Kersten Reich: Die Ordnung der Blicke. Band 2: Kapitel III.2.2

   

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2.2. Kognitionen und Gefühle: zwei wesentliche Perspektiven in der Beziehungswirklichkeit

Im Rahmen sprachwissenschaftlicher und kultureller Forschungen spielen die Kognitionen bis heute eine bevorrechtigte Rolle, um menschliches Verhalten auch auf der Kommunikations- oder Beziehungsseite zu analysieren. Innerhalb des Spektrums solcher Forschungen ragt mit der Ethnomethodologie ein Ansatz heraus, der in seiner Tendenz meinem Anliegen nahekommt, die Unschärfen von Beziehungen in ihrer Bedeutung für kommunikative Prozesse und Fragen der Objektivierung näher zu erfassen. Insbesondere durch Arbeiten von Garfinkel (1984) sind Fragen der Kognition in den Alltagsbezügen des normativen, sozialen Lebens rekonstruiert worden. Ich will dazu einige ausgewählte Punkte aufnehmen und nennen, die ich recht frei interaktionistisch-konstruktiv deute:
Die soziale Welt ist für Garfinkel und andere Ethnomethodologen zwar um Normen herum aufgebaut, aber die Akteure in dieser Welt haben sich keinesfalls bloß an vorgegebene Muster anzupassen. Sie müssen im Gegenteil kompetent agieren, weil sie in Alltagssituationen eine soziale Organisationsfähigkeit entwickeln müssen, die Interaktionen sowohl verständlich als auch zurechenbar gestalten.
Die Verständlichkeit ist eingebunden in gemeinsame normative Erwartungen, die soziale Kontexte bestimmen, und in ein Hintergrundwissen, das als kognitive Voraussetzung die angemessene Interpretation solcher Kontexte mit bedingt. Dabei ist es entscheidend, dass verschiedene Kulturen sehr unterschiedliche Interpretations- und Erwartungsschemata erzeugen. In einer Kultur aber müssen die Interaktionsteilnehmer sich wechselseitig eine gewisse Kenntnis dieser Schemata zuschreiben, um eine hinreichende Zurechnungsfähigkeit zu erzielen. Wie aber erlernt man diese Interpretations- und Erwartungsschemata?
Die Ethnomethodologie gibt zu, dass sie sowohl verborgen als auch unformuliert weitergegeben werden. Hier bieten sich unscharfe Beobachtungsbedingungen an: Intuitives Verstehen, stillschweigende Routinen, implizites Wissen, projektive Übertragungen, unterstellte Relevanz usw.
Für den interaktionistischen Konstruktivismus ist dies keine Überraschung. Der Wechsel von einer engen Beobachtungsdefinition kognitiver oder normativer oder sozialer Vorstellungen in die Beziehungswirklichkeit, d.h. in die Alltagspraktiken, die singulären Ereignisse von Beziehungen, die spezifischen Passungsformen solcher Beziehungen erzwingen die Aufgabe eindeutiger Erwartungen und Interpretationen, aber sie zeigen auch, dass dies mit einem Problem der Zurechnungsfähigkeit im Sinne von herzustellender Normalität in einer Verständigungsgemeinschaft verbunden ist. Woran messen wir solche Zurechnungsfähigkeit in aller Regel? In den Beziehungen haben wir uns zu rechtfertigen, dass das, was wir tun, den Regeln der Beziehungen entspricht. Insbesondere Regelverletzungen bei einschlägigen normativen Erwartungen und Interpretationen führen in den meisten Fällen zu Sanktionen, die in unterschiedlichen Abstufungen (von der ablehnenden Geste bis hin zur Bestrafung) durchgeführt werden. In den sozialen Praktiken entwickeln sich hierbei Routinen oder noch verfestigter Institutionen, die die normativen Zwänge sowohl als Erwartung wie als Hintergrund entfalten (vgl. weiterführend Kapitel IV.3.3.1.1). Dennoch können sie nicht vollständig garantieren, dass das Subjekt sich an die normativen Erwartungen hält oder wie es seine Haltung spezifisch an die jeweiligen Situationen mit Kompetenz angleicht, abwandelt, verändert. Dies liegt an der interaktiven Kompetenz selbst, die die Ethnomethodologie zumindest auf der symbolischen Seite wie ich anerkennt: Die Handlungen der Akteure werden immer im Blick darauf zugerechnet, wie Andere diese wahrnehmen und bewerten. Dabei erscheint ein zirkuläres Verhältnis, das die Zurechnungsfähigkeit von vornherein in eine antizipierte Wirkung der eigenen Handlungen im Blick auf die Wahrnehmung durch Andere richtet. Dieses zirkuläre Handlungsmodell verändert die Rechenschaftspflichten des Subjekts. Es kann sich in seinen Handlungen jetzt dadurch rechtfertigen, dass es die Anderen reflexiv oder intuitiv vorbedacht hat. Dabei spielen die kulturell-situativen Regeln eine entscheidende Rolle. Aber dies sind keine Regeln, die von außen an den Akteur herangetragen werden, sondern Regeln, die sich in seinen Prozeduren selbst formen, modifizieren, verwirklichen. Eine interaktionistisch-konstruktive Sicht auf Alltagsbeziehungen betont ganz entschieden, dass die Akteure ihre Wirklichkeit re/de/konstruieren, wobei die Prozeduren, in denen dies geschieht, als Grundlage von Zurechnungsfähigkeit herangezogen werden müssen.
Die Begründungsreichweite der Subjekte in sozialen Handlungen variiert allerdings erheblich. Dies liegt schon daran, dass es keine regelgeleitete Instanz gibt, die gesellschaftliche Normen eindeutig und für alle Situationen instruktiv vermitteln könnte. Aus konstruktivistischer Sicht sehe ich ohnehin die Unmöglichkeit, dem Subjekt alle Konstruktionen zu verordnen. Mit Garfinkel teile ich die Auffassung, dass soziale Situationen durch die Tätigkeiten der Akteure selbst erst hergestellt werden, so dass die Prozeduren umfangreicher als die allgemeinen normativen Regeln sind. Regeln sollen für möglichst alle Fälle gelten, aber dieses „für alle Fälle“ schließt eben auch ein, dass Erwartungs- und Interpretationsarbeit von den Akteuren verlangt wird, um situationsspezifisch zu agieren. Dies gilt vor allem auch deshalb, weil es selbst sehr unscharfe, mehrdeutige, zweifelhafte, unvollständige, ambivalente Normen gibt. Dies macht die Lebendigkeit sozialer Beziehungen aus: Es ist nie vollständig und eindeutig abzusehen, wie in Interaktionen gesellschaftliche Praktiken, Routinen und Institutionen sich entwickeln und verändern. Allerdings gibt es unterschiedliche Beharrungsmomente, die von den vereinzelten Praktiken zu den schon schwerfälligeren Routinen bis zu den oft starren Institutionen zunehmen.
Aus einer kognitiven Perspektive dienen dialogische Verhandlungen der Akteure dazu, die erwarteten Regeln zu interpretieren und je nach Situation auch Neudeutungen zu entwerfen. Dies betrifft nicht nur Regeln, sondern alle Inhalts- und Beziehungszuschreibungen. Gerade auf der Inhaltsseite sind deshalb viele Begriffe abstrakt und von hoher Deutungsdehnbarkeit. Dies ermöglicht situative Spielräume und veränderte Nutzungen im Gebrauch der Sprache. In der Lebenswelt müssen die Kontexte mit ihren feinen Nuancen zwischen verschiedenen Verständigungsgemeinschaften dabei subtil angeeignet werden, wenn man mit seinen Wahrnehmungen und Äußerungen nicht fehl gehen will. Hier benötigen wir eine Beobachtertheorie, die ich allerdings nicht wie die Ethnomethodologie vorrangig  auf Sprecher und Hörer konzentrieren will. Ethnomethodologisch betrachtet geschieht zwischen Sprecher und Hörer folgendes: In der Interpretation sind beide auf Zusammenarbeit angewiesen. Wenn jemand spricht, dann muss er sich darauf verlassen, dass der Hörer seine Interpretationsarbeit leistet, um alle situativen Nuancen im Blick auf die Mitteilungen zu erfassen. Hierbei ist sehr kontextsensibel vorzugehen, weil Ablehnungen mehr Aufwand für die Zusammenarbeit verlangen als Annahmen. Die Zusammenarbeit ist dann meistens unkompliziert, wenn Einverständnis herrscht. Bei Ablehnungen gehen die Akteure oft so vor, dass Einschränkungen oder Abschwächungen vorgenommen werden – die sogenannte Höflichkeit –, um eine weitere Zusammenarbeit nicht zu gefährden. In der neueren, konstruktivistisch orientierten Kommunikationstheorie hat man diese Interpretationsarbeit stark differenziert, indem man verschiedene Verhaltensstrategien (Annahme, Abweisung, Entwertung, Symptombildung) oder Seiten der Mitteilungen auf der Seite des Sprechers und Hörers feststellte: Inhaltsbezug, Beziehungsbezug, Appellfunktion und Selbstkundgabe sowohl auf Seiten des Sprechers wie auf Seiten des Hörers gehen hier ein zirkuläres Wechselspiel ein (vgl. Reich 2005, Kap. 2). Ebenso hat man Eigenschaften insbesondere des Hörers zu differenzieren versucht, die die Interpretationsarbeit erleichtert und als aktives Zuhören bezeichnet werden. Der Hörer signalisiert hier dem Sprecher den Fortschritt seiner Interpretationen durch Feedback im nonverbalen und verbalen Bereich. Aber diese Beschreibung gilt nicht nur für Sprecher und Hörer, sondern im Grunde für alle kommunikativen Handlungen.
Sehen und Gesehen werden ist eine andere große Gruppe von Handlungen, in denen die hier beschriebenen Mechanismen deutlich zu beobachten sind. Was bei Garfinkel aber nicht hinreichend beachtet wird, sind die Aspekte imaginärer Kommunikation. Auch hier wirken die Leistungen von Sprecher und Hörer, von ego und alter ego zusammen, und gerade in diesem Bereich wird oft eine Grundlage für Missverstehen oder für Grenzen des Verstehens gelegt, die den kognitiven Bereich übersteigen.
Was nun die Rolle der Kognitionen betrifft, so dienen sie als allgemeine, abstrakte Strukturen, die in Situationen durch „lokale Partikularisierungen“ re/de/konstruiert werden. Die Rekonstruktion fügt ihnen einen scheinbar invarianten Sinn zu, die Konstruktion betont das lokale, singuläre Ereignis des Akteurs, das Varianten einbringt, die Dekonstruktion kann beide Seiten bekämpfen und auf ein neues Niveau der Beobachtung heben. Diese Möglichkeiten operieren für Garfinkel überwiegend zwischen Struktur und Kontext. Die Strukturen schreiben gesellschaftlich sanktionierte Erwartungen und Interpretationen von Normen vor, die von kompetenten Akteuren kontextsensibel, d.h. interaktionsbezogen und lokal-partikular, umgesetzt werden. Die Kontextsensibilität schließt nicht nur die Inhaltsseite, sondern insbesondere auch die Beziehungsseite ein. In der Wechselwirkung von Beschreibung einer Struktur und Kontextualisierung wird ein konstruktiver Vorgang erkennbar, denn Garfinkel betont, dass im Prozess eine Passung erkennbar wird, die durch die praktischen Erfordernisse der Akteure selbst veränderlich ist. Hier ist nichts für die Ewigkeit gemacht, sondern stetiger kultureller und sprachlicher Veränderung unterworfen.
Andererseits begrenzen Kognitionen eine mögliche Instabilität und Unzurechnungsfähigkeit von Interaktionen dadurch, dass die Zusammenarbeit der Akteure in der Kommunikation kulturell vorgeprägt ist. In der westlichen Kultur wird hier z.B. in der Kommunikation ein gewisses Abwarten, eine zuhörende Geduld verlangt, die nicht schon bei den ersten Worten zu wilden Aktionen tendiert. Bevor Veränderungen einsetzen, bedarf es hier der Klärung, der umfassenden Überlegung und Abwägung von Vor- und Nachteilen. Diese Begrenzung kann bis hin ins Konservative treiben, indem die Regeln für Praktiken, Routinen und Institutionen möglichst starr gehalten werden. Die Legitimation einer solchen Starre wird meist in Objektivationen einer engeren Beobachtungswelt gesucht, weniger in den Praktiken der Beziehungswirklichkeit. Werden diese Normierungen auf die Beziehungen übertragen, dann darf nicht sein, was nicht sein kann.
Für Garfinkel gibt es viele rationale Eigenschaften praktischer Tätigkeiten. Dazu zählen z.B. Leistungsfähigkeit, planvolles Vorgehen, Kohärenz im Handeln, Repräsentativität, Verständlichkeit, Konsistenz, Klarheit, Tüchtigkeit, klare Beweiskraft, treffsichere Berichte, angemessene Beweise. Aber diese kognitiven Aspekte sollen nicht bewertet werden, weil es dem beobachtenden Forscher nur um neutrale ethnomethodologische Beschreibungen von Tätigkeiten und Rechenschaftsberichten der Akteure geht, deren Angemessenheit allein im Kontext der Selbstbeobachter entschieden wird. Der Fremdbeobachter sammelt und staunt. Aber kann er dies so neutral, wie wir es erwarten? Ist er nicht auch Teil einer Verständigungsgemeinschaft, vielleicht sogar der gleichen, die er neutral beschreiben will? Hier beziehe ich eine Gegenposition: Der Fremdbeobachter re/de/konstruiert mit seinen Beobachtungen nie aus einer neutralen Position, sondern ist immer schon in den Kontext, der zur Beobachtung angeboten steht, zirkulär verwoben. Dies zeigen gerade die von Garfinkel herausgestellten Beobachterbegriffe sehr deutlich. Warum diese und keine anderen? Warum eine Konzentration auf rationale Eigenschaften in praktischen Diskursen und nicht auf andere? Schon die Heterogenität der Beobachterinteressen in einer Kultur (ganz abgesehen von unterschiedlichen interkulturellen Vorannahmen) verhindert jegliche Neutralität. Deshalb haben wir die jeweiligen Beobachter und ihre Interessen- und Machtlagen bei jeder Beobachtung dekonstruktiv zu bedenken.
McCarthy (1993, 263 ff.) lehnt die Neutralitätsthese aus anderen Gründen ab. Für ihn liegt die einseitig herausgestellte Bedeutung Garfinkels vor allem darin, dass er gegenüber einer möglichen Kontingenz von Welt deren Objektivität nicht verlieren will. „Kurz, die Objektivität der realen Welt – die Grundlage unserer kooperativen Tätigkeiten – ist eine konstante Voraussetzung und zugleich eine fortwährende Leistung der alltäglichen Interaktion.“ (Ebd., 265) Im Anschluss an Pollner (1987) betont er die intersubjektive Verfügbarkeit über eine unabhängige Realität, die wir wahrnehmen und erfahren und die uns zu einer kohärenten Darstellung von Realität führt. Treten hier Diskrepanzen auf, so werden sie rückführbar z.B. auf Wahrnehmungsfehler (schlechte Sicht, materielle Hindernisse, optische Täuschungen, Halluzinationen), auf Interpretationsfehler (mangelnde Erfahrung, beschränkter Blickwinkel, unvollständige Information) oder Fehler in der Berichterstattung (Unklarheiten, Ungenauigkeiten, Lügen). Aber alle diese Fehlermöglichkeiten ändern nichts grundlegend an der Erwartung, in der Interaktion normativ eine einheitliche und gültige Welt aufrecht zu erhalten. „Wenn tatsächlich gegebene Darstellungen von diesem Ideal abweichen, ändern wir nicht die objektive Welt, sondern diese Darstellungen.“ (McCarthy 1993, 265) Zwar gibt es unterschiedliche Teilnehmer an Interaktionen, die immer zugleich Beobachter sind (ebd., 324), aber diese drängen in argumentativer Auseinandersetzung eben darauf, ein Publikum nach dem anderen zu überzeugen, bis sich die vernünftigen Argumente durchgesetzt haben (ebd., 271). Hier erscheinen letztlich die besseren Gründe, die die Gründe von Anderen besiegen. Das letzte Publikum, das sich dessen als Öffentlichkeit sicher ist, kann „kraft seiner einzigartigen Kompetenz einleuchtend die Vertretung übernehmen für das „universale Auditorium“ aller rationalen Wesen, die diese Angelegenheit beurteilen können.“ (Ebd. , 272) Wird dieser Anspruch aufgegeben, dann gehen unbedingte Wahrheitsansprüche verloren, und es ergibt sich ein bloßes Meinen: Ich meine/du meinst, wir meinen/ihr meint, ohne dass ein tatsächlicher wissenschaftlicher Fortschritt noch möglich wäre.
Mit dieser Argumentation haben wir es immer wieder zu tun, wenn wir dagegen die geschilderten Kränkungsbewegungen und eine konstruktivistische Betrachtungsweise setzen, die sich vor Universalien hütet. Für einen universalen Anspruch im Bereich der Kognitionen sehe ich aber keinerlei Anlass. Allein schon die strapazierte kognitiv-rationale Realität da draußen, die es objektiv für alle gleich geben soll, ist ein Konstrukt, das McCarthy bloß normativ einsetzen kann, um seine überfrachteten Erwartungen zu realisieren. Die Beziehungswirklichkeit ist nun aber insbesondere ein Ort der Wahrnehmung und Handlung von Beobachtern, Teilnehmern und Akteuren, in dem diese Überfrachtung keineswegs gelten kann. Dies gesteht auch Habermas zu, wie wir noch später diskutieren werden. Gerade in der Beziehungswirklichkeit setzen sich nicht immer die rationaleren Gründe als die besseren durch. Welcher Beobachter soll denn hier auch einen privilegierten Zugang zur Objektivität da draußen haben? Wenn aber dieses Erkenntnisprivileg höchster Rationalität nur noch für Blicke auf eine objektive Welt gelten soll, in der wir Geltungsansprüche allgemeinster Art überprüfen, dann bleibt die Frage nach den Praktiken, in denen dies überhaupt geschehen kann.
Garfinkel und andere Ethnomethodologen sind hier bedeutend vorsichtiger. Es sind die menschlichen Praktiken selbst, die interaktiven Verhältnisse, die das generieren, was als wahr und objektiv gilt. In den Kognitionen selbst aber sind weniger die rationalen als vielmehr die mächtigen, mit der Pragmatik der gesellschaftlichen Gruppeninteressen verbundenen Maßstäbe jene, die als höchste Rationalität auf jeweiliger Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung erscheinen. Gerade dies zeigen Kulturvergleiche in auffälliger Weise. Und von dieser Kränkung geht auch der interaktionistische Konstruktivismus prinzipiell aus. Damit stellt sich mir das Problem einer rationalen Zurechnungsfähigkeit immer nur in den mehr oder minder kontingenten Kontexten von Verständigungsgemeinschaften, deren Universalismus eine überfrachtete Fiktion ist, wenn ich auf Praktiken in der Gegenwart sehe. Bei McCarthy erscheint die Gefahr eines letzten Besserwissers, der seine Theorie als die eines letzten universalen Auditoriums versteht, auch wenn es kaum ein Publikum (außerhalb elitärer akademischer Kreise) gibt, das solche Letztbegründungen noch versteht. Im Rahmen des Kapitels IV werde ich diese Problematik noch einmal weiterführend aufnehmen.
Wechseln wir nun vom kognitiven Beobachtungsfeld zu den Gefühlen. Beziehungen spielen sich nie nur kognitiv, d.h. als Schematisierungen im Rahmen von Zeichenprozessen, als sprachliche Vermittlungen oder Assoziations- und Denkvorgänge ab. Beziehungen sind vielmehr – und dies in Vermittlung mit ihren kognitiven Seiten –  sehr stark durch Gefühle bestimmt. Was aber sind Gefühle?
Sousa (1997) hat in einer umfassenden Untersuchung versucht, die Gefühle nach ihrer symbolischen Seite hin zu analysieren. Allein symbolisch – unter der Perspektive der Rationalität geschaut – tauchen schon unterschiedliche Aufgabenbereiche von Gefühlen, die wir als Beobachter konstatieren können, auf:

  • Es gibt vernünftige Gefühle (ebd., 27 f.). Zumindest denken wir, dass wir unter bestimmten Umständen ebenso empfinden würden wie ein Anderer. Die Spiegelung ermöglicht uns, symbolische Lösungen, die sich gefühlsvermittelt darstellen, als eigenes Vorstellen zu entfalten. Sousa allerdings reduziert diese Übertragungen auf ein sprachliches Phänomen (mithin auf eine rein symbolische Leistung): Die Normalität erscheint als eine Begriffsnorm, nach der wir Gefühle beurteilen. Ähnlich wie bei Überzeugungen und Wünschen gelangen wir zumindest manchmal aufgrund von Vernunftargumenten zu Gefühlen. Doch kann dies das Hauptanliegen der Gefühle sein?
  • In anderer Hinsicht dienen Gefühle oft der Rechtfertigung (ebd., 28). Dies ergibt sich aus dem Zusammenhang mit der Vernunft. Wenn Gefühle vernünftig sein können, dann kann man mit ihnen Handlungen entschuldigen oder rechtfertigen. Gefühle werden in diesem symbolischen Kontext gerne benutzt, um anscheinend sonst Unerklärliches zu erklären. „Er tötete den Liebhaber seiner Frau aus Eifersucht.“ Diese dramatische Handlung voller Schuld ist für Außenbeobachter nachvollziehbar, weil sie für eine Eskalation von Gefühlen ein vernünftiges Motiv erkennen. „Sie tötete ihn aus Liebe.“ Der Nachvollzug ist hier bereits allgemeiner; er setzt voraus, dass wir als Beobachter das Gefühl rational nachvollziehen können, dass Liebe mitunter blind gegen alle Folgen des Handelns macht. Sousa meint, dass wir bei solchen Rechtfertigungen die Motivation für Handlungen unter eine vernünftige Perspektive stellen. Wir verstehen Gefühle nicht hinreichend, aber wir führen sie als mögliche Ursachen für ansonsten unvernünftig scheinende Handlungen an.
  • Schließlich scheint unsere Vernunft die Gefühle in starkem Maße zu kontrollieren (ebd., 29 f.). Da ist zunächst die Rolle der Wahrnehmung. Ich brause auf, weil ich meine, etwas wahrgenommen zu haben (z.B. in Eifersucht). Stellt sich die Wahrnehmung als unrichtig heraus, so verschwindet das Gefühl. Gefühle sind auch aus Kontexten heraus mitbestimmt, in denen kulturell eine vernünftige, normale Handlung erwartet wird: Trauer, Bedauern, Mitleid und das gebremste Ausleben von Ärger sind hierfür gut heranziehbare Beispiele. Es gibt sogar Versuche, mittels kognitiven Trainings die Gefühle besser beherrschen zu lernen. Gleichwohl kennen wir alle die Grenzen solcher Unternehmungen, wie sie auch bei ritualisierten Vorgängen wie Trauer, Bedauern, Mitleid oder dem Ausleben des Ärgers auftreten können: Die ungebremsten, gewaltigen Gefühle, die, wenn sie einmal in Fluss geraten, die Vernunft verstummen lassen. Dies sehen wir vielleicht am deutlichsten in der Liebe. Wir können sie symbolisch gar nicht hinreichend umschreiben. Da jedoch Sousa keine Beobachtertheorie für Spiegelungsvorgänge entwickelt, entgehen ihm wesentliche Pointen der Liebe und der Gefühle. Insoweit kann ich seine Analyse nur teilweise aufnehmen. Liebe lässt sich nicht nach Wahrheitsbegriffen verifizieren, da sie über die symbolischen Handlungen hinaus in den Unschärfen  eines wechselseitig unbewussten Begehrens und der Unmöglichkeit eindeutiger Verständigung wurzelt. Sie trägt eine imaginäre Seite, die weit das reale Liebesverhältnis überdauern kann (z.B. die Trauer über eine verlorene Liebe). Und es lässt sich kein symbolischer Rahmen dafür angeben, welche rationalen Lebensumstände sichern können, dass die Liebe bleibt, was sie einmal war. Es gibt in den Spiegelungen nicht die symbolischen Sicherheiten, auch wenn diese andererseits für Form und Gestaltung der Liebe durchaus von Bedeutung sind.

Doch die bisherigen Überlegungen zeigen noch nicht grundlegend genug, warum es so schwierig ist, symbolisch über Gefühle zu sprechen. Die Anerkennung dieser Schwierigkeiten aber ist wesentlich, wenn wir über Beziehungen reden, weil Beziehungen immer mit Gefühlen gelebt werden. Ich will (teilweise in Auseinandersetzung mit Sousa) neun Problemebenen herausstellen, die es schwierig machen, Gefühle verobjektiviert darzustellen, oder, wie Sousa es intendiert, zumindest minimale Bedingungen von Rationalität beim Umgang mit Gefühlen zu konstruieren. Diese neun Problemebenen sind:

(1) Die Physiologie von Gefühlen:
Die Gefühle als Leidenschaften sind biologisch verankert; und sie zeigen physiologisch bestimmbare Eigenschaften auf. Immer wieder hat man versucht, aus der physiologischen Bestimmung eine Bestimmung der Gefühle abzuleiten.1 Dabei kommen z.B. die unterschiedlichen Hirnregionen und ihre unterschiedliche Beteiligung ins Spiel. Es gibt Hypothesen über Neurotransmitter und ihre Auswirkungen auf Gefühle. Immer wieder wird die Bedeutung von hormonellen Steuerungsvorgängen angesprochen. Lange hat man sich mit den sogenannten Temperamenten beschäftigt, die Erregungs- und Verhaltensstile symbolisieren. Reiztheoretisch hat man Gefühle als konditionierte Verhaltensmuster interpretiert. Systemisch und kybernetisch hat man versucht, die Art der Informationsflüsse zu präzisieren. Mittels Drogeneinsatz und anderer Mittel hat man Veränderungen im Gefühlsleben zu beschreiben versucht. All diese und weitere Ansatzpunkte, die im engeren physiologischen Rahmen bleiben, haben durchaus zu Ergebnissen geführt (vgl. Sousa 1997, 119 ff.). Aber diese Ergebnisse fokussieren sich auf reduktiv betrachtete physiologische Muster, die keine Brücke zu dem schlagen, wie wir Gefühle erleben. Das menschliche Gefühlsleben hat sicherlich auch eine physiologische Basis. Aber wir können diese nicht so rekonstruieren, das sie unsere Gefühle im Kontext mit unserer Subjektivität, unserem Selbstverständnis, unseren zwischenmenschlichen Beziehungen in den Lebensformen verständlich werden läßt (vgl. Sousa 1997, 127). Wenn ich Drogen nehme, dann kann ich dies physiologisch nüchtern beschreiben oder nach der Art der Erlebnisse, die ich habe. Aber dies sind zwei völlig verschiedene Beobachterbereiche. Dies gilt auch für alle Erkrankungen. Dabei ist es fragwürdig, allein auf physiologische Beobachtungen zu vertrauen. Dies wird sehr deutlich bei psychosomatischen Beschwerden. Ich habe Liebeskummer. Physiologisch verspüre ich Magenschmerzen und eine allgemeine Übelkeit. Soll ich nun an meinen körperlichen Symptomen ansetzen? Oder muss ich nicht vielmehr erwarten, dass bis zur Überwindung meines Liebeskummers mit solchen Symptomatiken zu rechnen ist? Ich muss wissen, dass mir die Physiologie eigentlich nichts über meinen Liebeskummer – also meine erlebten Gefühle – verraten wird. Oder nehmen wir die Physiologie des Weinens, die man recht exakt beschreiben kann. Ich werde zwar über solche notwendigen Studien lernen können, wie Tränen im Organismus gebildet werden, welche Wechselwirkungen es hierbei gibt, aber der physiologische Beobachter wird mir nicht erklären können, warum ich in bestimmten emotionalen Szenarien immer in Tränen ausbreche, wohingegen viele in meiner Umgebung sich zusammennehmen können. Die klassifikatorischen physiologischen Modelle beschreiben eben nur ein sehr verkürztes Moment der Gefühle, das durch die erforderliche Exaktheit der Beschreibung das verfehlt, was ich als Gefühle erlebe. Und dies ist notwendig so, wie die folgenden Punkte zeigen.

(2) Die Authentizität von Gefühlen:
Wenn wir auf die Differenz von exakten Beschreibungen und subjektivem Erleben setzen, dann drängt sich schnell die Frage auf, ob die subjektiv erlebten Gefühle überhaupt authentisch und richtig sind. Dies betrifft sowohl den Selbst- als auch den Fremdbeobachter. Nehmen wir dazu ein Beispiel: Sie, als seine Freundin, erklären Ihrem besten Freund, dass Sie ihn belogen haben. Sie haben ihm verschwiegen, dass Sie ein Verhältnis mit seinem besten Freund hatten. Aber das war nur ein Mal, und Sie waren beide angetrunken. Außerdem ist es drei Jahre her. Jetzt aber würden Sie es ihm sagen, weil Sie denken, dass die Aufrichtigkeit in einer Beziehung das wichtigste sei, wenn die Beziehung halten soll.
Ihr Freund wird rot, er fängt an zu fluchen, Sie zu beschimpfen, wütend geht er fort. Später ruft er Sie an und teilt Ihnen mit, dass ihre Beziehung beendet sei. Nie sei er so betrogen und enttäuscht worden wie von Ihnen.
Nach einer Woche hat er es sich überlegt. Er kommt zurück, wirft sich Ihnen in den Arm und gesteht, dass er auch schon einmal den Gedanken gehabt habe, fremdzugehen. Da ihre Liebe das wichtigste in seinem Leben sei, wolle er sie durch einen momentanen Ärger nicht aufs Spiel setzen.
Dieses Beispiel zeigt  Gefühle in einer Dramatisierung. Selbst bei kleineren Konflikten kommt es sehr oft zu dem hier beschriebenen Gefühlsdilemma. Was sind in diesem Fall denn eigentlich die wahren, die authentischen, die richtigen Gefühle?
Ist es die erste Reaktion, die als Frustration erschien, in Wut und Ärger sich verwandelte, in Ablehnung umschlug ? Käme es noch zu Hass, dann wäre die Beziehung vielleicht beendet. Oder ist es die zweite, besänftigte, verständnisvolle Reaktion, in der das Gefühl nach Zärtlichkeit, nach Geborgenheit, und der Wunsch nach einer schönen weiteren Zeit sich zeigte?
Der Selbstbeobachter deutet seine eigenen Gefühle und kognitiven Verarbeitungen. Teilt er sie dem Anderen mit, dann besteht die Chance eines Austauschs. Doch wie weit kann dieser gehen? Können wir wissen, was das tiefere, das „eigentliche“ Gefühl ist?
Was wäre, wenn uns ein Fremdbeobachter der eben beschriebenen Beziehungsszene erklärte, dass das erste, das wütende Gefühl das eigentliche und echte Gefühl sei, das zweite aber ein unechtes, weil es bloß kognitiv das echte Gefühl bearbeitet, um einen Partner nicht zu verlieren? Dieser Fremdbeobachter könnte Recht haben. Aber muss er in jedem Fall Recht haben?
Ein anderer Fremdbeobachter könnte argumentieren, dass diese ganzen Gefühle ohnehin nur durch die Engstirnigkeit einer bürgerlichen Sexualnorm entstehen. Insofern der Beziehungspartner nicht als Besitz gesehen wird, mag er doch tun, was er will. Das richtige Gefühl ist dann das, was man momentan empfindet. Beruht dies auf Gegenseitigkeit und Toleranz, so könnte er argumentieren, dann findet man erst zu seinen Gefühlen. Unser Selbstbeobachter mag einer solchen Position ratlos gegenüberstehen, weil er trotz aller kognitiven Bearbeitung der Herkunft von Besitz und Gefühlen eben doch diese Wut in sich spürt, wenn er sich übergangen fühlt.
Wir können diese Zuschreibungsketten unendlich fortspinnen und kommen doch immer nur zu dem einen Ergebnis: Gefühle sind kein Wissenssystem, das ich symbolisch eindeutig ordnen kann. Dies macht eine Philosophie der Gefühle schwierig. Sieht man den Sammelband von Fink-Eitel/Lohmann (1993) an, dann fällt auf, das die dramatischen Gefühle aus einer Sicht des Wissens meist als psychopathologisch klassifiziert werden. Aber ist nicht das, was wir als pathologisch klassifizieren, also z.B. Angst, Melancholie, Depressionen, Narzissmus usw., immer Teil jeder – auch einer wissenden – Erlebniswelt? Aus der Sicht der Beziehungswirklichkeit ist die Inhaltsebene gefühlsmäßig stets subvertiert; als Subjekte stehen wir in einer Lebenswelt, die die Unterscheidungen zwischen normal und anormal ohnehin hat brüchig werden lassen. Die Authentizität von Gefühlen wird vom Selbstbeobachter erlebt, aber erst durch Verständigung mit Fremdbeobachtern als „richtiges Gefühl“ bewertet. Darin aber liegt ein ernsthaftes Problem für alle Beziehungen. Versuchen wir nämlich die Authentizität des Gefühls eines Anderen zu bezweifeln oder in eine wissentliche Rangfolge zu bringen, dann entwerten wir von vornherein den Anderen. Wir wissen mehr als er. Unser Problem ist schon, dass wir etwas wissen, was gar kein vorrangiges Problem des Wissens, sondern eines des Erlebens ist.
Um dies näher zu erläutern, sind einige terminologische Festlegungen recht hilfreich. Gefühle in Beziehungen könnten wir nach wahr, wahrhaftig und richtig unterscheiden.
Wahre Gefühle sind an ein Wissen gebunden. Aber dies ist kognitiv und widerstreitet meist den Gefühlen, sofern sie nicht schon deutlich mit Vernunft, wie ich vorher darlegte, verbunden sind. Fordere ich meinen Beziehungspartner auf, seine wahren Gefühle zu zeigen, so vermute ich immer schon, dass mir etwas verborgen wird. Wir sollten dann lieber über dieses Wissen von Täuschung sprechen, anstatt auf der Wahrheit von etwas symbolisch zu beharren, was gar nicht im Wissenssystem steht.
Anders sieht es mit wahrhaftigen Gefühlen aus. Hier geht es um Gefühle, die man wahrhaftig hat. Dies scheint zunächst ein Selbstbeobachterproblem zu sein: Hast du auch wirklich diese Gefühle, wie es dir scheint? Aber es betrifft zugleich einen Fremdbeobachter, weil wir ohne diesen kaum fragen würden, ob wir etwas wahrhaftig empfinden. Entweder ist dieser fremde Blick in uns als Unsicherheit eingeschlossen (bin ich mir meiner Gefühle sicher?), oder er tritt als Frage von außen an uns heran. Wenn wir in Beziehungen nicht in dem Bemühen stehen, unsere wahrhaftigen Gefühle zu zeigen – sofern wir diese überhaupt wissen –, verunsichern wir diese Beziehungen und erzeugen Maskeraden von Gefühlen. Mitunter nehmen Beziehungen dann in der Tat die Form einer Maskerade an, die die Beziehungsteilnehmer spüren, über die sie aber nicht immer sprechen.
Dagegen sind die richtigen Gefühle jene Gefühle, die als angemessen, als begründet, als intuitiv verständlich erscheinen. Sie benötigen einen Kontext des Verstehens im Selbstbeobachter und für einen Fremdbeobachter. Sie sind die Stelle, an denen Therapeuten bei Beratungsprozessen am effektivsten eingreifen können: „Wie haben Sie sich bei dieser Handlung gefühlt? Erschienen Ihnen Ihre Gefühle als verändert? Was haben Sie gefühlt?“ Dies alles betrifft eine Richtigkeit, die nicht isoliert, sondern nur im Kontext von Umständen begriffen und bearbeitet werden kann. Eine verliebte Frau sagt zu ihrer besten Freundin: „Das ist der richtige Mann!“ Wissen kann sie es nicht. Sie fühlt es. Und ihr Gefühl ist authentisch. Ist es auch das richtige Gefühl? Die beiden Freundinnen führen ein langes Gespräch, um dieser Frage auf die Spur zu kommen. Nehmen wir an, das Ergebnis ist negativ ausgefallen. Zu viel spricht gegen diesen angeblich „richtigen“ Mann. Dann sieht die Verliebte ihn wieder und alle Bedenken sind vergessen. Das richtige Gefühl ist imaginär vermittelt und erscheint dann als „wahres“ Gefühl. Strenger symbolisch wird es oft erst dann bearbeitet, wenn es als Gefühl schon verunsichert ist. Nichts scheint aus symbolischer Sicht unangreifbarer als authentische Gefühle. Gleichwohl werden sie auf lange Sicht immer kognitiv auf- und angegriffen. Wenn das erste Verliebtsein vergangen ist, werden die symbolischen Deutungen in neuer Weise in das Geschehen eingreifen und es regulieren helfen. Manche stellen allerdings auch symbolische Bedeutungen vor ihre imaginären Wünsche.
Der sich hier abzeichnende Widerstreit zwischen Kognitionen und Gefühlen ist für das Beziehungsleben ausschlaggebend. Wir können weder ein rein rationales noch irrationales Verhalten erwarten. Das Wissen als Verobjektivierungsinstanz ist zwar vorhanden und im Sinne der Koordinierung von Handlungen auch notwendig, aber Gefühle gehorchen dem Wissen nicht.

(3) Die Unmittelbarkeit von Gefühlen:
Gefühle erlebt man scheinbar unmittelbar. Aber wurzeln sie tatsächlich allein in einer sinnlichen Gewissheit? Oft scheinen sie eher Wahrnehmungen nach bestimmten Vorannahmen (Schemata, Habits, wie oben dargelegt) zu entsprechen. Wir sind in einer bestimmten, sinnlich gewissen Situation, und dann treten sie auf einmal hinzu. Oder wir tragen sie die ganze Zeit mit uns herum, bemerken sie aber nicht, bis sie bei einem scheinbar nichtigen Anlass hervorbrechen. Somit erleben wir sie zwar unmittelbar, aber sie sind als Spiegelungen von Selbstwertgefühlen, als Begehren nach Anerkennung, Geborgenheit, Zärtlichkeit, Sexualität, als Erlebnisse der Lust, der Freude, der Trauer usw. zirkulär mit unseren bisherigen Erlebnissen und unseren imaginären und symbolischen Verarbeitungsmustern verknüpft. Dies gilt für unmittelbare wie auch virtuelle Erlebnisse. Ein Mann sagt: „Das ist der schönste Augenblick in meinem Leben!“ Er weiß es nur, weil er es fühlt. Seine Freundin sagt ihm: „Das habe ich nun schon hundert Mal von dir gehört. Welcher Augenblick war denn nun tatsächlich der schönste?“ Der Mann denkt nach und findet keine Antwort. Sein Gefühl täuschte ihn nicht. Was ihn täuschte ist die Sprache, die es symbolisch als ein Wissen ausdrückt.
Auch hier streiten Kognitionen und Gefühle um die scheinbar bessere Lösung. Die „beste“ Lösung hat aber immer das Wissen, das auf frühere Gefühle herablassend zurückschaut. Aber es kann nicht gewinnen, weil auch in diesem Moment die Gefühle dem widerstreiten, was als Wissen vereinfacht werden soll. Ein Gefühl sagt mir, dass dies nicht geht. Nehmen wir an, wir haben alles perfekt symbolisch arrangiert. Alles steht zum besten, sofern man kognitive Maßstäbe anlegt. Aber wir fühlen uns dennoch nicht wohl. Unsere Gefühle erzwingen in ihrer Authentizität und Unmittelbarkeit ein Umdenken. Können wir uns darauf einlassen? Und was geschieht, wenn wir es ständig verweigern? Kehren sich dann nicht die Gefühle so gegen uns, dass wir uns als Verlierer, Versager, Unterlegene oder Ohnmächtige empfinden?

(4) Die Unbewusstheit von Gefühlen:
Ein Großteil unserer Gefühle bleibt unbewusst. Aber dann wissen wir auch nichts von ihnen. Immer erst im Nachhinein, wenn dies Unbewusste bewusst aufgedeckt wird, kommt es zum Vorschein, und wir verstehen auf einen Schlag die mögliche Herkunft eines Gefühls. Hier macht sich das Reale geltend, indem es unsere Welt- und Selbstentwürfe immer wieder erschüttert und in die Veränderung treibt. „Ich dachte, sie wäre meine große Liebe, aber dann bin ich dir begegnet und alles hat sich verändert.“ Eine neue Aufmerksamkeit, einer neuer Fokus, und schon sieht die Welt anders aus. Oder umgekehrt die Veränderung des alten Fokus, der die Bedingungen der bisherigen Realität verändert: „In meiner Therapie ist mir klar geworden, dass ich dich nicht aus Liebe geheiratet habe, sondern weil du meiner Mutter ähnelst.“ Das Unbewusste verletzt auf der Gefühlsseite oft den Selbstbeobachter, sofern er keine Kontrolle über seine Psyche hatte, aber auch den Fremdbeobachter, sofern er die Psyche des Anderen nicht durchschaute.
Man hat Freuds Triebbegriff oft vorgeworfen, dass er zu spekulativ sei. Er ist bloß ein Lückenbüßer für unser Unwissen. Dies wollen wir durchaus zugeben. Aber es gibt eben diese Lücken.2 Und deshalb taugt er als ein Erklärungskonstrukt. Dabei zeigte uns die dritte Kränkungsbewegung, wie schillernd das Unbewusste auftritt. Es ist für Beziehungen immer wieder die dann kognitiv reflektierbare Chance, das Unverstandensein und Unverständnis von Selbst und Anderem in einen Dialog zu bringen, der von der willentlichen Richtigkeit der eigenen Wahrnehmungen und Handlungen soweit entlastet ist, dass man sich als grundsätzlich gefühlsmäßig widersprüchliches, unerschlossenes und nie ganz begreifliches Wesen erleben und mitteilen kann. Entlastend wirkt, dass dies für alle Beziehungsteilnehmer gilt. Belastend für Beziehungen aber wird es, wenn es nur als Entschuldigungsformular für Verletzungen des Anderen dient und diesem Gewalt antut.

(5) Die Gefühlsobjekte:
Gefühle richten sich scheinbar immer auf intentionale Gegenstände. Es handelt sich um Dinge, Sachverhalte, Situationen, Personen, um alles in der Welt, was als eine Intention anvisiert werden kann. Jedes Gefühl scheint jedoch seinen Gegenstand zu besitzen (vgl. ebd., 196). Ich mag mein Fahrrad. Ich empfinde Freude, wenn ich es sehe. Ich liebe meine Frau. Ich bringe ihr unterschiedliche positive Gefühle entgegen. Ich gehe gerne zur Arbeit. Auch hier wieder unterschiedliche positive Gefühle. Aber ist die Gefühlswelt so einfach strukturiert?
Im Gegensatz zu Sousa behaupte ich, dass gerade Gefühle oft keinen Gegenstand fixieren können. Dies gilt insbesondere für jene Gefühle, die uns erst motivieren, bestimmte Gegenstände zu bevorzugen. Hier wirkt vor allem die Unbewusstheit auf Gefühle ein. Nennen wir ein profanes Beispiel: Ich besuche gerne Kleidergeschäfte, um mich ständig auf dem neuesten Stand der Mode zu halten. Dies ist mit einigen positiven Gefühlen verbunden: Mich attraktiv und ansehnlich zu finden, meinen Selbstwert zu erhöhen, mich erotisch darzustellen und anziehend zu machen. Aber vielleicht auch, meine Versagensängste zu überspielen, mein zunehmendes Alter zu verdecken. Nun wäre es naiv, bloß die modischen Gegenstände als mit den Gefühlen verbunden zu sehen. Auch Sousa verlangt ein sogenanntes Formalobjekt, was hinter die Fassade blicken lässt. Dies müsste ein Gegenstand sein, der den motivierenden Aspekt beschreibt, der mich einen Gegenstand mit Gefühlen belegen lässt (ebd., 205). Nur Sousa überfrachtet dieses Formalobjekt mit Rationalität und der Suche einer Richtigkeit, die von einem Beobachter exakt beurteilt werden soll. Genau dies überfordert den Beobachter, denn aufgrund der imaginären Vorstellungen, die teils unbewusst und teils bewusst von uns beobachtet werden können, haben wir keinen hinreichenden Zugriff auf jenen Bereich, der unsere Handlungen motiviert. Konzentrieren wir uns hingegen auf die Objekte, so werden wir im Blick auf unsere Antriebe nicht unbedingt schlauer, denn unser Begehren kann sich auf vieles richten, ohne dabei je ganz bei sich zu sein. Es ist eben kein Formalobjekt. Was Sousa allenfalls erreichen kann, das ist, dass der Beobachter bestimmte Gruppen von Objekten bildet, die nach Prüfung von etlichen Selbst- und Fremdbeobachtungen für bestimmte, wiederkehrende Gefühlsbeschreibungen eine Funktion zu erfüllen scheinen. So etwa ließe sich das Gefühl nach Freiheit, Unbeschwertheit, bei gleichzeitiger Lust an überschaubarer Gefahr auf den Gegenstand schnelles Auto beziehen, das wir gefühlsmäßig als  schön und wertvoll erleben. Doch wir können als Beobachter nicht sicher sein, ob diese Selbstdeutung stimmt. Vielleicht haben wir unbewusst ja auch das Gefühl, so besser dem anderen Geschlecht imponieren zu können. Am Ende gewinnen wir so unendlich viele Formalobjekte, was den Formalismus schon wieder hinterfragen lässt.
In der heutigen Warengesellschaft stehen viele Objekte zur Verfügung, die sich zur Besetzung für Gefühle anbieten. Die Werbepsychologie reizt geradezu unsere Gefühle, um uns als Konsumenten einzufangen. Man weiß, dass dies am sichersten über die Gefühlsschiene geht. Die Werbung führt in der Regel keine kognitiv-rationalen Diskurse, um Konsumenten zu überzeugen, sondern stellt ein gefühlsorientiertes Setting auf, das vorrangig an unsere Lust- und Schuldgefühle appelliert. Die gegenständliche Überschwemmung unserer Gefühle bleibt nicht ohne Folgen für unser gefühlsmäßiges Selbstverständnis. In Beziehungen wird heute zunehmend erwartet, dass sich die Gefühle über Gegenstände kontrollieren lassen. Vielleicht erklärt sich hieraus das Interesse am Leben der sogenannten Reichen und Schönen, der Stars und Idole. Sie habe alle jene Gegenstände, von denen Andere nur träumen. Sie sind die Wunschprojektion par excellence. Verwundert es dann noch, wenn man bis in ihr intimstes Gefühlsleben Einblick nehmen will?
Solche illusionären Einblicke führen nicht sonderlich weit. Sie orientieren sich bloß materialistisch, gegenständlich und oberflächlich. Gefühle aber sind tiefer in Kontexten verankert, die mit unserer Körperlichkeit, unseren Spiegelungen und darüber erworbenem Selbstwert, unseren unterschiedlichen Schlüsselszenarien und individuellen Eigenschaften zu tun haben, die sich auch auf Gegenstände beziehen, aber nie in ihnen vollständig als Bestimmungselemente von Gefühlen aufgehen.
Wechseln wir auf die Beziehungsebene. Wer würde die Qualität einer Beziehung nach der Fülle der Gegenstände, die sie (materiell oder ideell) angehäuft hat, beurteilen wollen? Die Gegenstände erscheinen meist auf der Inhaltsseite unseres Lebens. Beziehungen aber stehen in wechselseitigen Zuschreibungen und Spiegelungen, die immer über solche Inhalte hinausreichen. Das Imaginäre mag sich an beliebige Inhalte heften, aber es ist immer auch Prozedur einer Spiegelung, für die ein Blick, eine Geste, eine Zärtlichkeit oder ein sexuelles Erleben mehr aussagt als diese Gegenstände. Oder wir müssten unseren Körper einschließlich aller imaginären Kontexte gegenständlich auffassen. Sousa steht in dieser Gefahr, weil er die interaktiven Spiegelungen nicht hinreichend analysiert. Das aber können wir weder aufgrund der Grenze des Unbewussten noch aufgrund der Flüssigkeit unseres Vorstellens sinnvoll und eindeutig tun.

(6) Gefühlsmuster als veränderliche Re/Konstrukte:
Sind Gefühle konstruktivistisch betrachtet bloße Erfindungen des Subjekts? Ebenso wie bei den Kognitionen will ich betonen, dass zwar jedes Subjekt – auf einer physiologischen Basis und im Rahmen einer spezifischen Sozialisation und Biografie – seine individuellen Gefühle konstruiert, dass es aber auch rekonstruktiv in eine Kultur und Lebensform eingebunden ist, so dass Gefühle individuelle Konstrukte in einem bestimmten Rahmen sind. Dies kann man sehr gut an Gefühlen des Ekels gegenüber bestimmten Nahrungsmitteln studieren, die sehr kulturspezifisch angeeignet werden. Allerdings haben mit der kapitalistischen Welteroberung die spezifischen und relativ isolierten kulturellen Standards eine zunehmende Vermischung erfahren, die sehr viele individuelle Aneignungen und Neigungen als inter- bzw. multikulturelle Muster zulässt. Wie aber sieht es mit der Freiheit des Subjekts gegenüber einmal erworbenen Gefühlsmustern aus? Sind diese noch veränderbar?
In der systemischen Therapie, die konstruktivistisch ausgerichtet ist, betont man an dieser Stelle sowohl für Kognitionen als auch für Gefühle (bzw. für die oft undurchschaubare Gemengelage zwischen beiden) die Wirkung einer Sich-selbst-erfüllenden Prophezeiung. Habe ich z.B. eine ängstliche Einstellung zur Höhe, dann verstärken alle weiteren Erlebnisse mit Höhe meine Angst. Oder denke ich, dass mich die Beziehung, in der ich stecke, noch krank machen wird, dann ist die Wahrscheinlichkeit einer psychosomatischen Erkrankung bereits gegeben. Oder erwarte ich aus Eifersucht, dass mein Mann mich betrügen wird, verdächtige ich ihn deshalb täglich, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass er es tut, groß. Es gibt die Sich-selbst-erfüllende Prophezeiung allerdings auch in positiver Hinsicht. Traue ich mir etwas zu, was ich bisher noch nicht geschafft habe, dann kann die positive Imagination mich in die Lage versetzen, Dinge zu schaffen, die mir keiner zugetraut hätte.
In einer Hinsicht erfahren wir eine Musterverstärkung. Das Gefühlsmuster wird – negativ oder positiv – verstärkt. Am Ende tritt ein, was erwartet wurde. Allerdings sind die Wirkungen sehr unterschiedlich. Negative Prophezeiungen führen das Individuum meist nicht zu besseren Lösungen. In einer anderen Hinsicht erkennen wir aber auch, dass Gefühlsmuster selbst nichts unveränderliches sind. Werden sie kognitiv aufgearbeitet, dann besteht die Chance, sich selbst aus tiefen negativen Verstrickungen zu lösen. Systemische Therapeuten berichten vielfach von der Erfahrung, dass ein erlebtes Reframing einer scheinbar festgefahrenen Sich-selbst-erfüllenden-Prophezeiung zu einer einschneidenden Veränderung des subjektiven Fühlens und Handelns beitragen kann. Hier mischen sich zwei Umstände: Einerseits die gefühlsmäßige Erfahrung, die im gezielten therapeutischen Prozess gemacht wird (z.B. Wut und Ärger über das eigene Verhalten); andererseits eine kognitive Bearbeitung dieses Erlebens, die die Fremdbeobachterposition gegenüber eigenen (festgefahrenen) Selbstbeobachterpositionen betont (z.B. eine reflektierte kritische Distanz zum eigenen Verhaltensmuster). Allerdings wird therapeutisch die Erfahrung gemacht, dass eine kognitive Überredung („Reflektieren Sie Ihr Gefühl und Sie haben es schon überwunden“) meist nicht ausreicht, um Gefühlsmuster entscheidend und langfristig zu verändern.3
Beziehungen gewinnen einen negativen Bedeutungsraum, wenn sie unter einer negativen Sich-selbst-erfüllenden-Prophezeiung stehen. Gleichwohl werden solche Kontexte von Individuen sehr unterschiedlich erlebt und ausgehandelt. Obwohl Gefühle (in ihrer Vermittlung mit Kognitionen) eine schwer kontrollierbare Grundlage für Beziehungen abgeben, scheint der Spielraum doch sehr viel größer zu sein, als wir uns oft in festgefahrenen Gefühls- und Denkmustern einbilden. In der systemischen Therapie spricht man auch gerne im übertragenen Sinne vom therapeutischen Quantensprung, der dann einsetzt, wenn eine Beziehung alte Muster löst und sich neue erfinden kann.
Insoweit gibt es keine Festlegung der unverrückbaren Gefühlsmuster. Solche Muster sind selbst konstruktive Festlegungen, über deren Entwicklung, Aufbrechen, Veränderungen wir immer erst in einer Prozedur etwas sagen können. Wir sehen stets ihre Wirksamkeit, aber wir sehen auch Möglichkeiten, solche Wirkungsketten zu unterbrechen. Es zählen nur individuelle Fälle, denn ein eindeutiges Gesetz, wer wann und wie sich noch aus Gefühlsmustern verändern kann, gibt es nicht. Dies hängt auch damit zusammen, dass wir diese Muster selbst kaum exakt genug beschreiben können, was uns zum nächsten Aspekt führt.

(7) Die Singularität von Gefühlen:
Eine Frau sagt zu ihrem Mann: „Du bist einmalig!“ Dummerweise ist er Philosoph und antwortet sofort: „Jeder ist einmalig!“ Beide Positionen folgen einer unterschiedlichen Beobachterperspektive: Die Singularität des Individuums wird dann betont, wenn wir auf seine Unterschiede gegen den Rest der Welt sehen. Hier ist jeder in gewisser Weise einmalig. Selbst eineiige Zwillinge weisen allein schon durch den eigenen Körper und den Kontext zu ihrem Zwilling eine Einmaligkeit und Unterschiedlichkeit auf, die aus kleinen Unterschieden (z.B. wer ist der Erstgeborene?) größere Unterschiede schaffen. Die Unterschiedlichkeit und Einmaligkeit wird aber gerade oft den Gefühlen zugeschrieben, weil sie die Spiegelungsvorgänge als etwas Besonderes am deutlichsten festhalten. Die Frau betont die Einmaligkeit ihres Mannes, um sich die Besonderheit dieser einmaligen Beziehung (und damit auch sich selbst als besonders) zu vergegenwärtigen. Auf der Beziehungsseite hätte der Philosoph besser antworten sollen: „Wir sind auch ein einmaliges Paar!“ Mit seiner Antwort aber entwertet er diese verborgene Erwartung. Er zeigt sich als wenig kontextsensibel.
Was treibt uns dazu, die Singularität durch Normalität als Betonung von allgemeinen menschlichen Gemeinsamkeiten zu untergraben? Es ist das Ziel von Normalisierungen, Subjektivität rational zu begrenzen und unter die Perspektive eines Gemeinsamen zu stellen. Hier wird soziale Anpassung, Kohärenz oder Unterwerfung unter allgemeine Prinzipien betont, die zum Zwecke des menschlichen Zusammenlebens oft auch nützlich und notwendig sind. Das Recht ist ein Inbegriff hiervon, weil es jegliche Subjektivität unter eine allgemeine Norm zu stellen versucht. Ihm gegenüber können wir uns auch nicht oder nur in gewissen Grenzen auf unsere Singularität berufen. Wenn wir sagen: „Ich habe sie umgebracht, weil ich ein ganz besonderer Mensch bin“, dann wird diese Rechtfertigung als verrückt erscheinen. Wir haben jemanden umgebracht, und hier zählt diese Tat im Vergleich zu allen anderen Menschen als ein verallgemeinertes Übel, nicht aber als eine allein schon durch Singularität verständliche Tatsache. Deshalb werden wir auch mit Sicherheit bestraft – selbst dann, wenn wir unsere Singularität hinreichend durch besondere Umstände oder Motive erklären können. Sie wirken sich allenfalls strafmildernd aus, wenn der Vergleich der Verständigungsgemeinschaft plausibel, d.h. hinlänglich kontextbezogen erscheint.
Die Singularität steht so immer in einer Spannung zur  Normalität (je nach Umständen mehr oder weniger). Eben dies macht Beziehungen schwierig. Wie soll ich jeweils wissen, auf welchen Umstand ich mehr setze? Hätte der Philosoph geschwiegen, wäre seine Ehe vielleicht glücklicher verlaufen. Entscheidend scheint hier ein Gespür für das richtige Gefühl zu sein, was jedoch an die Unmöglichkeit einer Grenze durch die eigene imaginäre Vermittlung der Kommunikation stößt. Immer wieder fallen wir auf unsere eigenen Bevorzugungen und Sichtweisen zurück.
Vielfach wird in Beziehungen versucht, diesem Dilemma durch eine Vielzahl von kognitiven Reflexionen zu begegnen. Dies scheint ein zunächst sinnvolles Verfahren zu sein. Aber es zeigt sehr schnell auch die Grenze an, die Kognitionen und ihre Wirkungen auf Gefühle bestimmt. Nehmen wir ein bekanntes Beispiel aus der Sexualtherapie: Je mehr ein Paar über die bevorzugten Gefühle und Stellungen, über einen erfolgreichen Sex im wechselseitigen Anspruch auf den Anderen spricht, desto weniger kommt tatsächlich guter Sex zustande. Auch hier konkurriert die Singularität (eines sexuellen Vorgangs) mit der Normalität (eines erwarteten Ablaufs). Wenn das Paar Verkehr hat und jeder nur noch an den als normal erwarteten Ablauf denkt, dann sind sexuelle Störungen vorprogrammiert. Die wesentliche Aufgabe des Sexualtherapeuten wird dann darin liegen, die Singularität der Gefühle wieder zum Vorschein zu bringen und die Kognitionen zu minimieren.

(8) Die Kontrolle der Gefühle:
Früher sagte man oft: „Das ist Sünde!“ Heute sagt man lieber z.B.: „Das, was du von mir verlangst, das ist pervers!“ Eine Gefühlskontrolle unter den Perspektiven etwa der sieben Todsünden (Stolz, Habsucht, Wollust, Neid, Gier, Zorn, Faulheit) ist heute schwierig geworden. Die kapitalistisch geprägten Lebensformen mit ihren veränderten Einstellungen zum Stolz (auf eigene Leistungen), zum Haben (Reichtum als Glücksvorstellung), zur Lust (als Betonung körperlichen Genießens), zum Neid (als anerkanntem Konkurrenzverhalten), zur Gier (als Konsumrausch), zum Zorn (als Projektion auf Minderheiten und Außenseiter), zur Faulheit (als hedonistisches Lebensziel) lassen die Plausibilität gerade dieser Normen in Zweifel geraten. Der Werte- und Sinnverlust trägt dazu bei, sich von überkommenen Normen zu befreien, an die schon lange keiner mehr so richtig glaubt. Dennoch bleiben kontextuelle Grenzen bestehen, die mit Begriffen einer allgemeineren, damit flexibleren Normierung und Kontrolle belegt werden. Dafür stehen Begriffe wie hässlich, abwegig, pervers, unfein, übertrieben usw. zur Verfügung. Sie versetzen Beziehungen in die Lage, vor Ort und gemäß den jeweiligen Kontexten und vorherrschenden Ritualen und Konventionen die Gefühle zu kontrollieren. Dies deckt sich mit dem Selbstzwangverhalten, das in einer Kultur erwartet wird. Die Schwierigkeit bei solcher Gefühlskontrolle ist die Zunahme von Offenheit und Zulassungsbedingungen. Je stärker enge moralische und normierende Regeln aufgelöst und durch relativ offene ersetzt werden, um so situationsbezogener müssen die letztlich doch verbleibenden Regeln aufgespürt und beachtet werden. Dies führt gegenwärtig zur Verstärkung von kleineren Kulturen in den größeren Kulturen, die sich nach Altersgruppen oder Neigungen zusammenfinden. Hier können, wie es insbesondere Sekten zeigen, dann auch wieder strikte Verhaltensnormen aufgerichtet werden und ideologisch Gefühle kontrollieren.
Der allgemeine Zwang zur Öffnung des Kontrollverhaltens bürdet Beziehungen einen großen Veränderungsraum auf, der für einzelne Beziehungsteilnehmer zu Konflikten führen kann. An die Stelle der Sünde rücken dann die individuell-interaktiven Schuldzuschreibungen: „Was du mir zumutest, das ist pervers, unanständig, übertrieben, gefühllos, kalt, eifersüchtig, herrschsüchtig usw.“ Die höheren Kontrollnormen treten zurück, die Beziehung muss vermehrt aus eigener Kraft jetzt eine Lösung der Kontrolle von Gefühlen und kognitiven Verarbeitungen hierüber finden.

(9) Die Ambivalenz in den Gefühlen:
In all diesen Problemlagen zwischen individuellen Neigungen und Imaginationen bei gleichzeitiger Spiegelung über andere und tatsächlichen Reaktionen Anderer können wir Gefühle keinesfalls als eindeutig, klar oder zielgerichtet einfach beschreiben. Sie sind nicht monovalent. Je mehrdeutiger (polyvalent) Gefühle erscheinen, um so mehr erzeugen sie Ambivalenzen beim Beobachter: Ist dies nun mein richtiges Gefühl oder muss ich erwarten, dass ich mich schon wieder täusche? Ist dieses Gefühl bleibend oder wird es nicht bald vergehen? Liebe ich mehr sie oder mich in ihr? Liebt sie mich oder nur bestimmte Eigenschaften von mir? Die Ketten der Infragestellungen reißen nie ab. „Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als mit diesem Mann zusammen zu sein. Seit ich ihn habe, fühle ich mich so leer.“ Die Ambivalenzen sind nicht nur Ausdruck unserer Gefühle, sondern als Prozedur schon unseren ursprünglichen Spiegelungen und unserem Begehren zu eigen. Deshalb können wir sie als Ursache und als Erscheinung, als Wirkung und als wirkungslos ansehen. Die Ambivalenzen lauern überall: Zwischen den Imaginationen und der Symbolik, in den Imaginationen und der Symbolik selbst, zwischen dem Imaginären, Symbolischen und dem Realen. Was ich imaginär begehre kann dann, wenn es symbolisch wird, sich als Illusion erweisen. Viele Ehen halten deshalb den in sie projizierten Erwartungen nicht stand. Aber vielleicht war mein Imaginäres gar nicht so einseitig, wie ich es unterstellt habe. Es schien sich nur auf diesen einen Mann zu richten. Seit er da ist, bemerkt es die vielen anderen Möglichkeiten. Und selbst das Symbolische ist zerrissen: Eben noch erschien diese Wohnung, diese Arbeit, diese Freizeit als Inbegriff von Glück. Jetzt zeigen sich die Nachteile und Enttäuschungen. Und dann wieder das Reale in seinen grausamen Formen: Als Krankheit, als Tod erweist es alle Pläne als begrenzt, alle Gefühle als vergänglich.
Blicken wir auf die genannten Problemebenen im Zusammenhang, dann ist die Macht von Ambivalenzen offensichtlich. Dadurch geraten Beziehungen unter einen Verhandlungsdruck: Die konkreten Wünsche und Ziele, die vorhandenen Umstände und die individuellen Akteure müssen bei jedem Thema in einen lebensfähigen Konsens gebracht werden. Dies wird kaum ohne Ambivalenzen geschehen können. Je größer die Offenheit von Beziehungen diesbezüglich gestaltet wird, desto mehr Toleranz wird man beanspruchen müssen. Aber dann entsteht die Frage nach der repressiven Toleranz für jede Beziehung: Wann schlägt das tolerante Verhalten in eine Repression meiner eigenen Gefühle um?

Die neun Problemebenen verdeutlichen aus der Sicht der Gefühle Unschärfen, die ich in der Psycho-Logik annehme. Da die Gefühle die Kognitionen, deren Schärfe ich nur durch Reduktion meiner Beobachtungswelten auf möglichst eindeutige Zusammenhänge (und dabei innerhalb bestimmter Verständigungsgemeinschaften) erreichen kann, beeinträchtigen und umgekehrt von den Kognitionen beeinträchtigt werden, ist es für ein konstruktivistisches Beobachten von Beziehungen wichtig, zunächst einmal Schwierigkeiten eines solchen Beobachtens selbst zu thematisieren. Hier ist es erschreckend, wie unterentwickelt gerade diese Forschungsbereiche sind. Dominant sind in der Wissenschaft bis heute allemal die klaren symbolischen Konfigurationen. Aus dieser Dominanz heraus bestimmen wir gerne die Sozialisation und das Lernen der nachfolgenden Generation. Wenden wir uns hingegen solch gefühlsbezogenen Fragestellungen wie dem Lachen, dem Weinen, der Trauer, der Freude usw. zu, dann wird offensichtlich, dass diese nicht zum hauptsächlichen Beobachterfokus der Wissenschaften gehören. Im Gegenteil: Sie sind randständig und durch scheinbare Belanglosigkeit entwertet. Für den interaktionistischen Konstruktivismus wird sich dies ändern müssen, denn er sieht gerade in diesen Bereichen entscheidende Schlüsselstellen, die bei einer stärkeren Beachtung der Beziehungswirklichkeit in den Vordergrund unserer Aufmerksamkeit und auch der wissenschaftlichen Forschung treten sollten.

 

1 Dem konstruktivistischen Ansatz nah ist hierbei Ciompi. In seiner Affektlogik (1982) versucht er, psychoanalytische und systemtheoretische sowie kommunikative Aspekte miteinander zu mischen. In seiner Schrift „Außen- und Innenwelt” (1988) steht die Absicht im Vordergrund, psychische Strukturen vor dem Hintergrund evolutiver Veränderungen zu interpretieren. Allerdings weist er kein konsequent interaktionistisches Konzept auf. Bei ihm dominiert vielmehr eine Ableitung affektiver Schemata auf der Basis von Piaget unter Einbeziehung psychoanalytischer Aspekte.

2 Auch Sousa (1997, 161 ff.) gibt unbewusste Strukturen zu. Er führt die von Freud genannten sechs Argumente gegen die Gleichstellung von Bewusstem und Psychischem an (vgl. weiter oben Kapitel II.3). Vgl. ferner Freud (1968, Bd. X, 264 ff.).

3 Der konstruktive Charakter der Übertragung in der Psychoanalyse wurde weiter oben bereits behandelt (vgl. Band 1, Kapitel II.3.7).

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