Kersten Reich: Die Ordnung der Blicke. Band 2: Kapitel III.2.6

   

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2.6. Gibt es einen besten und letzten Beobachter in Beziehungen?

 

2.6.1. Die Rolle des besten Beobachters in Beziehungen oder die Frage nach
          der Macht

Ein bester Beobachter wird im Nebeneinander von Beobachtern ermittelt. Es ist der ausgemachte Beobachter, der besser als andere sieht. Ihm sind Kompetenzen zugeschrieben, die eine Verständigungsgemeinschaft voraussetzen, die sich Regeln gibt, in der bessere und schlechtere Plätze des Beobachtens unterstellt sind. Solche Regeln sind typisch für wissenschaftliche Argumentationen. Sie lassen sich aber kaum als Alltagserörterungen führen, die unmittelbar in einer Beziehungswirklichkeit stehen, sondern sie abstrahieren Vorleistungen, die durch eine strikte Selektion erzwungen werden. Diese Selektion sichert als Vorleistung ein Anknüpfen an Argumentationsstränge, die in der Geschichte der wissenschaftlichen Disziplinen eine jeweils „bessere“ Position verankern. Auch wenn die Wissenschaften dabei bis heute den Anspruch verloren haben, den besten Beobachter außerhalb ihres systemimma­nenten Beobachtens – also quasi außermenschlich, überirdisch, naturgesetzlich – zu ontologisieren oder naturalisiert als Abbild einer Realität herzuleiten, so bleibt dennoch auch für Konstruktivisten der Umstand bestehen, rationale Debatten mit einem Für und Wider, einem Wahr und Falsch, Angemessen und Unangemessen usw. zu führen. Insoweit wir auf der Inhaltsseite stehen, gelten diese Argumentationen, die durch einen Fluss der Signifikanten und eine Festlegung auf Signifikate geregelt werden, die in Aussagenkonstrukte münden, die als Deutungsmonster argumentative Ableitungen beherrschen. Es gehört zum Wesen symbolischer Ordnungen, dass sie als Ordnung produziert werden. In solcher Situierung und Konfiguration begrenzen sie das Spiel von Eins und Auch auf zwei vorrangige Spielarten und Diskurssysteme:

(1) Auf dem Platz des Einen, von dem aus agiert wird, sitzt die Wahrheit selbst, die sich als Zeichen und Ankunft gewiss weiß. Sie setzt voraus, dass es diesen besten Beobachter gibt, der mit Macht und Kraft die Wahrheit in Aktion führt, um sie gegen alles anstreiten zu lassen, was sich ihr entgegenstellt. Alle Auchs werden hieran gemessen. Der beste Beobachter ist der Herr und Meister dieses Diskurses, seine Wahrheiten mögen wechseln, aber das Muster der Wahrheitssetzung bedeutet, sie in eine Konstruktion von Wirklichkeit zu überführen.
Allerdings sind nach diesem Muster offene, plurale, widersprüchliche, ambivalente Argumentationen schwerlich zu führen. Dies ist so, wenn man eine Meisterschule besucht. Als Schüler muss ich mir die Position des Einen erst einmal aneignen, um mich nach diesem Muster der Unterwerfung allen Auchs zu stellen. Damit dominiert eine Immanenz der Argumentation, auf die man sich immer schon einlassen muss, bevor man sie betreiben kann. Selbstbeobachtern mag dies noch als Wissenschaft einer Schule erscheinen, Fremdbeobachter sehen das Dogma und die Voreingenommenheit eines Herren- oder Meisterdiskurses.

(2) Ein Diskurs des Wissens, wie er heutigen Universitäten und Wissenschaften zu eigen ist, setzt in der Regel auf den Platz des Einen das Wissen selbst. Dieses Wissen verlangt nach immer mehr Wissen, nach einer Erweiterung seiner Argumentationen, was eine Grenzenlosigkeit zu gestatten scheint. Aber ganz so grenzenlos ist es nicht, denn als Wissen ist stets schon das begrenzt, was als Wissen Geltung beanspruchen kann. Wissenschaftliche Selbstbeobachter in der westlichen Moderne unterstellen hier eine Wissenschaftsgemeinschaft, die Fremdbeobachtern, die kulturelle Pluralität betonen, als Illusion erscheint. Für sie ist das Wissen durch ein Nebeneinander der Beobachter subvertiert.

So schwankt in der Wissenschaft der Beobachter zwischen einer Suche nach dem besten Beobachterplatz als Meisterschule oder Übersicht über das Wissen auf der einen Seite und der Unfähigkeit, diesen Platz im Gegeneinander auf Dauer zu si­chern. Das Chaos der Beziehungswirklichkeiten holt auch die Wissenschaften ein. Dort, wo es auf der Beziehungsseite keinen Maßstab mehr für einen besten Beobachter gibt, wird immer offensichtlicher, dass dieser Verlust alle Inhalte subvertiert. Auf dem heiligen, argumentativen Platz des Einen stellen sich neben die Wahrheit oder das Wissen nun auf einmal die Subjektivität oder der a/Andere (als imaginierter oder symbolischer), um in die vermeintliche Rationalität von Argumentationen ihre Unschärfen, ihr Begehren, ihre Machtansprüche einzufügen (vgl. weiterführend dazu die konstruktivistische Diskurstheorie in Kapitel IV.4).
Wie aber soll dann Argumentationsfortschritt noch möglich sein? Wir können ihn nur noch als eine Position, als ein Konstrukt von besten Beobachtern im Nebenein­ander erfassen, die sich von vornherein der Relativität des eigenen Argumentes ge­wiss sind. Sie bleiben zwar jene scheinbar absoluten Beobachter mit hoffentlich besten Absichten, Wünschen und Argumentationskonfigurationen, ohne jedoch damit die Relativität, die Ambivalenz, die Schwächen ihres Beobachtens aufhalten zu können. Ihre einzige Hoffnung ist es, sich gleichgesinnte Beobachter zu gewinnen und diese zu erzeugen, indem sie Verständigungsgemeinschaften über diese Voraussetzungen bilden. Diese bezeichnen sich dann z.B. als interaktionistische Konstruktivisten, wenn sie ein Erkenntnismodell wie das hier vorgelegte bevorzugen. Wenn sie aber sagen, dies sei das derzeit beste Modell, dann beginnt schon ihre Dekonstruktion, weil sie erkennen müssen, dass dies nicht für alle so sein kann. Nehmen sie hingegen an, dass es einmal so kommen könnte, dass alle Menschen als Konstruktivisten auf­treten, dann sollten sie den damit verbundenen Dogmatismus als Endlösung von Argumentationen fürchten. Denn es ist der Wechsel aus der zweiten in die erste Position, die den Übergang von einem Diskurs des Wissens in einen Diskurs der Macht und der Abhängigkeit dokumentiert. In seiner Gefahr stehen alle, die nach besten Lösungen für alle (oder lange) Zeiten streben.
Stellen wir uns vor, wir würden unsere Beziehungen nach der Maxime eines besten Beobachters führen. Sofort sind wir an patriarchalische, sehr traditionelle Familienstrukturen erinnert, in denen die väterliche Gewalt – meist flankiert von einer religiösen Legitimation der Vorrechte des Mannes – den besten Beobachter markierte. Insofern Beziehungen auch heute noch in dieser Tradition stehen, werden in ihnen – zumindest in Teilen oder bei bestimmten Entscheidungs­bereichen –  beste Beobachter schon aufgrund dieser Struktur auftreten. Neben dieser strukturellen Wahrscheinlichkeit gibt es aber auch beste Beobachter in Einzelfragen jeder Beziehung, insofern die Beziehungsteilnehmer ihr Konstrukt von Wahrnehmung und Wahrheit für richtiger, angemessener, wahrscheinlicher als die Konstrukte von Anderen halten. Soweit die Beziehungstoleranz dies zulässt, werden diese Beobachtungsleistungen in die Vielfalt der Beziehungen aufgenommen. Andererseits werden sie aber bei Missstimmungen in den Beziehungen meist zum Anlass eines Macht- und Beziehungskampfes. Der beste Beobachter immunisiert sich gegen mögliche Kritik dadurch, dass er besser als Andere schaut. Sein Schauen ist als höherwertig legitimiert. Der andere Beobachter aber erlebt diese Setzung als einen Ausdruck von Macht. Ist der Andere besser, dann bin ich von vornherein in der schlechteren Position. Unter der Wahl einer komplementären Beziehung (einer oben, einer unten) kann dies zugelassen sein, wenngleich dies leicht zu Inkongruenzen in der Kommunikation selbst führt (z.B. Unterlegenheitsgefühle, Mangel an Selbstwert, was dann auf lange Sicht auch den scheinbar mächtigen Partner –  vor allem durch die Wahrnehmung von außen – entwertet). In einer symmetrischen, auf Gleichheit ausgerichteten Beziehung aber wird diese Positionierung zum Ausgangspunkt von Eskalationen, die einen unendlichen Bezie­hungsmachtkampf hervorbringen können. Zerstrittene Beziehungen streiten um die größten Belanglosigkeiten mit einer Intensität, die Beobachtern von außen als lächerlich, peinlich oder abwegig erscheint. Aber niemand ist davor gefeit, in solche Lächerlich­keit, Peinlichkeit oder Abwegigkeit zu geraten, weil die Position der Besserwisserei ein gängiges und teilweise auch erwartetes Kulturgut ist. Gerade in einer Gesellschaft, die die Leistungen des einzelnen im Konkurrenzkampf untereinander betont (die Notensysteme z.B. laufen immer auf Rangvergleiche hinaus), werden systematisch Besserwisser erzeugt.1

 

2.6.2.  Die Rolle des letzten Beobachters in Beziehungen oder die Frage nach 
             der Mehrgenerationenperspektive

Treten wir aus dem Nebeneinander heraus in ein Nacheinander, dann verwandelt sich der beste in den letzten Beobachter. Auch dieser kann schließlich als der beste oder höchste Beobachter erscheinen. In wissenschaftlichen Argumentationen aber ist er meist nur der aktuelle Stand oder die letzte Fassung eines Problems, das eine (zunächst) abschließende Form gefunden hat. Wo die beste Lösung mit dem Anspruch auftritt, in die Welt hinein zu agieren (in meiner Sprache: vom Platz des Einen aus sich an alle Anderen zu wenden),2 da weiß der letzte Beobachter bereits von den ewig wiederkehrenden Mustern und Schwierigkeiten, die die Wirklichkeit strukturieren.
In den rational orientierten Diskursen der Moderne ist die Position des letzten Be­obachters nicht mehr durch Geburt oder religiöse Vorrechte zu erwerben, sondern an die Leistung einer Argumentationsfolge gebunden, die sich im Kontinuum der Argumentationen als Anschlussfähigkeit mindestens halbwegs ausweist. Je weniger Beobachter die Leiter des Wissens hinaufsteigen, um so weniger Menschen werden allerdings beurteilen kön­nen, was diese letzte Position sein kann. In einer Idolisierung von Wissenschaft gilt dann insbesondere das als charismatisch, was Aspekte des Zeitgeistes andeutet, sich aber zugleich schwierig und komplex in der Geschichte des Denkens verankert. Es gehört zum Wesen sehr guter Promotionen oder Habilitationen, dass sie sich auf den letzten Stand der Wissenschaft bringen sollen, und dieser Strandpunkt wird schnell damit verwechselt, dass dies auch eine lebensweltliche Relevanz von Arbeiten ausmacht. Diese Relevanz von letzten Beobachtern erzeugt jedoch weniger eine Hinwendung zum Alltag, zu den Lebensformen oder zu praktischen Problemen (außer in Auftragsforschung), als vielmehr eine Konstruktion einer abstrakten und isolierten wissenschaftlichen Karrierewelt, die zur Selbstbeschäftigung von Letztbegründungen getrieben wird. Besonders in den Humanwissenschaften vervielfältigt dies in den letzten Jahrzehnten das Wissen, ohne dass es eine grundsätzliche Veränderung in den humanen Anwendungsbezügen gibt. In dem Hang zur virtuellen Letztbegründung geraten hingegen meist die beziehungsmäßigen und lebensweltlichen Beobachtungen immer mehr aus dem Blick, um den Deutungsmonstern einer letzten formalen Betrachtung geopfert zu werden.
Je rationaler die Formen der Betrachtung in der Wissenschaftsgeschichte geworden sind, desto mehr werden Letztbegründungen aus dem Reich des Konkreten in die Abstraktion und bis hin zu nichtssagenden oder unpraktikablen formalen Lösungen getrieben. Dies zwingt sie aus der Beziehungswelt heraus, deren Unschärfen sie scheuen. Dies beschränkt aber auch ihre Möglichkeiten, Beobachtungen in der Beziehungswirklichkeit als letzte Beobachter durchzuführen. Die Letztbegründer meiden die Beziehungen, sie wandern in die Berge auf die einsamen Gipfel, um ihre – teilweise romantischen – höchsten, weitesten, letzten Blicke in – oft unverstandener – Einsamkeit zu genießen. Beobachten sie sich in ihrer Beziehungswirklichkeit, dann benötigen sie eine Trennung von objektiver und subjektiver Welt, um die Diskrepanz zu erläutern. Doch diese Erläuterung zeugt bereits vom Unverständnis der Subversion ihres Wissens durch das unterstellte Beobachtungsmodell selbst. Der Stand­punkt des Letzten, der da sieht und argumentiert, beruht auf der Fiktion eines Kontinuums, das alle bisherigen Argumentationen doch nur aus der Vereinfachung jeweiliger Um- oder Neukonstruktionen von Wirklichkeiten gewinnen. Hier dominiert in der Regel eine geschickte Auslassung, die an den Argumentationen betrieben wird. Solche Auslassungen gelten auch für meine Argumentationen. Wenn ich z.B. die Kränkungsbewegungen in Band 1 beschreibe, dann ist diese Beschreibung nur durch Auslassungen auf das zuzuspitzen, was ich konstruierend überschauen konnte oder wollte. Also wird es hinreichend Kritiker geben, mir dies vorzuwerfen. Meine Verteidigung kann nur darin bestehen, dass die Auslassungen nicht bodenlos, ungebildet, naiv sind. Aber gerade als Konstruktivist wende ich dieses Argument ins Positive: Jede Argumentation ist Konstruktion, die auch in der Interpretation stets umdeutet und auslässt, um sich als Standpunkt zu positionieren. Wie lange diese Position erhalten bleibt und wo sie besser als andere Erklärungen anbietet, wird von Verständigungsgemeinschaften entschieden. Die relativ letzte Position aber ist in der Gegenwart nur dort noch sinn­voll, wo Anknüpfungen als Legitimation einer re/de/konstruierten Kontinuität als sinnvoll erscheinen, dort aber sinnlos, wo diese Kontinuität als letzte Position formalisiert festgehalten werden soll. Je demokratischer und offener Beziehungen gestaltet werden (bei allen strukturellen Einschränkungen von Individualität in gegenwärtigen Gesellschaften), um so schwieriger werden die Positionen der letzten Beobachter. Sie erzeugen den Zwang zur Idealisierung jener Positionen, die virtuell unseren Wunsch nach letzten Geheimnissen befriedigen: Möge irgendwo noch jemand sein, der alles genauer, besser als wir, von einem letzten Standpunkt aus durchschaut. Doch wir haben ihn aus den Augen verloren. Und wenn er zurückkehrt, dann sollten wir ihn fürchten.
Gehen wir genauer auf die Beziehungswirklichkeit zurück, dann lässt sich die Frage nach dem letzten Beobachter auch so stellen: Gibt es in Beziehungen Fortschritt?
Beziehungen als alltägliche, gelebte Formen der Begegnung, des Zusammenle­bens, können zwar nach Mustern und Veränderungen von Verhaltensweisen beschrieben werden, aber es fällt uns schwer, hier eine Evolution zu bezeichnen, die sich klar nach primitiv und entwickelt, unzivilisiert und zivilisiert usw. aufteilen lässt. Um solche Aufteilungen vorzunehmen, greifen wir immer über die engeren Beziehungen mit ihren Gefühlen, normativen Werten und singulären Ereignissen hinaus. Wir systematisieren aus unserer Lebenswelt heraus – meist unbewusst auf dem Hintergrund eines als positive Entwicklung unterstellten Konsenses – Kriterien, die gesellschaftliche Unterschiede generieren: Materieller Wohlstand, normative Regeln der Selbstkontrolle, die Entwicklung normativer Institutionen und Bildungseinrichtungen, eine größer erscheinende Macht in ökonomischer, politischer, militärischer, kultureller Hinsicht usw. werden dann zu Kriterien einer Messung und Beobachtung, die Fortschritt bezeichnen sollen. Solche Zuschreibungen sind stets ethnozentrisch und bieten kein übergreifendes Kriterium für höhere Moralität oder normative Überlegenheit. Zudem klammern sie das aus, was ich als Beziehungswirklichkeit betone. Hier haben wir die größten Schwierigkeiten, von Primitivität, Unterentwicklung und fehlender Normierung zu sprechen. In der Ethnologie ist vielmehr bewusst geworden, dass die Beziehungsverhältnisse der von Ethnologen beschriebenen fremden Kulturen nur anders als die unsrigen sind. Bringen wir dies Problem auf einen forschungsbezogenen Gegensatz, so fällt für eine sozial-evolutive Position besonders Elias ein. Er analysiert kulturgeschichtlich Veränderungen im Zivilisationsprozess der westlichen Moderne. Damit beschreibt er als Beobachter ein Konstrukt bestimmter sozio- und psychogenetischer Veränderungen, die sich auch in Beziehungen beobachten lassen: Zunehmender Selbstzwang in allen Lebensbereichen dokumentiert durch Beispiele über das Essen und Trinken, das Schlafen, die Sexualität. Ausgelas­sen ist auch hier schon der Einzelfall, der der behaupteten Entwicklung entgegen­  steht. Er kommt immer wieder vor, aber es geht Elias um grundsätzliche Standards des Verhaltens in the long run.  Diese wirken für alle späteren Beziehungen wie ein Rahmen, der Verhalten einbindet. Seit Lévi-Strauss sein Buch „Traurige Tropen“ (1960) schrieb, kennen wir aber auch die ethnologisch reflektierte Kehrseite solcher Evolutionsgeschichten. Wir betreiben einen kulturellen Vergleich zu sogenannten unterentwickelten Völkern, indem wir diese an unseren Orientierungen und Gesell­schaftskonstrukten messen. Damit verlieren sie nicht nur ihre politische, ökonomische und soziale Eigenständigkeit, sondern auch ihre eigene kulturelle Geschichte wird entwertet. Als letzte Beobachter behaupten wir, die besten Beobachter zu sein. Wir erkennen dann nicht mehr den Konstruktcharakter auch unserer Beobachtungen und verhindern so, uns auf die anderen Konstrukte offen einzulassen. Könnten sie aus der Sicht ihrer Beziehungen nicht immer auch behaupten, beste und letzte Beobachter zu sein? Welches höhere Recht haben wir, ihnen das zu bestreiten? Ist es unser Fortschritt?
Fortschritt selbst ist ein Beobachterkonstrukt, das insbesondere zur Legitimierung entwickelter Gesellschaften herangezogen wird. Eine solche Intention generiert letzte Beobachter, die nicht bloß der Chronologie und Wiederkehr des ewig Gleichen lauschen sollen, sondern die eine lineare Entwicklung bezeichnen, die sie am End- und Höhepunkt einer Evolution ausweist. Dann muss aber bedacht werden, dass die Beobachtungstheorien selbst schon Teil einer Fortschrittsideologie sind, die immer das schon voraussetzt, was sie zu beweisen versucht.
Insoweit ist der letzte Beobachter, der Fortschritt beschreibt, immer schon durch die ethnozentrische Klammer, die diese Beschreibungen leitet, in seinen Perspektiven begrenzt. Um diese Begrenzung nicht offensichtlich werden zu lassen, wird er sich jenen Dingen zuwenden, die in besonders einleuchtender Weise Entwicklung dokumentieren. Dies sind die verdinglichten, symbolischen Welten von Wissenschaft, Technik, Industrie, Warenproduktion, die wir meist mit der Entwicklung von Zivilisation und Wohlstand gleichsetzen. Diesem zivilisierten Weltbild kontrastiert eigentümlich eine zugleich mögliche Barbarei auf der Beziehungsseite, die so gar nicht ins Bild passt: Faschismus, Völkermord, Welt-Kriege – die Barbarei des 20. Jahrhunderts, allesamt Ereignisse, die insbesondere sich der sogenannten Fortschritte bedienten.
Beziehungen im 20. Jahrhundert subvertieren zunehmend das Wissen um Fort­schritt. Sie sind in postmoderner Ausprägung und Vervielfältigung weder eigentlich fortschrittlich noch rückständig. Sie haben zunehmend einen einheitlichen Sinn verloren und agieren gleichwohl bestimmte wiederkehrende Praktiken und Routinen. Wer immer in ihnen lebt, denkt und fühlt bereits in ihnen, wobei die Praktiken und Routinen den Boden und Hintergrund für alle Fortschritte markieren. Zwar gibt es auch ein Wissen über Beziehungen in jeder Kultur, aber dieses Wissen treibt nicht zum Fortschritt, sofern es durch die Vielfalt, Unübersichtlichkeit, Gegensätzlichkeit und plurale Widersprüchlichkeit von Beziehungen selbst subvertiert ist.
Was aber bleibt dann als Fortschritt? Fortschritt zeigt sich vorrangig als ein Segment der symbolischen Welt. Er verkörpert nach wie vor eine lineare Denkweise, die sich vornehmlich an Äußerlich­keiten einer dinglichen Welt orientiert. Im Zusammenspiel dieser Welt mit der Beziehungswirklichkeit können Veränderungen beobachtet werden, die auch menschliches Verhalten betreffen. So sehen wir eine Zunahme an Disziplinierun­gen mit Foucault, an Selbstzwängen mit Elias, an Bürokratisierungen mit Weber; aber diese Beobachtungen dekonstruieren bereits das, was gemeinhin als Fort­schritt bloß in positiver Konnotation beschrieben wird. Die Entwicklung menschlicher Beziehungen gerät dabei in demokratieorientierten Gesellschaften dann in die Krise ihrer Aufklärungsideale, wenn Fortschritt in der demokratischen Praxis und Routine nicht mehr als eine Bewegung hin zur Demokratie begriffen werden kann, sondern seinen ursprünglich antreibenden Sinn nach größerer Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität auf der Grundlage dieser Gesellschaften selbst einbüßt: anything goes.
Aber in Beziehungen geht nur scheinbar alles. Als Praktiken und Routinisierun­gen sind gerade Beziehungen meist konventioneller festgelegt, als es die postmo­derne Erwartung an Pluralisierung nahelegt. Insoweit bilden Beziehungen auch den konservativen Rahmen einer konventionellen Selbstverständigung von Kulturen. Wir können zugeben, dass dieser Rahmen offener für Abweichungen, Moden, gegensätzliche Strömungen geworden ist, ohne jedoch zur Auflösung wiederkehren­  der Praktiken oder Routinen zu führen (vgl. Kapitel IV.3.3.1.1). Genau dies aber macht es schwer, Beziehungen überhaupt nach fort- oder rückschrittlich zu beurteilen. In ihnen sind bestimmte Muster des Verhaltens bezeichnet, die wir heute meist eher als Wiederkehr (zirkulär-kreisförmig) und nicht als auf- oder absteigend (zirkulär-spiralförmig) zu beobachten meinen.
Es bleibt aber die Frage, ob der verdinglichte Fortschritt diese Beziehungen nicht doch aus dieser bloßen Wiederkehr und Routine hinaustreibt. Offensichtlich müs­sen wir als Beobachter über Beziehungen hinaussehen, um sie als Beziehungen besser zu verstehen: Wir müssen uns der Lebenswelt und der Produktionswirklich­keit zuwenden, um unsere bisher noch zu eng gezogenen Perspektiven zu erwei­tern.

 

2.6.3.  Sind Verständigungsgemeinschaften Beziehungswirklichkeiten?

Die Herleitung der Beziehungswirklichkeit als Ausdruck einer Psychologik, wie wir sie im zweiten Gefangenendilemma gesehen haben, bezeichnet eine deutliche Grenze zur engeren Beobachtungswelt der Wissenschaft. Nun aber stehen wir vor dem Problem, dass die Wissenschaft von Wissenschaftlern in Beziehungen praktiziert wird. Sind die wissenschaftlichen Theorien von den beziehungsmäßigen Praktiken der Wissenschaftler subvertiert?
Die Wissenschaft selbst vermeidet es meist, diese Frage zu stellen. Sie klammert Beziehungen in der Regel aus ihren Überlegungen aus, indem sie ihren Diskurs  so auffasst, dass die Beziehungen allenfalls als Abstraktum erscheinen. Dabei sehe ich folgende grundlegende Muster:

  • Diskurse werden traditionell als Logiken von Sachverhalten aufgefasst, die durch wissenschaftliche Argumentation erzeugt werden. Dabei gilt die Überzeugung, dass sich das beste rationale Argument von selbst durchsetzen wird, wenn der Wissen­schaftler nur richtig und umfassend prüft, welche Erwägung die beste ist. Seit Platon und Aristoteles ist diese Erwägung verbreitet. Sie radikalisiert sich in der Aufklärung, indem das Gebot, eine rationale Erwägung zu betreiben, sich gegen Vorurteile, Autoritäten und Irrtümer wendet, die durch mangelnde Aufklärung entstehen. Die Vernunft der Aufklärung kommt zu ihrer eigenen Einsicht, die allerdings als isoliert und einsam erscheint, weil nur das autonome Subjekt die Gewissheit einer richtigen Erkenntnis sichert. Es muss frei sein, sich aufgeklärt zu verhalten und die Erwägung unabhängig zu vollziehen, was aber übersieht, dass dieser Vollzug selbst schon an interaktive (sozial-kulturelle) Voraussetzungen geknüpft ist. Wenn Kant darauf be­steht, dass das „Ich denke“ alle meine Vorstellungen begleiten können muss, aber hierbei zugleich von öffentlicher Kommunikation und Sprache getrennt und unabhängig sein soll, dann wird die Autonomie als Fiktion einer reinen Erkenntnis strapaziert.
  • Diskurse haben jedoch eine stillschweigende intersubjektive, interaktive Voraussetzung. Dies wird dann sichtbar, wenn wir erkennen, dass kein Diskurs ohne eine Sprach-, Argumentations- und Verständigungsgemeinschaft bestehen kann. Die Wissenschaften unterstellen genuin eine Gemeinschaft von Forschenden, die die rationalen Erwägungen vollziehen. Solange sie aber den einzelnen Wissenschaftler als Monade auffassen, übersehen sie den wesentlichen Fundierungsgrund durch die lebensweltlichen Bezüge, durch Interessen, Macht, Vorannahmen, die sich in jedem wissenschaftlichen Subjekt nach Maßstäben einer Vorverständigung geltend machen.
  • Eine intersubjektive Lösung des Problems wird bereits dann erreicht, wenn zugegeben wird, dass prinzipiell Interaktionen das Vorverständnis von Wissenschaft definieren, aber dies letztlich ohne Konsequenz für die Begründung der Zirkularität von Beobachterperspektiven bleibt. Dann wird das Inter bloß äußerlich als ein Wechselspiel der Subjekte verstanden, das immer noch durch eine Letztbegründung ihrer Gemeinsamkeiten – ein monadisches Prinzip – aufrechterhalten wird. In dieser Gefahr stehen selbst noch jene argumentativen Diskurse, die sich auf strikter Dialogizität begründet sehen, weil und insofern sie ein letztes Prinzip formal-universaler Geltung strapazieren.3
  • Aus der Sicht der Interaktion und Konstruktion wird die intersubjektive Voraussetzung dann offensichtlich, wenn die Beziehungswirklichkeit als Hinter-Grund jeglicher Diskurse angeführt wird. Sie bildet den Rahmen jeglicher wissenschaftlicher Objektiviationsversuche, insofern sie ein kontextuelles Vorverständnis von Verständigung enthält, das in der Spezifik der wissenschaftlichen Beobachtung wieder erscheint.

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(1) Symbolisch werden alle Objektivationsversuche in Diskursen des Wissens durch die Interaktivität gekränkt, weil sie als Vorbedingung jeglicher Re/De/Konstruktion eine vermeintliche Autonomie oder Monadizität des Subjekts als Illusion entlarvt. Alle symbolischen Re/De/Konstrukte unterliegen dem Hintergrund von zirkulären Beziehungen, ohne dass dies allerdings bedeuten kann, dass sie damit eindeutig fixierbar oder begrenzbar werden. Das Gegenteil ist der Fall. Der Hintergrund der Beziehungen führt in die engere Beobachtungswelt der wissenschaftlichen Diskurse Unschärfen ein, die diskurstheoretisch gerne vermieden werden. Dies hat Foucault sehr klar erkannt. In der „Ordnung des Diskurses“  betont er deshalb die Abhängigkeit der Diskurse von vorgängigen gesellschaftlichen Praktiken. Herrschaftsinteressen und Triebregungen, Macht und Begehren, erscheinen ihm als Ausgangspunkte, die gerade durch Diskurse gebändigt werden sollen. Der Diskurs verliert hier seine autonome Funktion. Er wird auch als Geltungsanspruch einer formalen Letztbegründung verworfen, weil er stets nur das begründet, was bereits in lebensweltliche Konstellationen eingebettet ist. Wenn man dieser Kritik Foucaults z.B. entgegengehalten hat, dass sie nicht erklären könne, wie soziale Ordnung überhaupt entstehe und möglich sei, so ist dies ein Unverständnis gegenüber der Neuartigkeit seines Diskursbegriffes. Soziale Ordnung als eine universale Form – in welchen Ausprägungen auch immer – ist für Foucault unmöglich. Aber sie bleibt soziale Ordnung in all der Bruchstückhaftigkeit, die die Postmoderne zeigt. Wenn man Foucault unterstellt, dass dies als Wahrheitsanspruch unmöglich sei, so verkennt man, dass Wahrheit ei­nem Gestaltwandel von Beobachtern in (sozialen) Beziehungen unterliegt. Er spricht eben nicht mehr von einer Wahrheit, die er als Letzbegründung seiner These behaupten kann. Sie rangiert nur noch neben anderen Wahrheitsbehauptungen, sofern es genug Macht gibt, dieses Konzept in Verständigungsgemeinschaften zu realisie­ren. Der Aufschrei der Habermas-Schule oder der Transzendentalpragmatiker ist unbegründet, weil sie auch nur sehen, was sie nach ihrer Begründung sehen wollen. Aber genau diese Begründung ist schon verworfen. Und Foucault verwirft sie wie der interaktionistische Konstruktivismus, weil das symbolische Denken selbst nicht den Halt bieten kann, den argumentative Diskurse bis heute unterstellen. Der Rückzug auf eine reine oder formale Rationalität erweist sich als ein virtueller Gebrauch von Wissenschaftlern, deren Verständigungsgemeinschaften sich von der Lebenswelt immer stärker abkoppeln müssen, um überhaupt noch ihre systemimmanente Geltungspraxis zu propagieren. Nur durch Ausschluss der Beziehungswirklichkeit gelingt das Kunststück einer Argumentation, der kaum noch jemand folgen kann, wenn die konkreten Plätze dieser Lebenswelt betreten werden. Obwohl eine präzise Argumentation alles kommunikative Handeln bestimmen sollte, versteht sie kaum noch jemand. So ist es nicht ein performativer Selbstwiderspruch, an dem Foucault leidet, weil er die alte Wahrheit bestreitet und dabei zu­gleich eine neue objektivierend behaupten muss, denn dies rührt ihn kaum, weil er den Anspruch schon hinter sich weiß, sondern ein Widerspruch zwischen höchst abstrahierten Theorien und Lebenspraxis, der allein schon die symbolische Einsamkeit argumentativer Diskurse mit höchsten Geltungsansprüchen zeigt. Dies gilt auch für alle Konstruktivismen.

(2) Imaginär tritt eine weitere Kränkungsdimension hinzu. Im Begehren auf andere gelten auch für Diskurse eine Begrenzung des Anspruches und eine Motivierung der Intentionen. Nun gilt aber gerade für Diskurse, dass sie in der Regel als symbolische Diskurse, als Diskurse des Wissens und der Universität erscheinen, die den Blick auf Beziehungen (andere im Begehren) ausschließen. Damit wird auch die Interaktion stets nur halb – wenn überhaupt – erfasst: Sie bleibt auf symbolische Interaktion begrenzt. Genau dies aber versucht der hier vorgelegte Ansatz zu verhindern. Die imaginäre Seite der Interaktionen subvertiert alle symbolischen Leistungen. Es ist eine Subversion, die in Spiegelungsvorgängen wurzelt und bewusste wie auch unbewusste Teile enthält. Imaginär verhält sich der Mensch zwar auch zu Dingen, aber er nimmt diese ursprünglich immer im Blick auf andere wahr. Erst die Verselbstständigung der Dinge, ihre Herausnahme aus den Spiegelungen, weckt in ihm die Illusionen einer einsamen, isolierten Imaginations- und Wunschwelt, die allen Anderen fremd bleiben muss. Doch wie soll man eine Imagination ohne ein Begehren nach den Blicken der anderen verstehen können? Wie soll man, auch wenn die Spiegelungen uns durch Vergessen und Verdrängen oft abhanden gekommen sind, verstehen, weshalb für alle Vorstellungen ein Verlangen nach Anerkennung gilt? (Vgl. dazu die Argumentation für die zweite Kränkungsbewegung in Band 1 und Kapitel II.3.5).

(3) Das Reale schließlich tritt als Grenzbedingung und weitere Kränkung hinzu. Jegliche Letztbegründung von Diskursen wird durch das Erscheinen jener Lücken ge­kränkt, die nicht vorhersehbar waren. Die Vorhersehbarkeit müsste abgeschlossen und vollendet werden, aber gerade dies ist in der Geschichte der Diskurse nie gelungen. Auch die Versuche von Habermas und Apel scheitern an diesem Ver­such, weil ihre symbolischen Lösungen imaginär und real subvertiert werden.
Diese Subversion setzt allerdings einen neuen Beobachterstandpunkt voraus. Denn dies ist genau die Eigenart diskursiver Beschränkungen, dass erst aus der Vorverständigung einer Gemeinschaft von Verstehenden sich Perspektiven ableiten lassen, die beim Anderen Grenzen vorfinden, die dieser nicht sieht und nicht sehen kann. So stehen sich die Kritiker gegenüber. Ihre Argumente grenzen ein und schließen aus. Aber allein ihr Auftreten ist schon Indiz dafür, dass die unterstellte Einheit letzter Argumentationsfiguren einer rationalen Verständigung in die Möglichkeiten gemeinsamer und unterschiedlicher Verständigungen zerfällt. Es bleiben uns nur noch Spielregeln, die klären helfen, wie wir die Debatten und Diskurse führen. Aber diese Regeln sind im Gegeneinander der Diskurse nicht mehr argumentationsfähig als letzter Geltungsanspruch eines Diskursbereiches, sondern nur noch als Beanspru­chung unterschiedlicher und widersprüchlich akzeptabler Diskurse und der Macht, diese durchzusetzen.
So sind Beobachter immer auch Teilnehmer von Verständigungsgemeinschaften. Die Qualität ihrer Erwägungen, ihrer Rationalisierungen wie ihrer Wünsche und Handlungen mag je nach Beobachterstand wechseln, aber sie werden nie aus einer Verständigungsgemeinschaft entlassen. Diese selbst aber ist kein monolithisches Unternehmen, keine Einheit einer wissenschaftlichen Gemeinschaft mehr, sondern zerfällt in die Pluralität von Ausschließungen, Abweichungen, Modifizierungen, die an der Seite von großen Theorieschulen mit ihrem Harmonisierungsstreben stehen. Leichter als für wissenschaftliche Gemeinschaften geben wir dies für die Beziehungswirklichkeit zu. Aber wir müssen auch zugeben, dass jeder Wissenschaftler in Beziehungen steht. Nur durch die übliche Zumutung einer Begrenzung seines Beobachtens und Handelns aus dem Vorverständnis seiner Lebenswelt heraus wird er wissenschaftlich arbeiten können. Aber die Lebenswelt mutet den Beobachtern auch eine Unterschiedlichkeit von Beobachtern zu.

Zu Beginn des Kapitels über die Beziehungslogik habe ich drei Schwierigkeiten festgestellt, unter denen die Beziehungswirklichkeit beobachtet wird:

(1) Das Theorie-Praxis-Problem: In Beziehungen reden, denken, handeln und fühlen wir anders als in Beobachtungen über Beziehungen, die von außen angestellt werden. Theorien greifen nur begrenzt, um die Praxis von Beziehungen zu erfassen. Dies habe ich in den vorangehenden Abschnitten in vielfacher Weise diskutiert und belegen können. Die Teilnehmer in Beziehungen bilden zwar Theorien über ihr reales und virtuelles Handeln, aber diese Theorien sind im experience – in den Praktiken, Routinen und Institutionen von Beziehungen – oft widersprüchlich, ambivalent, offen. Zu den symbolischen Leistungen treten stets imaginäre hinzu, die vor allem Projektionen motivieren und Virtualisierungen – als Hineinversetzen oder Hineinversetztwerden in Andere – ermöglichen. Die symbolische Begrenzung durch Theoriebildung ist zwar für Beziehungen notwendig, aber nie hinreichend. Der Diskurs der Beziehungswirklichkeit unterscheidet sich fundamental von einem Diskurs des Wissens (vgl. weiterführend Kapitel IV.4). Je mehr wir von Beziehungen erfahren wollen, desto stärker müssen wir uns der Praxis von Beziehungen zuwenden. Dies erfordert, die Selbstbeobachtungen in Beziehungen zu stärken und theoretisch voreingenommene Verallgemeinerungen durch Theorien nicht überzubewerten.

(2) Die Interaktion:  Das interaktive Verhältnis, das grundlegend für alle Beziehungen ist, erfordert ein zirkuläres Beobachtungsmodell, das uns als Beobachter immer wieder überfordert. Deshalb waren Überlegungen zur zirkulären Beobachtungslogik, die sich als Psychologik erwiesen hat, für mich entscheidend, um thesenhaft Möglichkeiten als auch Grenzen in diesem Beobachtungsraum zu unterscheiden. Gerade die Interaktionen subvertieren jene verobjektivierten Ansprüche, wo das vermeintlich einsame und monadische Individuum noch meinen könnte, eine beste oder letzte Position der Beobachtung einzunehmen.

(3) Die Unschärfe der Beobachtungen: Sie wirkt im Raum der Beziehungen noch stärker als in den Kränkungsbewegungen der wissenschaftlichen Sichtweisen. Beziehungen können nicht so eindeutig operationalisiert, so begrenzt symbolisiert, so systematisch unter Ausschlussbedingungen reguliert werden, wie die Objektivierungen der wissenschaftlichen Welt. Aber Beziehungen subvertieren über die Verständigungsgemeinschaften auch jene wissenschaftlichen Diskurse, die sich frei von den Unschärfen der Psychologik wähnen.

Wenn ich immer wieder auf das Wechselspiel von Beziehungen und wissenschaftlichen Perspektiven über diese abgehoben habe, dann stellte sich mir bereits ein lebensweltlicher Zusammenhang, den ich weder in den Kränkungsbewegungen noch für die Beziehungswirklichkeit bisher hinreichend thematisiert habe. Im nächsten Kapitel will ich mich daher explizit der Lebenswelt zuwenden, um die bisherigen Analysen zu relativieren und in andere Perspektiven zu stellen.


1 Zur interaktionistisch-konstruktivistischen Unterscheidung zwischen Besser- und Mehrwisser vgl. Reich (2005, Kap. 11).

2 Vgl. dazu die interaktionistisch-konstruktive Diskurstheorie weiter unten in Kapitel IV.

3 Diese Kritik bezieht sich vorrangig auf die Transzendentalpragmatik von Apel und anderen. Vgl. dazu hier online meine Auseinandersetzung mit diesem Ansatz.

4 Ich nehme hier knapp nochmals die Argumentation aus Band 1 wieder auf.

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