen zwischen Beobachter und Objekt herrühren, weil der eine subjektiv und das andere objektiv sei. Von vornherein ist jede Verobjektivierung in Spiegelungen von Beziehungen eingewoben. In dieser Prozedur wird doppelt gelernt: Das Symbolische erscheint als eine den Dingen selbst zuzuschreibende Ordnung, die durch Gebrauch definiert wird (so nach Wittgensteins Gebrauchstheorie der Sprache). Diese Welt mag späterhin als verselbstständigt erscheinen, weil sie die Herkunft durch Lernen dann nicht mehr benötigt, wenn sie in Wissen und Anwendung übergegangen ist. Zugleich aber wird in einer Prozedur von Spiegelungen gelernt. Die Spiegelungen laufen sehr unterschiedlich ab. Sie verteilen von vornherein Chancen. Es wird nämlich stets auch gelernt, wie gelernt wird. Und hier sind die Lern- und Bildungschancen je nach Herkunft sehr unterschiedlich.
Subjektivität aus der Sicht des experience  ist ein Lernprozess. Verlassen wir die kognitiven Festlegungen, die als Wissen erworben werden, dann wird die Doppelseitigkeit des Lernens sehr schnell sichtbar. Wenn wir bei Gefühlen, denen ebenfalls ein experience zugrunde liegt, etwa sagen: „Du musst hier wirklich keine Angst haben“ oder „Es lohnt nicht, ärgerlich/neidisch/kindisch/eifersüchtig/de­primiert usw. zu sein“, dann versagt in der Regel der rationalisierte Einschub als kognitiver Lernvorgang. Wir ändern mit unseren Worten zunächst meist nichts an den Gefühlen, weil sie tiefer in Erlebnissen imaginär verankert sind. Erst wenn diese Szenarien selbst bearbeitet werden – dabei auch bearbeitet wird, wie sie erlernt wurden –, werden Veränderungen möglich.
Für die Analyse von Beziehungen ist das experience  in mehrfacher Hinsicht sehr wesentlich:

  • In Beziehungen stehen wir stets in einem unmittelbaren und mittelbaren experience. Unmittelbar meinen wir dabei, direkt und sinnlich gewiss zu erfahren, was geschieht. Aber diese Position täuscht uns oft, weil sie die bereits erlernten Voraussetzungen, die uns so und nicht anders wahrnehmen lassen (nach Dewey die schon vorhandenen habits), verbirgt. In diesem Vergessen wurzeln viele Missverständnisse, denn wir überbewerten das, was wir sehen. Dies gilt noch stärker für unsere mittelbaren Erfahrungen, die wir oft für unumstößliche Gewissheiten halten. Dann schreiben wir Anderen bestimmte Rollen und Muster zu, wir meinen sie wirklicher und wahrer zu sehen, als sie sich selbst sehen können. Unsere Vorurteile leiten uns ständig.
  • Erst eine Rekonstruktion des doppelten Lernprozesses lässt uns die Relativität aller von uns als experience gewonnenen Urteile erkennen. Wir müssen einerseits die kognitiven Muster erkennen, die wir im Prozess der Erfahrungen mit Erfahrenem konstruieren als auch die dabei eingesetzten Imaginationen (Gefühle, Wünsche, Begehren) sehen, die diese Prozesse selbst antreiben oder mildern. Damit schaffen wir eine wesentliche Voraussetzung, um Beziehungen überhaupt aus dem Dogma der einen richtigen Beurteilung herauszunehmen und offener zu schauen, was Andere sehen und uns sagen wollen.
  • Dennoch ist stets ein Rückfall auf elementare Muster anzunehmen, weil wir in jeder Beziehung in einem experience stehen und hierbei schon habits oder einen Habitus ausgebildet haben. Wir können nie abschließend wissen, was diese Situation mit uns macht, weil wir nicht vollständig erinnern können, wie wir gelernt haben (vor allem tiefe, gefühlsmäßig verankerte Schlüsselszenarien). Unser Habitus aber hat die ständige Neigung alle weiteren Erfahrungen nach dem Erzeugungsmuster des einmal Gelernten zu beurteilen. Auch dieses Muster gilt es immer wieder zu durchbrechen, um eine Metaposition und Selbstkritik als Voraussetzung von Metakommunikation einnehmen zu können.

 

Projektion:
In der Psychoanalyse spricht man vorwiegend dann von Projektion, wenn ich eigene Eigenschaften – besonders jene, die ich verachte – unbewusst auf andere übertrage. Solche Projektion scheint ganz aus mir und meiner objektiven Weltsicht heraus zu kommen, aber auch hier erweist die Spiegelung, mit der ich solche Eigenschaftszuschreibungen grundsätzlich erworben habe, die Relativität meiner scheinbar sicheren Position. Auch wenn Psychoanalytiker für Projektionen stets eine biologische Komponente (Triebstärke, bisexuelle Veranlagung) mit anführen, so wird vor allem das kulturelle Schema (Ödipuskomplex) betont, um die Kraft von Projektionen zu bezeichnen. Nun fragt es sich allerdings, ob wir Projektionen angesichts der imaginären Spiegelungen für Beziehungen nicht noch weiter fassen müssen. Ist nicht jede Imagination bereits eine Projektion?
Sofern wir uns symbolisch über unsere Imaginationen verständigen, die sich begehrend auf andere hin verallgemeinern und diesen bestimmte Eigenschaften – nicht nur unbewusst abgewehrte – zuschreiben, will ich von Projektion sprechen. Dies meint damit ein sehr weites Feld. Es ähnelt zunächst einer existenzialistischen Perspektive, die Sartre nahesteht, wenn dieser sagt, dass wir alle Werte als Abbilder unseres Willens in die Welt projizieren. Hier sind wir scheinbar ganz bei uns, weil kein Fremder und nichts anderes darüber entschieden hat, was wir fühlen und denken, was wir leben und sind (Sartre 1994, 951). Aber es unterscheidet sich zugleich von dieser Sicht, weil es das Imaginäre anders als Sartre auffasst (vgl. Band 1, Kapitel II.2.2.1). Jedes Vorstellen auf der imaginären Seite entspricht einer Projektion, weil es sich auf andere hin entwirft, um aber durch symbolische Überformung, die nicht ohne Wirkung auf die Imaginationen bleibt, begrenzt zu werden. Und gerade hier sind die ersten Imaginationen, die wir in den Spiegelungen der frühen Kindheit erlernen, weit davon entfernt, als freier Wille verstanden zu werden. Jede unserer Konstruktionen ist kulturell rekonstruktiv eingebunden. Das Vergessen und Verdrängen sind deshalb wesentliche Beobachterzugänge, um uns über unsere – teilweise unbewussten – Projektionen zu verständigen (auf diesen Aspekt komme ich besonders in Kapitel IV.3.3 zurück).
Andere Begriffe helfen, das Wesen von Projektionen abzugrenzen. Sprechen wir etwa von einem Überschwang des Imaginären ohne Begrenzung, dann nennen wir in der Regel Halluzinationen. Sie versuchen, das Symbolische zu überspringen, was aber – außerhalb von Krankheitsanfällen – besondere Meditationstechniken oder den Gebrauch von Drogen erforderlich macht. Demgegenüber sind Illusionen nicht durchschaute Projektionen. Sie erscheinen gerne, wenn wir Objekte falsch einschätzen oder falsche Perspektiven wählen, wobei die Falschheit ein Konstrukt von Verständigung über Normalität und Realitätsbezug in einer Kultur ist. Hier mag es großen Streit je nach Verständigungsgemeinschaft darüber geben, was überhaupt als illusionär anzusehen ist. Wünsche hingegen sind dann stets projektiv, wenn sie sich an andere wenden. Da die anderen nur imaginär einverleibt und symbolisch erobert, aber nie „real“ verzehrt werden können, tragen solche Wünsche immer eine projektive Seite. Allein der Kannibalismus mag als Ausnahme erscheinen. Aber hier geht es fast nie um reinen Verzehr, sondern stets um eine rituelle, symbolische Handlung, die mehr will, als sie erreichen kann: Die Kraft, die Macht, den Geist des Verzehrten sich einzuverleiben.
Ich wünsche, weil ich Hunger verspüre, mir etwas zu essen. Das Mahl befriedigt wenigstens vorübergehend meinen Wunsch. Projektion ist hier dann im Spiel, wenn ich mir besondere Speisen projiziere, die mir z.B. verwehrt sind. Aber ganz anders wird die Projektion durch Wünsche dramatisiert, wenn andere ins Spiel kommen. Ich wünsche mir, geliebt zu werden. Aber wie soll die Befriedigung aussehen? Ich projiziere meinen Wunsch auf eine Partnerin, die im glücklichsten Fall ihren Wunsch auf mich projiziert, ohne dass wir erwarten können, in den komplexen Kontexten solchen Wünschens absolut übereinzustimmen. Liebe wird nach relativen Passungen geschlossen. Oft ist sie unpassend. Sie wird aber dort als (zumindest zeitweise) vollendet empfunden, wo die Projektion als illusionäre Verschmelzung gelingt.
Alle Beziehungen zwischen Menschen scheinen mir grundsätzlich projektiver Art zu sein, wobei aber erlebnishaft dichte Verschmelzungen wie im Verliebtsein eher selten und in der Dauer begrenzt sind. Dabei tragen Projektionen mindestens drei Seiten:

  • Im Rahmen der imaginären Kommunikation gilt aufgrund der Sprachmauer in den zwischenmenschlichen Begegnungen die Projektion als eine Konstante, um das Vorstellen in gewisse Richtungen, Bevorzugungen, auf Muster hin zu orientieren. Dabei empfinden wir viele Gefühle, deren Herkunft uns selbst unklar bleibt.
  • Erst eine symbolische Bearbeitung hilft uns, solche Gefühle zu verarbeiten. Dann erst erkennen wir Projektionen und sprechen von ihnen. Sie erscheinen als Besetzungen, die durch das Imaginäre angetrieben werden und sich mit bestimmten Assoziationen, mit Objekten in der Innen- und Außenwelt, mit bestimmten Perspektiven, die wir in bestimmten Situationen bevorzugen, verbinden.
  • Wir sind nie in der Lage, alle unsere Projektionen zu durchschauen. Im glücklicheren Fall wirken sie als unsere Intuition, als Visionen, als Chancen für Veränderungen. Unglücklicher ist ihre Wirkung bei Vorurteilen, Feindbildern und Sündenbockphänomenen (unglücklicher zumindest für Andere).

Projektionen sind aus der Selbstbeobachterperspektive oft als Wahrheit empfundene Einstellungen. Wir agieren sie subjektiv, obwohl sie in Verständigungsgemeinschaften oft ideologisiert gebraucht werden. Adornos Analyse der Projektionen als einer Variable für Faschismus belegt dies eindringlich (vgl. Adorno 1973). Aus der Sicht des Fremdbeobachters erscheinen Projektionen hingegen als Begrenzungen, die die imaginären Kräfte symbolisch lenken. Dies ist genau die Schwierigkeit, wenn wir projektive Beziehungsarbeit leisten wollen. Immer erst im Nachhinein sind wir schlauer. Immer erst später und oft zu spät wissen wir symbolisch, was wir zuvor unbewusst agierten. Nie wissen wir vollständig, welche Projektivität wir bis heute übersehen haben.


Virtualität:

Unsere projektiven Fähigkeiten erlauben es uns, nicht nur teilnehmend Beziehungen zu führen, sondern diese auch virtuell erfahren zu können. Beziehungen haben für Menschen, wie z.B. ein Blick in die Mythologien zeigt, immer auch fiktive, virtuelle Bedeutungen. Dies verwundert nicht, denn das Imaginäre drängt uns stets zu allen Möglichkeiten von Begegnungen, es realisiert sich als Wunsch- und Traumwelt ebenso wie als Abarbeitung von Traumata und Ängsten. Allerdings ist das Virtuelle nicht mit dem Imaginären gleichzusetzen, auch wenn es durch seine Kräfte  besonders beeinflusst wird. Das Virtuelle jedoch ist ein symbolisch vermittelter Vorgang, in dem für imaginäre Kräfte eine reale (an sinnliche Gewissheit gebundene) oder fiktive (aber irgendwie sinnlich gewiss umgesetzte) Gestalt und Form gefunden wird. An die Stelle von Beziehungshandlungen, die wir in unserer direkten Beziehungswirklichkeit erfahren, rücken Als-ob-Handlungen, die virtuell gestaltet sind. In meist sehr trivialer Form erfahren wir dies heutzutage durch die Vermittlung von Massenmedien. In unzähligen Serien, Filmen, Talkshows usw. werden uns Beziehungen vorgespielt. Dies sind nicht unsere als Wirklichkeit erfahrenen Beziehungen (Ebene unserer nicht medial vermittelten Realität), sondern Scheinprodukte von Beziehungen (Ebene der Virtualität), auch wenn reale Schauspieler dabei zum Schein auftreten. Je realistischer gespielt wird, desto mehr erzeugt die virtuelle Welt die Illusion bei Zuschauern, dass so etwas wie reales Leben abgebildet wird. Zugleich aber sind alle Steigerungsformen der Projektivität erlaubt, denn das übergangslose Spiel zwischen Vorgängen eigener Einbildungen und einer Schauspielerei mit Hintergründen aus der Lebenswelt bis hin zu rein fiktionalen Stoffen eröffnet Möglichkeiten unendlicher Deutungen. Und dies kann zu einer ernsthaften Gefährdung von „realen“ Beziehungen führen. Nicht der Sieg des Fernsehens in der derzeitigen Lebenswelt und damit die Untergrabung des Zeitansatzes, den man bewusst in Beziehungen verbringt, scheint in erster Linie gefährdend zu sein, als vielmehr die Illusionierung von Beziehungen überhaupt durch die Virtualisierung. Wir können diese Virtualisierung auch als eine tertiäre Form des experience ansehen: Es wird zwar alles unmittelbar geschaut, aber nur mittelbar über eine von Anderen (sekundär) bearbeitete Projektion erfassbar. In dieser Virtualität entsteht uns als Teilnehmer an den Programmen jedoch ein Beziehungsleben, das sich in unsere Imaginationen einschleicht und unsere Ordnungsvorstellungen von Welt symbolisch besetzt. Dies ist als Qualität menschlicher Fantasie und Virtualität ein altes Problem. In seinen zeitlichen Beanspruchungen und den trivialisierten, klischeehaften Formen und Stoffen, mit denen wir gegenwärtig überschwemmt werden, entsteht aber aus dem Übermaß an Ablenkung, Unterhaltung, Trivialisierung und dem damit verbundenen Wahn nach Offenlegung und Transparenz aller Beziehungselemente auch ein Qualitätsverlust. Wie sollen wir unsere realen Beziehungen noch von den Überwältigungen der virtuellen Meinungsmache eines oft schlechten Geschmacks frei halten? Immer mehr Menschen führen ein virtuelles Beziehungsleben, weil ihr eigenes Beziehungsleben begrenzt, isoliert, sinnlos erscheint. Dann aber verändert sich über das Abschauen virtueller Beziehungen das reale Beziehungsleben in der Tat immer mehr. Hier entsteht eine Krise des Imaginären in der Postmoderne, weil das Imaginäre in seinen Flüchtigkeiten nur angespielt, aber durch die Vielfalt der symbolischen Virtualitäten eben immer auch entwertet wird. Der imaginäre andere erscheint nur noch in vereinfachten Wunschattributen eines Massengeschmacks, der reale Andere erscheint als Fiktion, wobei seiner realen Figur (dem Schauspieler) als Idol gehuldigt wird. Die Subjektivität wird so einerseits bemächtigt (sie verfügt allein über das Potenzial des Ein- und Ausschaltens), um im Endeffekt immer entmächtigt zu werden (sie muss das vorgesetzte Klischee von Beziehungen ertragen). Der Erfolg der Massenmedien deutet darauf hin, dass Beziehungen immer weniger dem virtuellen Sog entkommen. Aus der Sicht von Interaktion und Spiegelung verwundert dies nicht. Die Virtualisierung ist schließlich die einfachste Möglichkeit, die Spiegelungen als Möglichkeiten zu erfahren, zu genießen, zu distanzieren, denn das Virtuelle ist allemal ungefährlicher als das anstrengende Ausleben des eigenen Imaginären mittels einer anstrengenden Umwandlung ins Symbolische und in die Abarbeitungen einer gelebten Beziehung. Gerade dadurch, dass virtuell sowohl unsere symbolische Welt als auch unsere Imagination angesprochen wird – meist durch Aktion und Spannung dramatisiert –, dass aber zugleich unsere Arbeit, unsere Beschwernisse, entlastet werden, entsteht ein eigentümlicher neuer Lustgewinn. Es ist die Lust am Virtuellen. Darin genießt sich unsere Subjektivität, um zugleich durch die verborgene Simultaneität des Vorgangs (wir fungieren als Quote und Massenpublikum) illusionär übertölpelt zu werden.

 

2.1.2. Schlüsselszenarien

Schlüsselszenarien sind verinnerlichte Interaktionsmuster, die entweder bewusst nachgelebt oder schlicht vergessen (mitunter verdrängt) werden und als Re/De/Konstruktionen unsere Imaginationen besetzen und unsere symbolischen Lösungen festlegen. Insbesondere frühe Spiegelungserlebnisse scheinen mir programmatisch als Schlüssel für spätere Assoziationen und Muster von Gefühlen, Verhalten und Einstellungen zu dienen. Allerdings ist der Erklärungsansatz, den ich hier vortrage, nur begrenzt eindeutig. Zwar erinnern wir in unserer Lebenswelt alle bestimmte Schlüsselerlebnisse, aber dies bedeutet im Umkehrschluss keineswegs, dass alle unsere späteren Handlungen durch diese Schlüssel eindeutig determiniert sind. Wir können solche Muster bearbeiten, überwinden, aber auch schlicht vergessen. Hinzu kommt, dass Schlüsselszenarien nur ein Faktor in einem Faktorenbündel von Einflussgrößen darstellen, wenn es darum geht, ein bestimmtes Gefühl, ein Verhalten in Handlungen oder bestimmte Einstellungen zu thematisieren. Andererseits berichten viele Therapeuten von dem Erfolg, den sie damit erzielen konnten, dass bestimmte Muster aufgebrochen wurden, indem Schlüsselszenarien rekonstruiert, dabei erworbene Gefühle, Verhaltensweisen und Einstellungen dekonstruiert wurden, so dass überhaupt erst der Weg zu einer Neuorientierung frei wurde. Dies deckt sich durchaus mit konstruktivistischen Überlegungen, die Piaget in seinem Begriff des Schemas anstellte: Wir erlernen bestimmte Schematisierungen, und es fällt uns offensichtlich schwerer, bereits erlernte Schemata zu verlernen als neue hinzuzuerwerben. Bei der Darstellung des Ansatzes von Piaget (vgl. Band 1, Kapitel II.1.4) sind Sinn und Grenze solcher Modelle erkennbar geworden. Der Sinn liegt in der Ordnung vieler Einzelereignisse, die als ein Entwicklungsmodell unter spezifischen Beobachtervorgaben konstruiert werden; die Grenze liegt an den Begrenzungen und Ausschließungen, die das Beobachtermodell erzwingt. So hatte ich insbesondere für Piaget einen Mangel an interaktivem Verständnis und eine Fehlstelle in der Erklärung der Antriebe, der Motivation gefunden.
Bei John Dewey und seinem Konzept der habits ist der Interaktions- und Kommunikationsaspekt deutlich weiter und besser gefasst. Habits lassen sich nicht mit Gewohnheiten übersetzen, denn Dewey meint mehr mit dem Begriff (vgl. besonders MW:52ff.). Habits sind Verhaltensweisen, die wiederum anderes Verhalten erzeugen: „Habit means that an individual undergoes a modification through an experience, which modification forms a predisposition to easier and more effective action in a like direction in the future.“ (MW9:349)  Sie sind damit dem verwandt, was Pierre Bourdieu einen Habitus nennt. Als habits of action beeinflussen sie für Dewey das Handeln, als habits of thinking unserer Denken. Von ihrer natürlichen Seite her wirken sie bewahrend, von der Denkseite her können sie auch Neues erzeugen: „But habit, apart from knowledge, does not make allowance for change of conditions, for novelty.“ (MW9:349)
In seinen „Ethics“ schreibt Dewey: „Any habit, like any appetite or instinct, represents something formed, set; whether this has occurred in the history of the race or of the individual makes little difference to its established urgency. Habit is second, if not first, nature. (1) Habit represents facilities; what is set, organized, is relatively easy. It marks the line of least resistance. A habit of reflection, so far as it is a specialized habit, is as easy and natural to follow as an organic appetite. (2) Moreover, the exercise of any easy, frictionless habit is pleasurable. It is a commonplace that use and wont deprive situations of originally disagreeable features. (3) Finally, a formed habit is an active tendency. It only needsan appropriate stimulus to set it going; frequently the mere absence of any strong obstacle serves to release its pent-up energy. It is a propensity to act in a certain way whenever opportunity presents. Failure to function is uncomfortable and arouses feelings of irritation or lack.“ (MW5:309-310) Das Zitat zeigt sehr deutlich, dass Dewey zunächst Habits sowohl als natürlich bestimmt oder individuell geformt ansieht. Habits entstehen und wirken dabei im Grunde in der Vermittlung natürlicher und gelebter Anteile. Sie sind dann Möglichkeiten, und hierbei unterscheidet Dewey in seinen Werken sehr viele unterschiedliche Formen von Habits von den Instinkten bis hin zu kognitiven, emotionalen, sozialen oder ästhetischen Habits. Habits, so sagt das Zitat auch, geschehen oft selbstverstärkend, wenn sie positiv verstärkt werden. Und sie drücken Aktivität aus, stellen damit einen Erzeugungsmechanismus her, der durch die Umwelt ebenso verstärkt wie geschwächt werden kann. Allerdings wirken ehemals positiv verstärkte Habits durchaus tradierend, sie bilden sich zu Gewohnheiten im Sinne von Costums aus. Ihnen ist eine Pflicht des Handelns (duty) oft zu eigen, von der schwer abgewichen werden kann. Solche Costums sind deutlich begrenzend, denn ihnen ist eher eine bewahrende, stets wiederholende Seite zu eigen: „Habit and custom tend rapidly to fixate beliefs and thereby to bring about an arrest of intellectual life.“ (MW6:453-454)
Hieraus können dann Anpassungsprobleme (readjustments) entstehen, wenn sich die Umwelt verändert (vgl. ebd.). Habits können andererseits nicht dauerhaft einer bestimmten Umwelt effektiv dienen, denn Umwelten ändern sich durch menschliche Handlungen. Insoweit müssen sich auch die Habits mit verändern, teilweise sind sie sogar impulsgebend für Umweltveränderungen: „Even a thoroughly good habit needs to be kept flexible, so that it may be adapted, when the need arises, to circumstances not previously experienced even by way of anticipation.“ (MW6:466)  Aber sie stehen auch nie allein, sondern sind mit Ideen und Vorstellungen von Menschen, damit mit seiner kulturellen, sozialen, historischen Entwicklung stets verbunden.
In Human Nature and Conduct führt Dewey aus, dass natürliche Impulse durch Habits geleitet werden. Habits sind ein umfassender Mechanismus, um Reize unserer Umwelt zu kanalisieren und sie mit bisherigen Erfahrungen (experience) zu vermitteln. Schon in seiner Einleitung führt Dewey aus, „that an understanding of habit and of different types of habit is the key to social psychology, while the operation of impulse and intelligence gives the key to individualized mental activity. But they are secondary to habit so that mind can be understood in the concrete only as a system of beliefs, desires and purposes which are formed in the interaction of  biological aptitudes with a social environment.“ (MW14:3)
Wenn unsere Habits blockiert werden und in Handlungen Schwierigkeiten und Probleme entstehen, dann setzt menschliches Denken ein, um diese Probleme zu lösen. Auf dieser höheren Ebene können dann wiederum eigene Habits des Denkens entstehen, die uns helfen, eine Vielzahl von Handlungsschwierigkeiten und Problemen zu lösen. Institutionen, z.B. in der Wissenschaft, fassen solche Habits dann zu größeren Fächern und Denkweisen zusammen, denen aber immer auch die Gefahr innewohnen kann, sich zu sehr von der Umwelt oder den Handlungen und den sich dort tatsächlich ereignenden Schwierigkeiten und erzeugten Problemen abzulösen. Deshalb sind Habits für Dewey nur dann „gut“, wenn sie im Sinne von Tugenden (virtues) wirken, die unsere Handlungen verbessern, die eine Tendenz haben, unser Leben günstiger zu gestalten. Aber hier gibt es, so Dewey, keine universellen Leitsätze, die für immer und alle Zeiten wirken könnten, auch keine Moralphilosophie der letzten Worte oder besten Ideen, denn in den Handlungen produzieren und konstruieren wir immer wieder Veränderungen unserer Umwelt, die unvorhersehbare Folgen haben und neue Habits erforderlich machen. An diese pragmatistische Denkweise kann auch der interaktionistische Konstruktivismus anschließen. Allerdings ist sie um das Imaginäre zu erweitern und im Blick auf Re/De/Konstruktionen zu präzisieren.
Es gibt viele Sozialisations- und Identitätstheorien, die versucht haben, Erfahrungen auch als Schlüsselszenarien zu systematisieren und in ihren Folgen für das Individuum abzuschätzen. Schlüsselszenarien sind Erfahrungen, die einen Schlüssel für bestimmte Habits oder Entwicklungsschritte in der Erklärung zu bieten scheinen. So versuchte z.B. Erikson, psychoanalytische Erkenntnisse auf den gesamten Lebenszyklus zu übertragen und eine in Gegensatzpaaren aufgespannte Entwicklungslogik zu begründen. Kohlberg unternahm den Versuch, logische Entwicklungsetappen des moralischen Urteils auf der Basis von Piaget zu bestimmen. Aber diese und weitere Festlegungen stellen im Grunde eine unmögliche Aufgabe dar, sofern wir von ihnen einen vollständigen Erklärungswert erwarten, weil wir immer erst im Nachhinein feststellen können, welche Ereignisse in welches Schema passen. Dabei sind die Schemata meist sehr stark von den Interessen bestimmter Zeitvorstellungen geprägt (vgl. auch Sousa 1997, 298 ff.).
Schlüsselszenarien verführen dazu, möglichst eine Normalität zu konstruieren, von der aus Abweichungen festgestellt werden können. Dies aber steht im Paradox zu dem ursprünglichen Anliegen: Schlüsselszenarien sollen eigentlich als individuelle Ereignisse dem Beobachter Aufschluss darüber geben, wie ein Gefühl, ein Verhalten, eine Einstellung entstanden sind. Setzen wir alle diese individuellen Ereignisse aber in eine Verallgemeinerung, dann sinkt die Wahrscheinlichkeit, ob der von uns vermutete Schlüssel überhaupt noch passt. In Therapien z.B. sucht man hier oft nach der Passform, die der Therapeut sich a priori vorgenommen hat. Die Therapie ist nur dann passend, wenn die Klienten sich den erwarteten Mustern entsprechend verhalten. Vermeidet man dies, wie es vor allem die systemische Therapie intendiert, dann muss man allerdings Abschied von den vorgefertigten Identitätskonstrukten nehmen. Sie verschwinden zwar nie gänzlich – diese Unschärfe könnte wohl kein Beobachter zulassen –, aber sie machen Raum für Überraschungen. Da die Beziehungen sehr lebendige, bewegliche Systeme sind, sind auch alle in ihnen erlebten Szenarien unterschiedlich. Manche mögen sich ähneln, aber die Ähnlichkeit kann uns schon in die Falle einer vorschnellen Vermutung führen. Der einzige Weg, sie voll und ganz zur möglichen Geltung kommen zu lassen, ist, dass alle Teilnehmer an den Beziehungen, die zur Analyse stehen, ihre Sicht des Szenariums einbringen können. Wenn dann auch noch beobachtet werden kann, was die Erinnerung an solche Szenarien noch in der Gegenwart auszulösen vermag, dann wird die Rekonstruktion zu einer Neukonstruktion und damit eher zur Lösung von Konflikten beitragen können.

 

2.1.3. Objekte und Objektivierungen in Spiegelungen

In Beziehungen kann man oft zwei Fassungen von Liebe hören, die schon Platon im „Euthyphron“ bezeichnet hat: Lieben wir einen Anderen, weil er (als Objekt) uns liebenswert erscheint, oder erscheint er uns liebenswert, weil wir ihn (als Subjekt) lieben? Sousa (1997) gründet auf dieser Doppelfrage seine ganze – symbolisch orientierte – Untersuchung über die „Rationalität der Gefühle“. Der Beobachter kann seine Vorlieben perspektivisch setzen, und genau dies ist wohl auch die Erfahrung mit der Liebe in Beziehungen: Sie geht noch nicht einmal als symbolische Lösung zur einen oder anderen Seite auf. Dies liegt daran, dass uns die beiden Fassungen kaum je rein begegnen können, sondern immer schon als widersprüchliche, gegensätzliche und miteinander konkurrierende Perspektiven, zwischen denen wir schwanken und die wir beide zu lieben vermögen, zu eigen sind, weil wir einerseits in unseren Imaginationen den anderen längst als unser Bild einverleibt haben, aber andererseits stets zugestehen müssen, dass er so nicht ist. Als Anderer, der real in unser Leben tritt, überrascht er uns immer doppelt: In unseren Imaginationen und in einer symbolvermittelten Realität. Deshalb ist es nicht erstaunlich, wenn Menschen darüber berichten, dass sie sich, obwohl sie Jahre in Liebe miteinander verbracht haben, auf einmal nicht mehr verstehen, sich als fremd und unverstanden erscheinen, denn auch Jahre des Zusammenseins tilgen nicht den grundlegenden Mangel einer liebenden Vereinnahmung aus der bloß eigenen Sicht, die sieht, was sie sehen will. Stabiler mögen dann jene Beziehungen sein, die sich symbolisch geeinigt haben, nicht auch noch in allen Imaginationen einig sein zu müssen.
Wenn wir allgemeiner nach den Antrieben fragen, die uns lieben lassen, die uns im weiteren Sinne Beziehungen führen lassen, so gibt es sehr unterschiedliche Antworten. In allen Spiegelungen, wie ich sie behaupte, steckt ein Begehren, das wir unterschiedlich spezifizieren können: Als sexuellen Trieb (oder im Sinne des späten Freud sogar als verdoppelten Trieb nach Eros als Lust- und nach Thanatos als Todestrieb), als Selbsterhaltungsstreben, als Wünschen (nach allen Seiten), als elementare Bedürfnisse (Essen, Trinken, Schlaf und wiederum Sex) usw. Alle diese Zuschreibungen sind unscharf, weil sie alle durch die drei Kränkungsbewegungen betroffen sind: Wir haben bis heute keine vollständigen Antworten auf die Frage unserer Antriebe gefunden, und es erweist sich als zunehmend unwahrscheinlicher, überhaupt eindeutige Antworten für alle Fälle zu finden, weil schon die Frage zu vereinfacht gestellt ist. Dies eben macht die Kränkung aus! Es lässt sich nicht einfach beantworten, was das sein soll – der Mensch. Es gibt ihn nicht – den Menschen. Der Mensch ist tot, es leben die Menschen.
Schon wieder spreche ich in Paradoxien. Ich spreche ja von dem Menschen, den ich zugleich dann verweigere, wenn ich sein Begehren näher erfassen will. Irgendwie muss ich dies spezifische, unscharfe „sein Begehren“ mit einer verallgemeinerten Aussage über Begehren zusammenbringen. Als Beobachter sehen wir so viele Menschen, deren Begehren ungleich ist. Das einzige, was gleich erscheint, ist, dass sie sich immer in dem spiegeln, was sie konstruierend begehren. Es macht offensichtlich weder Sinn noch Spaß, gänzlich allein etwas zu begehren. Das Imaginäre richtet sich immer auf etwas, vornehmlich und zunächst auf andere Menschen, aber in dieser menschlichen Vermittlung auch von Anfang an auf alle Objekte (Gegenstände, Dingwelten), die zur Verfügung stehen oder erschaffen werden.
Da dies am einfachsten zu beobachten ist, haben sich Beobachter oft auf die Vordergründigkeit solcher Objektbesetzungen konzentriert. Daraus sind auch jeweils wechselnde Pädagogiken des jeweiligen Zeitgeistes entstanden, in denen mit moralischem Zeigefinger demonstriert wird, was als Objekt nicht taugt. Denken wir nur an den Struwwelpeter, der sich die Nägel und die Haare nicht schneiden will, den Zappelphilipp, der seine Motivationen nicht beherrscht, den Hans-guck-in-die-Luft, der sich seiner Umgebung nicht anpasst, diese und viele weitere pädagogische Bilder beschäftigen sich mit der Objektwahl und einer angemessenen Besetzung. Dies ist bis heute ein andauerndes Thema, weil bei aller singulären, individuellen Entwicklung eine Idee von Normalität im Hintergrund lauert, die die zugelassenen Spiegelungen und die begehrenswerten Objekte kulturell (darin allerdings sehr schichtenspezifisch) leiten will, weil dies – biologisch gesehen – eben nicht von alleine geschieht. So erfahren wir aus der Kultur sehr viel über unsere Biologie. Sie ist zwar eine Grundlage für unser Handeln, aber zugleich lässt sie uns eine große Offenheit, wie die Unterschiede unserer Besetzungsmöglichkeiten zeigen. Deshalb lässt sich der Konstruktivismus auch nicht sinnvoll in erster Linie biologisch begründen.
Die Imaginationen geschehen zwar zunächst in den Grenzen von Spiegelungen, aber sie können darin alle weiteren Wege bis hin zur Vereinsamung gehen. Kein Objekt der Lebenswelt ist frei von Besetzungsmöglichkeiten, was gerade unsere sexuellen Neigungen zeigen – und, wenn wir schon eben an Normalität dachten, dann erscheinen aus der Perspektive der Normalität etliche von ihnen als Perversionen. Der Perverse ist allemal ein Beobachterkonstrukt, aber ein solches Konstrukt tritt notwendig in einer Verständigungsgemeinschaft auch im Zusammenhang mit allgemeinen Normierungen des Lebens (insbesondere Strafrechtstatbeständen) auf. Insoweit sind wir in solchen Konstrukten nie in einer absoluten Wahlfreiheit, sondern in einem als normal ausgegebenen Wahlzusammenhang mit Geboten und Verboten.
Hier bieten sich zwei Beobachterperspektiven an, die für Analysen von Beziehungswirklichkeiten wesentlich sind:

(1) Rekonstruktionen von Objektbesetzungen und ihre Dramatisierung als Schlüsselszenarien bieten sich an, wenn wir uns im Chaos der Möglichkeiten zurechtfinden wollen. Für die Schlüsselszenarien habe ich bereits herausgearbeitet, dass es zwar kein wahres und eindeutiges Modell für menschliches Verhalten geben kann, aber es kann immerhin Zuschreibungsformen geben, die einer Verständigungsgemeinschaft zur intentionalen Analyse eigenen Verhaltens dienen und Handlungsregulationen innerhalb einer Kultur reglementieren und legitimieren. Gerade die wissenschaftliche Arbeit richtet sich auf diese Aufgabe. Sofern wir ihre Versprechungen nach Wahrheit relativieren und die Rolle des Beobachters kritisch mit in den Blick nehmen, sind solche Rekonstruktionen wichtig, um allen Beobachtern als Konstrukte eine Orientierung zu geben. Sie dienen der Objektivierung. Kinder z.B. nutzen dann sehr zur Freude ihrer Eltern und Erzieher eine reglementierende Pädagogik zur Selbstbeschreibung ihres und fremden Verhaltens, um eine Art von Normalität zu erleben, die ihnen als Lebenssinn erscheint. Auf diesen Mustern bauen sich späterhin auch Lebenskonzepte von Erwachsenen auf.

(2) Die Anerkennung der Singularität von Ereignissen hingegen betont den individuellen Fall, der eben nicht so einfach in die Normierung passt. Das Individuum kämpft gegen die Norm, es steht gegen die Disziplin, es drängt nach Freiheit seiner eigenen Möglichkeiten von Objektbesetzungen. Oder es bemerkt gar nicht diesen Kampf, sondern fühlt sich in seinen Selbstbeobachtungen einfach nur anders als die Zuschreibungen in den Fremdbeobachtungen aussagen. Die Differenz zwischen der verallgemeinerten Zuschreibung und dem individuellen Ereignis markiert, dass Sinn und Orientierung nicht eindeutig aufgehen, dass es Unwägbarkeiten und Unschärfen gibt. Aktiv nutzen wir diese Seite der Selbstbehauptung vor allem dann, wenn wir uns bedroht oder gefährdet fühlen. Wir werden z.B. trotzig, kämpferisch, vielleicht aber auch verzweifelt. Der Aufstand gegen die Norm wäre auch eine mögliche Lösung. Es gibt aber auch die Kehrseite zum Aufstand: Häufig bemerken wir gar nicht, wie wir von Anderen unserer Singularität von Objektwahlen beraubt werden.

Allerdings werden die beiden Strategien auch durch Entwicklungen durchkreuzt, die ihre Bedeutung gegenwärtig als sehr widersprüchlich erscheinen lassen:

  • Die kapitalistische Warengesellschaft bietet uns einerseits alle möglichen Objekte für Bedürfnisse und Begehren an, um gleichzeitig sich als Tauschgesellschaft zu verobjektivieren. So wird der scheinbare Raum subjektiver Objektwahlen ständig erhöht, indem immer mehr Waren – selbst mit annähernd gleichem Gebrauchswert – angeboten werden, obwohl uns kaum eine hinreichend sinnvoll erscheinende Wahl in all den Wahlen bleibt. Zudem müssen wir zugestehen, dass wir nur als normenorientierte und angepasste Individuen (als Arbeitskräfte im Regelfall) diese Wahlen realisieren können.
  • Dabei wird gegenüber den tatsächlichen Teilnahmen an Objektrealisierungen der virtuelle Bereich einer Illusionierung von Teilnahme durch die Massenmedien immer stärker. Diese Virtualisierung dynamisiert unsere illusionären Wahlmöglichkeiten, aber sie frustriert zugleich die Bedingungen von realer Teilhabe.
  • Die Netze der Lebenswelt schaffen immer mehr symbolische Ordnungen und Realitäten, die die Singularität von individuellen Ereignissen subvertieren. Gewiss – jeder braucht seine Eigenzeit, aber sieh: Die öffentliche Zeit dringt bis in die intimsten Sphären ein. Gewiss – jeder erlebt seine Sexualität, aber sieh: Die sexuellen Erwartungen werden in allen Möglichkeiten einem Massenpublikum vorgeführt. Gewiss – die Singlehaushalte nehmen zu, aber sieh: Für den öffentlichen Konsum ist Isolation nützlich. Unzählige Gewissheiten werden strapaziert, um doch nur im Netz der Lebenswelt sicher eingefangen zu werden. Dieses Netz ist unsichtbar und ungeplant. Es zeigt sich nur den Beobachtern, die die subjektiven und objektiven Bewegungen zusammendenken wollen. Nur warum sollten sie diese unbequeme Aufgabe auf sich nehmen?
  • Die Individualisierung von zugelassenen Objektwahlen verstärkt den Druck, etwas in besonderer und einmaliger Weise zu tun. Die Erziehung vermittelt in den frühen Spiegelungen im glücklicheren Fall ein archaisches Größenselbst,3 das den späteren Möglichkeiten aber oft nicht standhalten kann. So wird der Druck zur Übernahme der leichter erwerbbaren illusionären Welten verstärkt.
  • Beziehungen potenzieren diese Ambivalenzen. Sie selbst werden als Objektwahlen dargestellt und als solche empfunden. Sie dramatisieren durch das Zusammenwirken verschiedener Subjekte das widersprüchliche Spiel. Auch wenn es sich einige wünschen: Beziehungen sind als singuläre und individuell-bezogene Ereignisse nicht auf Dauer isoliert zu führen. Gerade ihre Komplexität führt dazu, dass alle hier genannten Aspekte immer ineinandergreifen.

 

2.1.4. Kulturelle Viabilität

Beschreibe ich ein solches Ineinandergreifen nach den dabei entwickelten Bewältigungsstrategien, dann bieten sich unterschiedliche Beobachterperspektiven an. Ich will nachfolgend von folgenden Beobachterannahmen ausgehen, die sich im Laufe der Darstellung noch differenzieren werden:

  • Subjekte in Beziehungen sind stets Beteiligte oder Teilnehmer. Beteiligte sind stets Beobachter und Akteure. Der Unterschied zwischen Beteiligten und Beobachtern wurde eingeführt, um insbesondere auf eine Differenz zwischen direkter Handlung in der Teilnahme und Wahrnehmung oder Reflexion in der Beobachtung (gleichsam von einer dritten Position aus) aufmerksam zu machen. Der interaktionistische Konstruktivismus sieht zwar auch diese Unterscheidungen, aber er nimmt sie als eine Prozedur wahr. Wenn ich von Beobachtern spreche, dann sind es immer auch mehr oder minder – z.B. real oder virtuell – Beteiligte, Handelnde, Teilnehmer. Dabei gibt es keinen unbeteiligten Beobachter. Allein seine Anwesenheit als ein Beobachter drückt bereits eine spezifische Form des Beteiligtseins aus. Bei Teilnehmern reden wir auch von deren Teilnehmerperspektive im Prozess ihres Beteiligtseins. Dies zeigt, dass sie als Teilnehmer zugleich auch Beobachter sind. Und in ihren Handlungen sind sie stets Akteure. Ich werde diesen Gedanken mehrfach aufnehmen und präzisieren.
  • Auch Beziehungen sind Beobachterkonstrukte. Wir müssen jeweils angeben, ob wir als Fremd- oder Selbstbeobachter sprechen. Wir müssen den Grad unserer Teilnahme bzw. unseres Beteiligtseins in der Prozedur bezeichnen.
  • Beziehungen treten stets als deutbare Situationen für unterschiedliche Beobachter auf. Als Beobachter typisieren wir solche Situationen. Es gibt aber keine vollständige oder eindeutige Liste solcher Typisierungsmöglichkeiten. Ich will mich in den nachfolgenden Abschnitten vor allem auf drei wesentliche Typisierungen beschränken: auf zeitliche, räumliche und soziale Aspekte von Beziehungen.
  • Fragt man in Beziehung stehende Menschen, warum sie gerade in diesen Beziehungen stehen, so hört man oft, dass diese Beziehungen zu ihnen passen. Die Passung ist ein wesentliches Kriterium für Beziehungen. Es ist eine Selbstbeschreibung einer kulturellen Viabilität, die sich jeweils unterschiedlich spezifizieren lässt. Aber die Passung selbst ist sehr unscharf: Sie ist in ihrer Herleitung meist unklar und unbewusst (Beziehungen kommen oft zufällig zustande); sie ist in der Zeit stark veränderlich (Beziehungen scheitern oft); sie ist ein räumlich offenes Konzept (Beziehungen überbrücken immer öfter größere Raumabstände); sie ist sozial durchlässiger geworden (Standeszwänge haben bei Beziehungen abgenommen); sie ist in ihren Zielsetzungen uneinheitlich (eindeutige Beziehungsziele wie z.B. Fortpflanzung zur Besitzsicherung nehmen ab). Diese hier nur exemplarisch angeführten unscharfen Bedingungen von Passung verdeutlichen, dass vor allem Einzelfallbeschreibungen erst verständlich machen können, was das Passende an jeweiligen Beziehungen ist. Die Unschärfe der Passungen kann kaum mit der Schärfe eines Typisierungsversuches eingefangen werden. Dies relativiert auch meine nachfolgenden Darlegungen.
  • Wird hingegen Passung an der gesellschaftlichen Bewertung von Normalität oder von Erfolg geknüpft, dann gehen wir einen gefährlichen und einseitigen Weg. Hier müssten wir über Kriterien verfügen, die eindeutig definieren, was normal und was erfolgreich in Beziehungen ist. Wir hätten dann eine Sicht von Passung, die uns das schon erklärend voraussagt, was wir zu beobachten haben. Doch genau solche Sinnkonzepte sind aufgrund der Kränkungsbewegungen, die ich herausgestellt habe, als eindeutige, vollständige Konzepte gescheitert. Dies aber bedeutet keineswegs, dass wir nun nicht mehr von normal oder erfolgreich im Blick auf Beziehungen sprechen dürfen. Wir müssen jedoch die Beobachter angeben, die so sprechen. Ein Paar z.B. erlebt sich in seinem Verhalten als normal. Ein Fremdbeobachter kann einwenden, dass er dies anders sieht. Der Therapeut als Fremdbeobachter wird aber nicht sagen können: „Sie sind nun wirklich nicht mehr normal“, d.h. so „normal“ wie er. Er wird relativierend sprechen müssen, weil er die verschiedenen Beobachter- und Zuschreibungsebenen anerkennen muss, sofern er konstruktivistisch denkt. Erfolgreich wäre seine Therapie dann, wenn das Paar, das in einer Krise steckt, diese überwindet. Die Lösung kann ihm abwegig erscheinen, sie muss nicht in das Normalitätskonzept des Therapeuten passen. Der einzige Rahmen von Passung, der für alle gilt, sind Rechtsnormen der jeweiligen Kultur, die den verallgemeinerten Normalitätsstandard konventionell fixieren (wenn auch niemals für alle Zeit und für alle Kulturen gleich).
  • Eine wesentliche Passungsbeschreibung von Beziehungen ist der Tausch: Beziehungen leben sehr oft nach einer Bilanz von Geben und Nehmen. Dies erscheint nicht nur für frühe Kulturen als typisch, wie Mauss in seiner Schrift „Die Gabe“ (1974) analysiert, sondern insbesondere auch für das christlich geprägte Abendland. Denken wir nur an Pascals berühmte Reflexion über die Existenz Gottes: Es lohnt selbst dann an Gott zu glauben, so Pascal, wenn die Wahrscheinlichkeit seiner Existenz aus unserem Wissen heraus extrem niedrig ist. Sollte Gott doch existieren und wir kommen tatsächlich in den Himmel, dann ist unser Gewinn nämlich unendlich groß. Sollte er nicht existieren und wir glauben nicht, dann geschieht nichts weiter. Sollten wir aber nicht an ihn glauben und er existiert doch, dann landen wir in der Hölle, und der Verlust ist unendlich groß. Wäre es also nicht aus Vorsicht klüger, sich auf einen Tausch einzulassen, als ihn ganz und gar abzulehnen? Ähnliches erfahren wir in Paarbeziehungen, wie Therapeuten heutzutage gerne vorrechnen: Sie sprechen von Bilanzen in einer Beziehung, von Symmetrien oder Komplementarität, vom wechselseitigen Verkehr und Austausch der Gedanken usw., um so die Spiegelungen nach Anerkennung oder den materiellen Austausch nach wechselseitiger Versorgung von Bedürfnissen auszudrücken. Auch wenn wir hier oft einen Verlust unseres vermeintlich besseren Wissens erleiden, wäre es nicht klüger, einen Tausch anzunehmen, wo man mindestens fiktiv denken kann, am Ende etwas Höherwertiges zurückzuerhalten? Eine erfolgreiche Therapie gleicht die Bilanzen wieder aus – zumindest ideell –, um dem Paar eine ausgeglichene, als gerecht, verlässlich usw. wahrgenommene (konstruierte und akzeptierte) Lösung zu ermöglichen. Die kapitalistische Tauschgesellschaft tut ihr übriges, um diese Tauschanliegen zu motivieren und zu dramatisieren. Es herrscht überall eine Erwartung nach Geben und Nehmen, nach Ausgleich, nach Spiegelung, aber eben auch die Vorstellung, etwas Höherwertiges zurück zu erhalten. Zudem besteht die Illusion, dass dies vielleicht sogar gerecht zugehen könnte. Immer soll alles möglichst passend sein. Daraus aber entsteht eine Übererwartung an das Tauschen: Letztlich soll es immer einen Gewinner, einen Nutznießer im Tausch geben. Man darf nicht zu den Verlierern gehören. Und dennoch erzwingt gerade der Tausch, dass es in der Regel zu Gewinnern und Verlierern kommt. Der gerechte Tausch funktioniert nämlich nur, wenn sich alle am Tausch bereichern könnten. Aber dies wird dann immer unmöglicher, wenn der Tausch bloßes Mittel zum Zweck der Bereicherung selbst wird – und nicht mehr Ausgleich für ungleiche Verteilung ist. Je mehr Profit aus dem Tausch gezogen werden soll, um so stärker werden Gerechtigkeitserwartungen subvertiert – und dies scheint für den Markt ebenso zu gelten wie für Beziehungen.
  • Die Virtualisierung von Tauschvorgängen verwirklicht sich in unzähligen Passungsmustern. Die virtuellen Fernsehserien und Talkshows leben von der Darstellung passender oder unpassender Beziehungen. Beides übt gleichermaßen Reiz aus, damit der Zuschauer sich in seiner Lebenswelt als passend empfinden kann. Serien sind nur dann Massenerfolge, wenn sie mindestens ein paar typische Muster zur Identifikation anbieten. Dies hat wahre Orgien von Gut-Böse-Klischees produziert, die mit möglichst viel Action und unter Beschleunigung der Zeit es uns erlauben sollen, alles möglichst auf den ersten Blick zu verstehen und kostbare Kraft des Nachdenkens zu sparen. Vom Sinn her sind die Narrationen dabei schwach, aber vom Schwach-Sinn leben die Verdichtungen und Verschiebungen einer Traumwelt: Ablenkung gegen die langsame Zeit als Gefahr der Langeweile, Action gegen die anstrengende Zeit des Nachdenkens, eindeutige Bilder und klare Metaphern gegen die Vieldeutigkeiten und Ambivalenzen. Je mehr zudem die Werbung solche Medienkultur finanziert, um so mehr dringt auch hier die Tauschvorstellung ein und erzeugt einen virtuellen Massengeschmack. Er bedingt eine neue Vereinheitlichung in der scheinbaren Programmvielfalt, die sowohl vom Schema, von den Inhalten als auch den Darstellungsformen immer ähnlicher in unterschiedlichen Programmen wird. Für die massenhaften Beobachter aber wird dies zur Falle einer Sich-selbst-erfüllenden-Prophezeiung: Am Ende werden sie so blöd, für wie sie die Programmgestalter von vornherein halten. Die Virtualisierung unserer Objektwelten ebenso wie unserer Beziehungen wird gegen solche Verblödung von uns immer mitbedacht werden müssen. Als Beobachter sind wir nicht nur zugleich Beteiligte, sondern unterschieden in Beteiligte in einer konkret-realen oder virtuellen Welt. Dabei, so erweist sich (vgl. Reich/Sehnbruch/Wild 2005), ist diese Unterscheidung nicht immer trennscharf vorzunehmen, da das Virtuelle immer größere Bereiche unserer Lebenswelt als konkrete Realität einnimmt.
  • Beziehungen sind nie nur Bedingungen und Ressourcen des Zusammenlebens, sondern immer auch Lösungen. Es hängt allein von der Wahl der Beobachterperspektive ab, auf was wir mehr sehen. Wenn wir rekonstruktiv an Beziehungen herangehen, dann versuchen wir vor allem ihre Ressourcen zu erfassen: Wie wird in der Beziehung gelebt? Welche Muster gibt es? Welche Mehrgenerationenperspektive? Welche materiellen und ideellen Lebensumstände usw.? Ins Konstruktive gewendet sind diese Leistungen der Familie ihre Lösungen in Auseinandersetzung mit ihren Lebensbedingungen. Dies ist eine gänzlich andere Perspektive. So kann uns ein Sozialwissenschaftler möglichst exakt empirisch zu beschreiben versuchen, wie heute eine Arbeiterfamilie lebt, aber diese Rekonstruktion – so schematisch sie in der Regel ausfällt und so wenig sie damit als umfassender Ausdruck des tatsächlich gelebten Lebens taugt – geschieht notwendig aus einseitiger Perspektive. Hier will ein Sozialwissenschaftler für sich konstruktiv etwas beweisen (z.B. eine Forschungshypothese), wohingegen die Arbeiterfamilie konstruktiv Probleme ihres Lebens löst. Dies ist ein Beobachterproblem: Frage ich den Sozialwissenschaftler nach seinen Beobachtungen, die er meist abgehoben vom Lebensalltag der Familie gewinnt – als neutraler Beobachter, wie es heißt –, dann ist seine Rekonstruktion schon durch seinen Lösungsansatz subvertiert. Diese Subversion kann auch nur teilweise durch teilnehmende Beobachtung aufgebrochen werden, denn als Fremdbeobachter bleibt der Sozialwissenschaftler von anderen Konstruktionen geleitet als das Familienmitglied der beobachteten Arbeiterfamilie. Will er etwas von den Lösungen der Arbeiterfamilie begreifen, dann muss er diese über die beteiligten Beobachter, d.h. die Familienmitglieder selbst zum Ausdruck bringen. In diese Richtung gehen mittlerweile etliche sozialwissenschaftliche Bemühungen, wenn im Rahmen einer oral history oder mittels biografischer Methoden gearbeitet wird. Aus dem Blick des interaktionistischen Konstruktivismus sind solche Forschungen bevorzugt zu entwickeln. Als Moderator, um dies zu rekonstruieren, müsste unser Sozialwissenschaftler in einem Team z.B. mit Sozialarbeitern, Therapeuten zusammenarbeiten, die Übersetzungshilfe leisten. Solche Übersetzungen sind notwendig, weil die konstruktiven Lösungen (sozialwissenschaftlicher Jargon zur Beschreibung von Arbeiterfamilien und der Jargon der Arbeiterfamilien) so weit auseinanderliegen. Dieses Beispiel illustriert: Will sich die wissenschaftliche Arbeit auf Beziehungen in ihrem Alltag einlassen, dann reichen Rekonstruktionen als konstruktive Lösungen der Wissenschaft nicht aus. Die konstruktiven Lösungen der beteiligten Beobachter, Teilnehmer und Akteure müssen vielmehr ins Zentrum von Darstellungen und Interpretationen rücken. Dies verändert die Sozialwissenschaften radikal hinsichtlich der damit erforderlich werdenden Interdisziplinarität und Beziehungsorientiertheit.
  • Die Unterscheidung einer Inhalts- und Beziehungsseite hilft uns immer wieder, uns als Beobachter in der Lebenswelt (vgl. Kapitel IV) zu orientieren. Es ist eine Unterscheidung, die durch die inhaltliche Bestimmung von objektivierten Weltbezügen, so wie ich sie in Kapitel II diskutierte und im ersten Gefangenendilemma exemplarisch – wenn auch vereinfacht – darstellte, und durch die unschärfere Bestimmung von Beziehungen nach den Prämissen einer Psycho-Logik gebildet wird. Ich will die genauere Begründung und Differenzierung dieser Unterscheidung (besonders im Blick auf die Erziehung) hier nicht darlegen, da dies anderen Ortes bereits erfolgte (vgl. Reich 2005), sondern nur grundsätzlich betonen, dass Beziehungen nicht ausschließlich unter einer inhaltlich-kognitiven Betrachtungsweise gedeutet werden können. Dies verbieten nicht nur neuere Kommunikationstheorien, sondern vor allem kognitive Arbeiten selbst, sofern sie sich dem Thema Kognition und Kommunikation umfassend stellen. Als Spiegelungsvorgänge umschließen Beziehungen eine unendliche Kette von Wahrnehmungen, die sich im Wechselspiel von Selbst- und Fremdbezügen beobachten lassen. Dabei sind solche Wahrnehmungen jedoch schnell durch die Möglichkeiten von Objektwahlen und die oft naiv dominierende Vorstellung, Beziehungen verobjektivieren zu können, geprägt. 

In Aufnahme dieser Überlegungen will ich nachfolgend in einem ersten Schritt zeigen, dass kognitive Verobjektivierungen Beziehungen ohne Rücksicht auf Gefühle und Spiegelungen nicht hinreichend erklären können (2.2). In einem zweiten Schritt wird in einer umfassenden Interpretation versucht, die Zirkularität von Beziehungen (als Konsequenz der Notwendigkeit von Spiegelungen) systematisch zu entfalten (2.3). Die Analyse wird zeigen, dass der interaktionistische Konstruktivismus aufgrund der Beziehungssicht ein neues Lernkonzept benötigt (2.4). Da Beziehungen nicht nur direkte Teilnahme, sondern auch eine virtuelle Teilnahme – und dies in zunehmendem Maße – bedeuten, will ich thematisieren, warum diese Unterscheidung für Beziehungsanalysen wichtig ist (2.5). Schließlich gilt es zusammenfassend zu diskutieren, was es bedeutet, wenn es keinen besten und letzten Beobachter mehr für die (passende) Deutung von Beziehungen gibt (2.6).

 

1 Ein sehr instruktives Beispiel solcher Auflösungsarbeit bietet Stierlin (1982, 1994).

2 Zum Zusammenhang von Pragmatismus und Konstruktivismus vgl. auch die Seite des Kölner Dewey-Centers unter http://www.hf.uni-koeln.de/dewey/ .

3 So etwa nach der psychoanalytisch orientierten Sicht von Kohut (1976) oder Kernberg (1983).

>> zurück zum Inhaltsverzeichnis und zur Auswahl der Kapitel

Powercounter