Kersten Reich: Die Ordnung der Blicke. Band 2: Kapitel IV.1

   

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IV.  Lebenswelt als Welt- und Produktionswirklichkeit

 

1. Die Unschärfen der Lebenswelt und das Primat der Perspektivität

Der Begriff Lebenswelt verweist auf eine Welt, in der sich Menschen interaktiv immer schon bewegen, wenn sie engere (auch wissenschaftliche) Beobachtungen anstellen oder Beziehungen eingehen. Dieser Begriff ist ein Konstrukt, um in durchaus unterschiedlicher Akzentsetzung auf das Problem aufmerksam zu machen, dass die je subjektiven, singulären Ereigniswelten der Subjekte immer auch in einen Kontext eingebunden sind, der überhaupt erst definieren hilft, was als subjektiv und singulär oder auf der Gegenseite als historisch notwendig und invariant gesetzt werden kann. Unterschiedliche Konzeptionen, dieses Problem zu bewältigen, finden wir beispielsweise in der Phänomenologie des späten Husserl, in den Lebensformanalysen des späten Wittgenstein und in den Betrachtungen zu System und Lebenswelt bei Habermas (vgl. zum Konzept der Lebenswelt Habermas 1988, II, 182 ff.). In relativ einfacher Weise hat Schütz das Problem, um das es hier geht, beschrieben: „Die Wissenschaften, die menschliches Handeln und Denken deuten und erklären wollen, müssen mit einer Beschreibung der Grundstrukturen der vorwissenschaftlichen, für den – in der natürlichen Einstellung verharrenden – Menschen selbstverständlichen Wirklichkeit beginnen. Diese Wirklichkeit ist die alltägliche Lebenswelt.“ (Schütz/ Luckmann 1979, 25)
Meine konstruktivistische Analyse kann einen solchen Anspruch in Richtung Beziehungswirklichkeit präzisieren helfen. Da die wissenschaftliche Welt immer auch eine Beziehungswirklichkeit impliziert, da sie zudem in ihren jeweiligen Perspektiven unterschiedliche Unschärfen der eigenen Setzungen als Kränkungen ihrer Ansprüche erkennen muss, reicht es kaum mehr hin, Wissenschaftlichkeit gegen die Lebenswelt zu setzen. Die Wissenschaften sind längst mit der Lebenswelt, in der Beziehungen sich abspielen, verflochten. Oder anders gesprochen: Es ist hier allein vom Beobachterstandpunkt abhängig, überhaupt eine Unterscheidung nach Wissenschaft und Lebenswelt vorzunehmen.
Der interaktionistische Konstruktivismus sieht die Beziehungswirklichkeit als einen Beobachterraum, der sich ständig mit einer engeren (hier wissenschaftlichen) Beobachtungswelt und einer weiteren (offeneren) Lebenswelt überschneidet. Hier wirkt ein Primat der Perspektivität: Es hängt überhaupt von den gewählten Perspektiven bestimmter Beobachter in bestimmten Verständigungsgemeinschaften (damit auch bestimmter Teilnahme) ab, welche Bevorzugungen welcher Welten sie als Akteure wählen. Allerdings sind diese Wahlen nicht ganz so freiwillig, wie es vielen Konstruktivisten aus einer überwiegend subjektivistischen Sicht erscheint. Dies liegt an der Vorgängigkeit der Lebenswelt, wie es insbesondere Habermas herausgearbeitet hat. Was bedeutet diese Vorgängigkeit?
Wir müssen anerkennen, dass alle Konstruktionen von Lebenswelt immer schon eine  rekonstruierte Lebenswelt voraussetzen: Das Kind erfindet sich seine Sprache, aber es findet schon eine Sprache vor; wir verändern eine Praktik in unserer Beziehung, aber wir leben immer schon in Praktiken; wir entdecken eine neue Art der Begegnung, aber diese steht immer schon in einem Wechselspiel zu anderen Routinen; wir konstruieren eine neue Institution, aber diese steht neben anderen Institutionen und hat ihre institutionelle Geschichte. Alle diese Beispiele setzen  auf ein neues Erfinden, auf ein eigentliches Neu-Konstruieren, aber sie zeigen im Rahmen einer Lebenswelt immer auch die Macht der Rekonstruktionen.
Es hängt nun ganz vom Primat der Perspektivität ab, was wir mehr betonen: das konstruktive oder das rekonstruktive Geschehen. Dies teilt übrigens oft gerade Konstruktivisten in zwei Lager: Die psychologisch orientierten Therapeuten orientieren sich mehr auf die Konstruktionen, um hierüber in der Therapie die Veränderung bestehender Systeme zu betonen; die soziologisch orientierten Systemtheoretiker hingegen favorisieren Rekonstruktionen, die uns verstehen lassen, was bereits geschehen ist und deshalb geschehen wird oder könnte.
Schauen wir zunächst bevorzugt auf die Rekonstruktionen. In der neueren Soziologie ist es üblich geworden, die gesellschaftliche Modernisierung entweder als funktionale Differenzierung gesellschaftlicher Systeme oder als Enttraditionalisierung der Lebenswelt zu beschreiben (vgl. Habermas 1991a, 234 ff.). Das Projekt der Moderne hat sich besonders im Wirtschaftssystem über Arbeits-, Kapital- und Warenmärkte ausdifferenziert, wobei sich die Differenzierung zwischen Gesellschaft und Staat, zwischen Bürokratien und machtgesteuerten Systemen der Verwaltung als funktionale Ausdifferenzierung in spezialisierte Teilsysteme darstellen lässt. Solche Ausdifferenzierungen führen zu allerlei Problemen, die der technisch-wissenschaftliche Fortschritt bei gleichzeitiger Differenzierung des Wirtschaftssystems mit sich bringt. Die differenzierten Subsysteme gewinnen eine eigene Mächtigkeit und scheinen in ihrer Entwicklung selbst kaum noch kontrollierbar; ihre Leistungen sind schwer in ihrer Umweltbedeutung erfassbar und in ihrer Komplexität kaum noch kommunikativ überschaubar; die Systeme selbst werden damit zu künstlichen Agenzien nicht nur bei der Bewältigung von Lebensprozessen, sondern führen ihrerseits auch zur Produktion von Krisen, die den lebensweltlichen Beobachtern erscheinen. Zu diesen und weiteren Aspekten der Ausdifferenzierung hat z.B. Luhmann (1987) gearbeitet, indem er besonders den funktionalen, entsubjektivierten Rahmen betonte (vgl. zu Luhmann auch Band 1 Kap. II.2.5). Die Enttraditionalisierung, die besonders von Theoretikern der Postmoderne (oder den verschiedenen Varianten dieses Denkens als Spätmoderne, flüssige Moderne, reflexive Moderne) bearbeitet wurde, bedingt eine Zersetzung religiöser Weltbilder, ein Ende der großen Entwürfe und weltanschaulichen Leitlinien, die durch Tradition gegeben sind, gleichzeitig aber auch die Aufrichtung neuer, versachlichter Ideale, die eine gesellschaftliche Funktionalität im Rahmen von Komplexität und Waren- und Wertevielfalt garantieren sollen (eine gute Zusammenfassung all dieser Sichtweisen gibt Bauman in seinen Arbeiten).
Wir können die Modernisierung aber auch unter einer anderen Perspektive beschreiben. Es ist dies die Perspektive, dass die Beobachtungswelt im engeren Sinne die verdinglichende, herstellende und kausal orientierte, die auf Determinismus und Produktivität linearer Ereignisse bezogene technisch tätige Welt, die mit Waren und Sachen beschäftigt ist, immer mehr in den Vordergrund rückt, um sich die Welt der Beziehungen mit ihrer Vielfalt von lebendigen Prozessen untertan zu machen. Zumindest ist es auffällig, dass in den menschlichen Beziehungen Veränderungen aufgetreten sind, die den Menschen zunehmend mehr aus dem Verband einer sozialen Umwelt in Sippen und Gemeinschaften, in größeren Familien herausstoßen, und einem autonomen Dasein als isolierter Konsument bei gleichzeitiger normativer Einbindung in gesellschaftliche Praktiken, Routinen und Institutionen, durch die er in seinen Handlungen zur Rechenschaft gezogen wird, einverleiben. Um Konsument zu sein, bedarf es andererseits des Menschen auch als Produzenten. Für diesen beschreibt Marx in seinen Entfremdungsthesen ebenfalls einen Sinnverlust. Es ist ein Verlust an unmittelbarer Teilnahme, an einer direkten Partizipation des Akteurs, der sich beobachtend abhängig vom jeweils Dritten sieht, das ihn als Mensch von der Ware und ihren Aneignungsformen trennt oder unterscheidet: Sei es, dass er als Produzent nur noch Lohnarbeit verrichtet, indem er Waren produziert, die ihm nicht mehr gehören oder zugerechnet sind; sei es, dass er als Konsument nur die Waren kaufen kann, die seinem Lohn entsprechen und die ihm damit nach gesellschaftlichen Ausbeutungs- und Aneignungsformen  zugerechnet sind. Entfremdung des Subjekts bedeutet, dass er weder als Produzent noch als Konsument das unmittelbar genießen kann, was er selbst hergestellt hat und dass überhaupt die Unmittelbarkeit nicht mehr zugerechnet werden kann. Diese Unmittelbarkeit zurückzugewinnen und die Entfremdung abzustoßen, dies erscheint wie ein romantisches Ideal, das seine ursprüngliche Liebe sucht. Aber wie kann dies in einer arbeitsteiligen Welt, die allen Reichtum ihrer Warenwelt in Differenzierung, Aneignung, Ausbeutung gewinnt, noch vorstellbar sein? Es wird nur vorstellbar als Utopie, als ein Prinzip Hoffnung, dessen gelebte Formen in der Nachfolge von Marx aber nicht die Mechanismen überwinden konnten, die  Grund zur Hoffnung geben würden. So wird die Dekonstruktion des Marxismus, wie wir sie z.B. bei Ernesto Laclau und Chantal Mouffe finden (vgl. 1991), zum Ausgangspunkt einer ernüchterten Sicht, die zwar kritisch gegen die Entfremdung und Ausbeutungsformen bleibt, aber nicht mehr euphorisch gegenüber Universalansprüchen und Revolutionsidealen ist. Die menschlichen Beziehungen sind stärker von  den Formen durchdrungen, aus denen sie fliehen müssten, wenn sie die Entfremdung in ihrer reinen, theoretischen Form sehen wollten. Aber wollen sie es sehen?
Die Chancen der Individualisierung locken mehr denn je. Die Entbettung aus Traditionen eröffnet neue Freiheitsräume und die klassischen Entfremdungsformen von Aneignung und Ausbeutung entschwinden im neuen Panorama der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten. Entbettung bedeutet zwar auch eine Ausstoßung aus einer Mehrgenerationenperspektive, die Auslöschung eines Lebens im emotionalen Verbund von großen Familien oder Gemeinschaften, sie bedeutet damit einen Bindungsverlust, aber zugleich den Gewinn an neuen Freiheiten und Möglichkeiten. Als Erinnerung bleiben die  Bindungssehnsüchte von Kleinfamilien, die immer mehr überfordern, wenn die Freiheiten so betont werden. Die Arbeiten von Zygmunt Bauman sind für eine solche Analyse prototypisch geworden. Sie betonen die Verflüssigung unserer Lebensverhältnisse und Lebenswelt, sie zeigen die Symptome nach Chancen und Risiken auf, aber sie suchen nicht mehr in einer kapitalistischen Grundkonfiguration die Ursache allen Übels oder die Chancen aller Veränderungen. Statt großer Theorie gibt es viele Beispiele, gibt es das, was wir in der Lebenswelt erfahren – als Möglichkeiten, Unterschiede, Heterogenität, Diversität, Pluralität, Multikulturalität usw., die sich als widersprüchlich bis ambivalent erweisen. Damit sind Perspektiven bezeichnet, die auf der Phänomenebene der Lebenswelt ebenfalls das Thema der Unschärfe uns vor Augen führen, wie es für die Wissenschaften in Band 1 in Form der Kränkungsbewegungen bereits bearbeitet wurde.
In der Lebenswelt wirkt in der Verflüssigung der Moderne besonders das Konstruktive, das auf den Rekonstruktionen der Moderne und ihrer Hoffnungen aufsetzt, diese dekonstruiert und neu orientiert. Deshalb wende ich mich nachfolgend der heute zentralen Lebensweltideologie zu: Sie soll für alle Optionen dienlich sein und möglichst wenig Zwang auf die Freiheit des Individuums ausüben. Die damit verbundenen phänomenologischen Blicke können nur eine Einleitung in das Thema sein. Anspruchsvoller wird dann in den folgenden Kapiteln zu fragen sein, inwieweit wir systematisch die Lebenswelt aus konstruktivistischer Sicht bearbeiten könnten oder sollten.

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