Kersten Reich: Die Ordnung der Blicke. Band 2: Kapitel IV.4

   

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4. Argumentationsfiguren einer interaktionistisch-konstruktiven Diskurstheorie

Beobachter, die sich miteinander rekonstruktiv verständigen, bedienen sich bestimmter Kontexte, Inhalte, die argumentativ benutzt werden, bestimmter Intentionen und Rede- oder Schreibweisen, auch dialogischer oder monologischer Formen, die sich als Ausdrücke eines Mit- und Nebeneinander, eines Zugleich und Nacheinander unter dem Begriff Diskurs zusammenfassen lassen. Diskurse, das sind Abfolgen von Ideen, Aussagen, Inhalten, die zu einer bestimmten Formation geronnen sind, also mithin Konstrukte, die so weit sicher in insbesondere wissenschaftlichen Verständigungsprozessen von Beobachtern, Teilnehmern und Akteuren gebraucht werden, dass es lohnt, sie mit einem eigenen Etikett zu versehen. Hierbei sind Diskurse in einer Warengesellschaft durchaus gängige Waren oder Ladenhüter, was jeweils durch den Gebrauch und vorhandene Moden – also durch die Beobachter und Benutzer selbst – entschieden wird. Aber warum lohnt das eigene Etikett?
Diskurse, so sehen wir z.B. bei Foucault und Lyotard, sind mehr als Sprechakte, mehr als Dialoge oder Gesprächsgefüge und -abläufe, die scheinbar zufälligen Regeln unterliegen. Sie sind eingebunden in eine „Ordnung der Dinge“ (Foucault), die bestimmt, was jeweils gesagt werden kann und was nicht. Sie sind Ausdruck des „Widerstreits“ (Lyotard), weil für die Diskurse doch nie entschieden werden kann, wer in irgendeinem Streit auf Dauer Sieger sein wird. Diskurse sind daher nie nur Diskurse. Sie sind nicht die Möglichkeit, sich auf reine Reden oder Texte zurückzuziehen, um von diesen aus zu rein sachlichen Entscheidungen im Sagen gegen das bloße Meinen zu gelangen. In ihnen sind vielmehr Aussagen verkörpert, die zwar in ihrem Sprachspiel interessant sein mögen – also z.B. sprachwissenschaftliche Arbeiten über sie geradezu herausfordern –, aber darin doch nie aufgehen. Deshalb sind Diskurse für Beobachter und für eine Beobachtertheorie stets interessant und grundlegend:

  1. Rede- und Textmengen, Rede- und Textbereiche wie Rede- und Textpraktiken stellen sich in Aussagen dar, die zu Diskursen anwachsen, weil und insofern Diskurse Regeln enthalten, die bestimmen, was jeweils aus einer symbolischen Ordnung heraus gesprochen werden kann und welcher Kon-Text vorliegt;
  2. damit sind Diskurse ein anderer Ausdruck für eine symbolische Ordnung, die Unterschiede schafft, indem sie Unterschiede durch ihre Regeln festsetzt; insoweit können wir Diskursregeln und Diskurse selbst re/de/konstruieren;
  3. es sind Figurationen, die bewusst oder unbewusst gelten mögen, sofern sie überhaupt nur gelten: Diskurse sind Verständigungsoptionen auf Zeit in einer und für eine Verständigungsgemeinschaft, obgleich ihre Hintergründigkeit nicht unbedingt der Verständigungsgemeinschaft selbst klar und deutlich sein mag, wie Analysen aus dem Blick anderer Verständigungsgemeinschaften belegen können, die sich im Nachhinein oder Nebeneinander mit Diskurspraktiken be­schäftigen.

Diese sehr weitläufige Bestimmung verdeutlicht, dass nach (a) Diskurse bloß eine Ergänzung gegenüber Theorien, Ideologien, Ideensystemen usw. dar­stellen, wobei allerdings der Begriff Diskurs stärker auf den Fluss der Dinge, den Lauf der Verständigung als reflektierte Prozedur verweist. Nach (b) behaupten wir aufgrund vorliegender Diskursanalysen, dass es gerade Diskurs­theoretikern nicht gelungen ist, eine universelle Diskursordnung oder ein überall gültiges Regelwerk zu etablieren, sondern dass die Arbeiten über Diskurse gegenwärtig vielmehr in ihrem Nach- und Nebeneinander nachweisen, weshalb eine einheitliche symbolische Lösung scheitert. Aus einer Metaperspektive geschaut sind Diskurstheorien so in ein nachmetaphysisches Denken gedrängt und sie werden hier zu einer ausgewiesenen Stelle für re/de/kon­struk­tivistische Neubesinnung auf plurale Ausgangspunkte. Die Positionen (a) und (b) habe ich in den Kränkungsbewegungen in Band 1 exemplarisch zu erörtern ver­sucht. Nach (c) schließlich eröffnet sich ein weites Beobachtungsfeld, das Blicke, Handlungen, symbolische, imaginäre oder reale Ord­nungen aller Art einschließt, sofern wir die Perspektive einnehmen, herauszubekommen, welche Figurationen selbst bestimmend und generierend für das sein mögen, was jeweils als Teilnahmevoraussetzung vorausgesetzt wird. Hier wird unter Umständen alles zu einem Diskurs, also auch das, was sich vielleicht im Selbstverständnis ganz anders versteht, und jeder Diskurs wird dadurch in Frage gestellt, dass er als Diskurs identifiziert wird. Foucault untersuchte z.B. insbesondere, welche Macht in welchen Formen in Diskursen auftaucht, mit welchen Wirkungen sie sich verbündet, weil das Sagen selbst genau dieses verbirgt: Wie selbstverständlich wird in den Diskursen gesprochen und geschrieben, ohne dass die Sprechenden oder Schreibenden noch wissen müssen, was sie warum aussagen und welche Hintergründigkeit sie pro­duzieren. Hier nimmt der Beobachter und der Akteur das als selbstverständlich an, was er beobachtet oder agiert, ohne noch auf seine Teilnahme immer hinreichend als gesetzte Vorverständigung zu reflektieren. Dies habe ich in diesem Kapitel bereits ausführlich thematisiert.
Damit nun sind hinlänglich Bezugspunkte angeführt, um eine interaktionistisch­konstruktive Diskurstheorie in Angriff zu nehmen. Sie wird Argumentations­figuren auf­weisen, die als Sprachspiel formuliert werden, um im Gebrauch von Beobachtern Relevanz aufzuweisen. Solche Relevanz ist jeweils Ausdruck einer Verständigungsgemeinschaft, die wir dadurch eingehen, dass wir uns diskursiv einigen, damit auf Positionen einer Teilnahme einlassen. Und sie zeigt sich in Handlungen, die wir hierbei als Akteure praktizieren. Keine Theorie – auch eine konstruktivistische nicht – sollte ohne solche Argumentationsfiguren der Beobachtung, Begründung und Geltung auskommen, weil sich so in der pluralen Verständigungswelt Vergleiche besser anstellen lassen. So mögen wir besser erkennen und bestimmen lernen, welche Viabilität welcher Ansatz zu welchen Fragen einnimmt.  Und der Diskursbegriff verdeutlicht zugleich, dass wir uns als Beobachter jeweils Begründungs- und Folgelasten aufladen, wenn wir argumentieren (re/de/konstruieren).
In diesen Perspektiven sind Diskurse für den interaktionistischen Konstruktivismus immer auch Phänomene der Lebenswelt. Sie gehören allen Beobachtungen in der Lebenswelt an, ohne dass alle Beobachtungen in der Lebenswelt allerdings reflektiert diskursiv ablaufen müssen.
Nach (a) will ich den Diskursbegriff in der konstruktivistischen Theoriebildung verankern, um gezielt an solche Arbeiten wie die von Foucault, Lyotard und anderen anzuknüpfen, deren Analysen uns insbesondere bei rekonstruktiven und dekonstruktiven Versuchen unterstützen können, um für Verständigungsgemeinschaften relevante Ereignisfolgen beobachtend zu beschreiben, ohne ins meta­physische Denken oder in universelle Ansprüche an die Verständigungsgemeinschaft selbst zurückzufallen. Dabei wird für mich zugleich ein lebensweltlicher Zusammenhang immer bedeutsam sein.
Nach (b) werde ich nicht umhin können, den Beobachter deutlicher in seiner Gefangenschaft bestimmter Regeln zu zeigen, die durch die Klammern der Diskurse erzwungen sind. Es gibt bei allen Diskursen unvermeidlich bestimmte Plätze der Beobachtung, bestimmte Perspektiven, die reduktiv und ausschließend sind, bestimmte Typisierungen, die Beobachter von Beobachtern festhalten können. Zwar werden keine der nachfolgend betrachteten Regeln universelle Gültigkeit annehmen, aber gleichwohl ein re/de/konstruktives Sprach- und Denkspiel gestalten, das in der Behauptung gipfelt, dass wir – ganz gleich welchen Ansatz wir in unseren Sprach- und Denkspielen auch wählen mögen – im Blick auf Verständigungsgemeinschaften nie irgendeiner diskursiven Formation und damit bestimmten Teilnahmebedingungen in unseren Aktionen entkommen, wenn wir die Regeln der Erzeugung bestimmter sprachlicher Muster oder anderer Muster eines komplexer geregelten symbolischen Zusammenlebens beachten und erkennen wollen. Deshalb lohnt es, formative Überlegungen in das Spiel der Beobachter einzuführen und zu sehen, was geschieht.
Dabei gehe ich in vier Schritten vor: Zunächst ziehe ich Konsequenzen aus den bisherigen lebensweltlichen Erörterungen, indem ich der konstruktivistischen Verständigungsgemeinschaft „Mindestanforderungen“ bei lebensweltlichen Reflexionen empfehle, um die Diskussion der bisherigen Kapitel auf ein Modell zu beziehen, das insbesondere bei sozialen Konstruktionen von Relevanz ist und das den Konstruktivismus als in die soziale Lebenswelt eingebunden aufweist (4.1). In einem zweiten Schritt führe ich in allgemeiner Hinsicht eine konstruktivistische Diskurstheorie ein, in der Plätze und Besetzungen vergeben werden, die uns möglichst umfassende Perspektiven im Blick auf Diskurse erlauben und vorrangig zur Re/Dekonstruktion von Diskursen herangezogen werden können. Damit versuche ich Meta-Perspektiven zu erschließen, die helfen können, diskursive Praktiken näher zu erfassen (4.2 bis 4.5). Schließlich erörtere ich kurz die Grenzen der hier aufgestellten konstruktivistischen Diskurstheorie (4.6).
Nach (c) wird es gewiss Beobachter geben, die in diesem Spiel einen Ernst, eine Hintergründigkeit, einen Verlust, eine Verkennung oder anderes erkennen, das mir entgehen mag. Dies ist einkalkuliert und erwünscht: Müsste ich doch sonst als Beobachter behaupten, letzte Wahrheiten über Diskurse gefunden zu haben, was einer Paradoxie gleichkäme, insofern Diskurse sich mit dem Lauf der Dinge und Beziehungen, mit den Menschen selbst verändern. Die Rache der jeweils bestehenden Diskurse aber ist es, dass sie ja dafür gemacht sind, uns genau dies zu verbergen.

 

4.1. Mindestanforderungen an ein konstruktivistisches Lebensweltmodell

Die Objekt-, Macht- und Beziehungsfallen betreffen drei Beobachterperspektiven, die mir vorrangig erscheinen, wenn wir konstruktivistisch die Lebenswelt wahrnehmen und deuten wollen. Diese Perspektiven sind ein Konstrukt. Es deckt sich teilweise mit Konstrukten, die insbesondere in den Sozialwissenschaften gegenwärtig relevant sind. Hier gibt es unterschiedliche Beobachtermodelle, um einen empirischen und theoretischen Rahmen der Beschreibung des Verhältnisses und der Vermittlung individueller und gesellschaftlicher Perspektiven in der Lebenswelt zu bezeichnen und zu deuten. Solche Modelle sind für einen kulturhistorisch orientierten konstruktivistischen Ansatz sehr wichtig, weil sie eine symbolische Deutung ermöglichen, die an der Schnittstelle zwischen Beobachter und Beobachtung ansetzt und diese differenziert. Unter teilweisem Bezug auf vorliegende Modelle von Giddens (1995), Bourdieu (1987, 1993) und Habermas (1988) will ich einen eigenen Ansatz ableiten, der für mich ein interaktionistisch-konstruktivistisches Grundmodell – ein Beobachtungsmodell – bezeichnen soll, mit dem Phänomene der Lebenswelt analysiert werden können. Dabei geht es mir um die Beschreibung eines Beobachterkonstruktes, das Mindestanforderungen aus human- und sozialwissenschaftlicher Sicht setzt, die weiter differenziert oder modifiziert werden können. Als Konstrukt thematisiert es Beobachterperspektiven, die ich für sinnvoll halte, aber nicht die ausschließende Notwendigkeit nur dieser Mindestanforderungen. Es bleibt der Prüfung durch Verständigungsgemeinschaften überlassen, inwieweit sie mit Hilfe dieses Konstrukts Lebensweltphänomene breiter, offener oder eben anders als mit anderen Modellen interpretieren können. Für einen Konstruktivismus, der sich kulturtheoretisch und sozial weit definieren will, erscheint mir eine Festlegung von Mindestanforderungen aber zugleich als wichtig, um einen gemeinsamen Stand von Verständigung zu erzeugen. Mindestanforderungen bezeichnen dabei keine Universalien, sondern Fragestellungen, die beachtet werden sollten, also eine Sollensforderung, einen Wunsch, eine Selbstverpflichtung. In der Praxis wird hieraus ohnehin nur eine Möglichkeit, eine Chance, oft eine vertane Gelegenheit.
Die nachfolgende Spezifikation von Beobachterperspektiven schließt die bisherigen diskurstheoretischen Überlegungen dieses Kapitels ein. Dies bedeutet, dass das nachfolgend zu entwickelnde Modell mindestens die Spannungen von Subjekten in Aktionen (Ereignissen), von Beziehungen und Inhalten, von Sinn  und Werten in unter­schiedlicher Verständigung und in den Setzungen unterschiedlicher Verständigungsgemeinschaften, von Wahrheit und Wissen als Objektivationen mit Machtansprüchen, von Normen und Geltungen nach den Legitimationen bestimmter (pluraler und widerstreitender) Verständigungsgemeinschaften umfasst. Ein solches Modell dient dabei überwiegend der Re/Dekonstruktion von Diskursen und betont die soziale Konstruktion von Wirklichkeiten. In einem weiteren Schritt werde ich nachfolgend dieses einführende Modell in Kapitel IV.4.2 erweitern und als eine umfassendere konstruktivistische Diskurstheorie ausarbeiten.
Zur Orientierung über die Argumentation soll das hier gezeigte Übersichtsschaubild zu den Mindestanforderungen dienen:


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Abbildung: Mindestanforderungen an ein konstruktivistisches Lebensweltmodell

Die Grundvoraussetzung dieses Modells ist das Wechselspiel zwischen Beobachtern und Beobachtungen (vgl. dazu Band 1, Kapitel I). Beobachter sind alle Subjekte, die in die Wahrnehmung, in die Re/De/Konstruktionen von lebensweltlichen Vorgängen eingreifen und diese – in welcher Form auch immer – bearbeiten. Geschieht diese Bearbeitung in Form von Verständigung, die bestimmte Gegenstände und Prozeduren des Beobachtens erforderlich macht, dann kommt kein Beobachter ohne den Bereich der Beobachtung aus.
Beobachtungen sind Festlegungen in einem verständigenden, kulturellen Kontext. Hinter den Beobachtungen stehen also immer auch Handlungen und Teilnahmen an Vor/Verständigungen.
Schauen wir näher auf die Wirkungsebene der Beobachtungen, die Beobachter vornehmen, dann fällt auf, dass mindestens zwei Leistungen durch Beobachtung erforderlich werden, wenn wir in eine lebensweltliche Argumentation übergehen.
Beobachter erzeugen sehr unterschiedliche Beobachtungen, aber als Verständigungsgemeinschaft bestimmter (hier z.B. sozialer) Beobachter halten sie sich in der Regel zwei Aspekte fest, die dann als Voraussetzung von Beobachtungen benötigt werden. Oder sagen wir es praxisbezogener: Jeder, der neu in soziale Beobachtungen eingeführt wird, ist immer schon mit diesen zwei Voraussetzungen, die meist stillschweigend gemacht sind, konfrontiert. Sie werden oft automatisch übernommen.
Die erste Voraussetzung möchte ich als das Verhältnis von Element und Struktur bezeichnen. Giddens (1995, 77) sagt, dass Strukturen Regeln, Ressourcen oder Transformationsbeziehungen enthalten, die als Momente sozialer Systeme erscheinen. In solchen Strukturen sind die Momente als Situationen oder die Elemente als eine bestimmte Regelhaftigkeit immer schon geordnet. Ich spreche hier von Elementen, die als Momente in einer beobachtenden Prozedur angesehen werden können. Nehmen wir an, ein Beobachter beobachtet ein kleines Kind beim Spiel. Was ist neben seiner sinnlichen Gewissheit des Augenblicks die soziale Wahrnehmung des Moments, die in seiner Beobachtung liegt? Er benötigt zum Beobachten offensichtlich bereits einen Sinn, eine Intention, eine vorausgesetzte Wahrheit oder Wirkungsannahme, die er als ein beobachtetes Muster von bestimmten Elementen (seiner Wahrnehmung, seiner Intentionen, seiner Perspektiven usw.) – hierbei als eine Struktur – in den Aktionen beobachten kann. Verfügt er nicht über diese strukturelle Kompetenz der Einordnung, der Wahrnehmung in seiner sinnlichen Gewissheit, so erscheint die Welt als ein Chaos von Auchs (von Momenten und Elementen ohne scheinbaren Zusammenhang), in dem keine hinreichende symbolische Ordnung herrscht.
Ein solches Chaos ist in der Wissenschaft nicht erwünscht. Er wüsste dann als Beobachter gar nicht richtig, auf was er achten soll und was zu vernachlässigen wäre. Wissenschaft drängt auf Ordnung aller Elemente in Strukturen. Aber sie unterliegt oft auch dem Problem, dass ihre Akteure meinen, sehr offen für alle Wahrnehmungen und Eindrücke zu sein, geradezu neutral erscheinen wollen, weil sie die vorausgesetzte Struktur, von der sie ausgehen, weder hinreichend reflektiert haben noch überhaupt als Vorverständigung bemerken. Dann wirkt eine unbewusste Vorannahme, die für den Außenbeobachter nicht minder strukturbildend als eine bewusste ist. Der Kritiker erkennt von außen dann die fehlenden Reflexionen auf die Voraussetzungen, die scheinbar neutral den Gegenständen der Wahrnehmung entnommen werden.
Gleichwohl kann die Strukturbildung zu eng werden, so dass wahrgenommene Momente oder Elemente nicht hinreichend mehr zur Geltung gebracht werden können. Dann vereinnahmt die Struktur, die vorausgesetzt wird, zu sehr die Wahrnehmung und bleibt nicht offen genug gegenüber Veränderungen in den wahrnehmbaren Elemente, den Perspektiven, Intentionen usw. Diese Gefahr der Engführung wohnt dem Begriffspaar Element-Struktur immer inne. Es handelt sich daher um eine Begrifflichkeit, die nicht dualistisch aufgefasst werden sollte, sondern die eine grundsätzliche Spannung ausdrückt (vgl. dazu auch nochmals Band 1, Kap. II.1.2).
Die Strukturbildung ist, vor diesem Hintergrund, die Festlegung von relevanten Elementen oder Momenten in der Beobachtung, die zugleich als spätere Voraussetzung weiterer Beobachtungen genommen wird, um wissenschaftliches Beobachten nach den Maßstäben einer Verständigungsgemeinschaft zu organisieren. Sie ist damit ein re/de/konstruktiver Vorgang der Fixierung eines Eins gegenüber den Möglichkeiten der Auchs. Dies haben wir aus der ersten Kränkungsbewegung gelernt: Wissenschaftliches Beobachten und Argumentieren geht nicht ohne diese Fixierung und Ausschließung (die Notwendigkeit der Bestimmung absoluter Elemente im Relativen, was meint, dass zumindest im Blick auf ein Beobachtungsfeld etwas festgelegt wird, auch wenn es nur dermaßen begrenzt als „absolut“ erscheinen kann und ohnehin durch andere Möglichkeiten stets relativiert wird).
Elemente, die wir miteinander kombinieren und, wenn das Chaos sich lichtet, als Strukturen wahrnehmen und die dann gleichsam „dinghaft“ durch unsere Vernunft geistern, sind immer Teil von Beobachtungen. Die Elemente unserer Beobachtungen sind aufgrund von Intentionen im Beobachten immer schon strukturell geordnet. Wir können dies aufgrund der Unterscheidung von Selbst- und Fremdbeobachtern bemerken und korrigieren. Der Beobachter, der das kindliche Spiel beobachtet, kann die bevorzugte Wahrnehmung von Elementen und Strukturgebundenheiten, nachdem er überhaupt erst einmal über seine vorhandene Deutung solcher Elemente und Strukturen nachdenkt und diese nicht bloß naiv als gegeben nimmt, durchaus präzisieren, ergänzen, korrigieren.
Ein Beispiel hierfür ist die Kindern oft zugeschriebene „natürliche“ Verhaltensweise, die noch nicht durch Erwartungen und Einstellungen der Erwachsenenwelt getrübt erscheint. In die Beobachtungen der Kinder durch erwachsene Beobachter  schleicht sich die Welt der Erwachsenen dadurch ein, dass Erwachsene offensichtlich als gesellschaftlich stark geprägt erscheinen. Wenn Kinder sich nicht konventionell in diesem erwarteten Sinne verhalten, so gilt dies den Beobachtern gern als „natürlich“. Aber würden sie genauer beobachten, so dürften sie nicht von Natürlichkeit sprechen und zugleich unterstellen, dass die Erwachsenen diese verloren hätten, sondern müssten bescheidener feststellen, dass es Unterschiede allein in der Beobachtung von bestimmten Konventionen gibt. Kindern, die sich nicht konventionell verhalten, dies als Natürlichkeit zuzuschreiben, ist ein zusätzliches Konstrukt, das durch die Beobachtung selbst nicht gerechtfertigt ist. Es steht zugleich sehr oft in der Erwartung eines Besser oder Schlechter, was die Beobachtungen ebenfalls nicht hergeben. Gerade bei solchen „naturalistischen“ Deutungen ist der Beobachter in der Aussagekraft seiner Beobachtungen gefährdet, weil er als Akteur sich seine eigenen Teilnahmevoraussetzungen (seine verloren geglaubte Kindheit/Natürlichkeit) verborgen hat. Besonders Pädagogen, die vom Kinde aus zu schauen meinten, wurden so immer wieder Opfer ihrer Naivität, weil sie in Kinder eigene Vorstellungen einer Natürlichkeit projizierten, die so auf der Ebene der Natur gar nicht beobachtbar war.
Interessant ist, dass plausible Beobachtungen fast nie aus der sinnlichen Gewissheit selbst heraus geschehen, sondern zugleich Unsicherheiten im vorausgesetzten Strukturmodell erforderlich machen. Beobachter werden nämlich für andere, neue, veränderte Strukturelemente vor allem dann Aufmerksamkeit aufbringen, wenn sie von Theorien wissen, die den Vorgang anders wahrnehmen und deuten. Als besonders problematisch wird der Beobachter seine eigene Theorie dann empfinden, wenn er sie nicht hinreichend mit den Strukturen seiner Theorie verifizieren kann. Aber dies ist meist durch den Einbezug einer Untertheorie störender Bedingungen ausgeschlossen (vgl. Band 1, Kap. II.1.5.2).
Die zweite Voraussetzung nenne ich das Verhältnis von System und Strukturbildung. Für Giddens (ebd.) sind dies reproduzierte Beziehungen zwischen Akteuren (Beobachtern) oder Kollektiven (Verständigungsgemeinschaften), die als regelmäßige soziale Praktiken organisiert werden. Giddens hebt hier als Außenbeobachter auf die Bestimmung sozialer Beziehungen ab. Hier erkennt und bestimmt der Forscher z.B., was er wie erforschen will. Im Sinne einer symbolischen Ordnung bezeichnen Systeme aber auch die paradigmatische Ordnung der Strukturelemente zu einer höheren Gesamtstruktur, einem Ordnungs-Modell, das ein Wissen über Regeln, Bezüge, Beziehungen in reproduktiver oder rekonstruktiver Weise umfasst und das damit den Beobachtern im Feld (also nicht nur dem Forscher, der von außen blickt) vorschreibt, wie sie etwas beobachten sollen. Wir haben es also immer mit einer Verdopplung von Rollen zu tun:

  • als Selbstbeobachter im Feld der Ereignisse unterliege ich immer schon bestimmten Teilnahmeverhältnissen, die meine Aktionen begleiten und eigene Beobachtungen leiten;
  • als Fremdbeobachter mag ich mehr sehen, weil ich von außen auch Teilnahmen entdecke und zuschreibe, die der Selbstbeobachter übersehen hat;
  • aber auch ich kann jederzeit durch einen weiteren Fremdbeobachter in meinem Feld in meinen Voraussetzungen beschrieben und/oder entlarvt werden.

Hier weiß z.B. unser Beobachter, der ein kleines Kind beobachtet, nicht nur von den Wahrnehmungen, auf die er in ihren Elementen und Strukturen besonders zu achten hat, sondern er weiß auch von den Regeln, nach denen er systematisch die Wahrnehmungen diskursiv interpretiert. In symbolischen Systemen, die wir Theorien nennen, sind sowohl für die Inhaltsseite als auch für die Beziehungsseite Regeln (als Bedingungen der Möglichkeit einer Festlegung von Eins und Auch) bestimmt. Diese Regeln betreffen zur Bestimmung eines Systems insbesondere die Raum-Zeit-Verhältnisse und die Normen der Wertung, die festgelegt sind (selbst wenn diese Festlegungen dem wissenschaftlichen Selbstbeobachter entgehen und erst kritisch durch Fremdbeobachter rekonstruiert werden).
Die zweite Voraussetzung macht es allerdings erforderlich, alltägliche und wissenschaftliche Beobachtungen zu unterscheiden. Der alltägliche Beobachter benötigt immer auch eine (zumindest selbst gestrickte) Strukturübersicht, die die Elemente seiner Beobachtungen in eine gewisse Ordnung bringt. In wissenschaftlichen Modellen aber ist hier ein System erforderlich, das wir auch als ein Strukturmodell bezeichnen können. Es besteht nach Kuhn (1976) aus einem paradigmatischen Kern mit unterschiedlichen Variationsmöglichkeiten.
Mit diesen Bestimmungen habe ich ein Konstrukt entworfen, das typisch für eine diskursive Verständigung ist. Wir setzen eine bestimmte Abfolge von Ideen voraus, schließen andere aus, lassen etliches fort, um einen Rahmen für Interpretationen zu gewinnen. Aber kann sich dieser Diskurs auch in der Verständigung bewähren? Für wen ist er viabel? Dies erfahren wir erst, wenn wir uns das Verhältnis von Prozedur und Inhalten näher ansehen.
Betrachten wir den oberen Teil meines Schemas noch einmal im Zusammenhang: Beobachter und Beobachtungen stehen in einem Wechselverhältnis, wobei es immer neue Beobachter geben kann, die vorherrschende Beobachtungsmuster aufnehmen oder verändern. Beobachtungen haben gegenüber Beobachtern ein gewisses Beharrungsvermögen, sofern sie (a) alles Beobachten auf bestimmte Elemente konzentrieren und dies zu einer Struktur (im wissenschaftlichen oder vorwissenschaftlichen Sinne) zusammenfassen. Zu einer wissenschaftlichen Theorie wird diese Zusammenfassung erst durch System (Ordnung) als Modell bzw. umfangreiche Theorie mit einer Festlegung der Gegenstände, Prozeduren, der geeigneten Beobachtungsmodalitäten und der dabei zugelassenen Beobachter. Insbesondere der letzte Punkt schränkt mein Modell von Beobachter und Beobachtung ein: Wissenschaften tendieren mit ihrer Festlegung der zugelassenen Beobachter dazu, sich für andere Beobachter und deren mögliche Beobachtungen zu immunisieren. Sie tendieren zu einer systemimmanenten Betrachtungsweise. Die Beobachtungen sind zirkulär in die Differenzierung von Strukturen und Systemen eingeschlossen. Beobachtungen strukturieren unter Beachtung dieser Voraussetzungen die Wahrnehmungen, die Beobachter machen. Beobachtungen halten die Kontinuität oder Veränderung von Strukturen und Systemen fest, die dann in der Argumentation symbolisch in Strukturen oder Systemen codifiziert und regelhaft festgeschrieben werden.
Mein Modell unterscheidet sich von Giddens Theorie der Strukturierung durch die entschiedenere Hervorhebung des Wechselverhältnisses von Beobachter und Beobachtung. Beobachtungen sind dabei zugleich Ressourcen für die Bestimmung von Strukturelementen und Systembedingungen.
Die Beobachter in ihrem Nach- und Nebeneinander drücken stets ein plurales Herangehen an Weisen der Beobachtung aus. Beobachter markieren in meinem Modell in der Prozedur des Beobachtens eine größere Freiheit, eine mögliche Unterschiedlichkeit, Diversität und die Wahrnehmung neuer Aspekte oder Perspektiven, die in der gemachten und festgehaltenen Beobachtung stets schon festgeschrieben und vereinheitlicht sind. Die Beobachtungen konzentrieren die Prozeduren auf bestimmte symbolische Aktionen, die in Praktiken, Routinen und Institutionen wiederkehren. Beobachtungen verknappen somit die Beobachter. Sie sor­gen durch Zirkularität von Struktur – System – Beobachtung dafür, dass sich Regeln etablieren, die Perspektiven begründen und Ausschlüsse auf Beobachterseite bedingen. Sie schränken die Freiheitsgrade der Beobachter ein. Insbesondere unsere Reflexionen über Foucault und Bourdieu haben geholfen, dieses Verhältnis von Beobachter und Beobachtungen zu differenzieren.
Praktiken sind bewusst oder unbewusst ausgeführte, teilweise reflexive, in Zeit und Raum erscheinende, wiederkehrende Tätigkeiten. Anders als bei Giddens (1995, 53) bedingt die Kontinuität von Praktiken bei mir nicht notwendig ihre Reflexivität. Dies hängt damit zusammen, dass Selbst- und Fremdbeobachter im Blick auf solche Praktiken nicht identisch sein müssen. Insoweit kann ein Fremdbeobachter unbewusste Praktiken rekonstruieren, die für die Selbstbeobachter verborgen bleiben. Da bei Giddens eine Beobachtertheorie fehlt, entgeht ihm dieser Punkt, obzwar er unbewusste Wirkungen durchaus zugesteht. Nach Bourdieu beobachten wir sie bevorzugt als Felder, was uns zugleich unser beobachtendes „Fenster“ zu thematisieren zwingt. Sie erscheinen dann als Routinen, wenn die Wiederkehr in ritualisierter, fest vorgeschriebener Weise beobachtet wird. Solche Routinen werden meist nach einem Vorbild- oder Modellverhalten erworben; sie dienen vorrangig der Aufrechterhaltung und Bewahrung einer sozialen Integration.
Insbesondere Goffman (1971) beschreibt symbolvermittelte Routinen sehr ausführlich. Sie erscheinen als Arbeitstag, Freizeitregelungen, soziale Ereignisse wie Feiern, ritualisierte Begegnungen mit konventionellen Regeln, als Sportveranstaltungen, bürokratische Abläufe usw. Es gibt auch die intimeren Routinen des Geschlechtsverkehrs, des Essens und Trinkens, des Umgangs mit Kindern, des Streits und der Konfliktlösungen usw. Mit Bourdieu erkennen wir ein ganzes Feld praktischer Funktionen in solchen Routinen, die er als ein System kognitiver und motivationaler Strukturen bezeichnet, die in einem Habitus gipfeln. Dieser Habitus ist ein in Routinen stehender Erzeugungsmechanismus von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, die sich als symbolische Ordnung ausdrücken. Am deutlichsten sehen wir diesen Ausdruck in Institutionen, in denen das symbolische Wissen und die Verhaltensstandards einer Kultur codiert und tradiert werden. Solche Institutionen wie Schulen, Gerichte, Gefängnisse, Irren- und Krankenhäuser disziplinieren, wie Foucault herausgearbeitet hat, wiederum die Praktiken und Routinen, die für alle menschlichen Handlungen einen sozialen Rahmen abgeben.
Handlungen finden in sozialer Hinsicht, so versuche ich sie zu re/de/konstruieren, immer in Praktiken, Routinen und Institutionen statt. Je mehr wir zu den Routinen und Institutionen übergehen, desto reglementierter werden die Handlungen beschreibbar. Dies korrespondiert mit einer Zunahme von symbolischer Disziplinierung.
Die Beobachter erscheinen als Selbst- und/oder Fremdbeobachter. Die im Wechselspiel von Beobachter und Beobachtungen liegenden Handlungsleistungen können wir nach sehr unterschiedlichen Seiten analysieren. Aus meiner bisherigen Analyse insbesondere der Lebenswelt sind die folgenden, auf die ich kurz näher eingehen will, besonders wichtig:

 

(1)Kommunikation:

 

Struktur
(Elemente)

System
(Strukturmodell)

Beobachter
___________

Beobachtung

(1) Kommunikation

 

Subjekte
(in Aktionen)

 

 

Beziehungen
(vor Inhalten)

 

Typisierung


Kommunikation bezeichnet ein wechselseitiges inhaltliches und beziehungsmäßiges Interagieren von Menschen. Im Rahmen der Vielzahl der Beobachter gibt es unendliche Beobachtungen über Variationen von Kommunikationsstilen und Kommunikationsmerkmalen. Im Rahmen der Verständigung bestimmter Beobachter mittels Beobachtungen liegen unterschiedliche Typisierungen von Kommunikation vor. Dies ist zugleich eine Begrenzung der Möglichkeiten, offen zu kommunizieren.
Was begrenzt unsere Offenheit? In Beobachtungen setzen wir typisch immer schon das als Wiederholung voraus, was im Einzelfall ein singuläres Ereignis sein mag. Aber wer soll in einer Strukturierung und Systematisierung von Kommunikation ohne Typisierungen schauen können?
Die Elemente oder Momente, die mit solchen Typisierungen auftreten, sind Subjekte in ihren beobachtbaren Aktionen. Hier erscheint ein wahrnehmbares Handeln, das oft an Äußerlichkeiten festgemacht wird. Dies macht Kommunikation zugleich schwierig, weil das Subjektive gegen jede Typisierung streitet, wenn es sich subjektiv im weitesten Sinne äußern will. Insbesondere durch eine verobjektivierende und verdinglichende Beobachtungspraxis werden solche Äußerungsmöglichkeiten reduziert. Bemerkt man dies, so muss man radikal die Beobachtungspraxis ändern. In den Humanwissenschaften zeigen Handlungsforschungen mit teilnehmender Beobachtung, biografische und subjektzentrierte (qualitative) Methoden deshalb an, dass die Typisierungen stets fragwürdig sind. Der beobachtende Humanwissenschaftler ist sich seiner Strukturelemente (der Subjekte in ihrer Aktionsvielfalt) nicht eindeutig sicher (die in Kapitel III vorgestellte interaktionistisch-konstruktive Beziehungslogik verdeutlicht, weshalb die Unsicherheit notwendig ist). Ihre bloße Verdinglichung oder Versprachlichung reicht nicht hin, um die Ereignisbezogenheit von Kommunikation zu erfassen. Mindestens wird es erforderlich, die Unterschiedlichkeit von Beobachtungen aus der Sicht der Beobachteten wie der Beobachtenden zu erfassen. Wird Kommunikation hingegen als entsubjektiviertes Verfahren funktionalisiert, wie es z.B. bei Luhmann geschieht, dann wird durch eine Maximierung von Typisierungen (Formalisierungen) genau das ausgelöscht, was Kommunikation lebendig macht und am Leben erhält: Subjektivität als nicht eindeutig formalisierbares Ereignis (vgl. Band 1, Kap. II.2.5). Dies gilt insbesondere auch für die Kommunikation als System: Beziehungen als zirkuläre Verhältnisse drücken Subjektivität in wechselseitigen Begegnungen, in Praktiken und Routinen aus, die – als Typisierung – einer eigenen Psychologik unterliegen, wie in Kapitel III herausgearbeitet wurde.
Analysen zur Kommunikation unterliegen mindestens drei perspektivischen Fallen:

  • Als Objektfalle wirken die vorgängigen Praktiken, Routinen und Institutionen, in die Kommunikation jeweils eingebettet ist (vgl. Kapitel IV. 3.3.1). Sehen wir nur die Strukturelemente – die agierenden Subjekte – in ihrer Kommunikation, bilden wir ein Strukturmodell ihrer Beziehungen, die sich über bestimmte Inhalte vermitteln, losgelöst vom objektivierenden Hintergrund, dann verharren wir in zu oberflächlichen Typisierungen.
  • Als Machtfalle wirkt der Umstand, dass es keine herrschaftsfreie Kommunikation geben kann (vgl. Kapitel IV.3.3.2). Sehen wir die agierenden Subjekte als machtfrei und autonom, als bloß autopoietische oder selbstorganisierte Monaden, ohne ihre Beziehungen und Inhalte vor dem Hintergrund von Praktiken, Routinen und Institu­tionen der Macht im kulturellen Kontext zu reflektieren, dann entsozialisieren wir unser konstruktivisti­sches Modell.
  • Als Beziehungsfalle wirken vor allem die Interpunktionen, die im Kontext mit Objektivationen und Macht gebildet werden, und die eine vermeintlich autonome Beziehungsposition der Subjekte stets einklammern oder durchqueren (vgl. Kapitel IV.3.3.3). Übersehen wir die Beziehungsfallen, die es auch erforderlich machen, sich den Besonderheiten der Psychologik zu stellen, dann verharren wir zu sehr in einer kognitivistischen und rationalen Erklärung der Lebenswelt, die mittels Entpsychologisierung wesentliche Teile der lebensweltlichen Beziehungen vernachlässigt.

Nehmen wir diese Reflexion auf, und beziehen wir sie auf die Kommunikation in ihrer Bedeutung für Mindestanforderungen an eine konstruktivistische Lebensweltanalyse, dann sehe ich vor allem folgende Aufgaben:

  • Im Bereich der Struktur (Elemente) erscheinen Subjekte in ihren zirkulären Aktionen, was stets ein Vorgang von hoher Offenheit und Beobachtervielfalt bleibt. Alltägliche und wissenschaftliche Beobachtungen gehen hier meist unterschiedliche Wege, wobei die Beziehungswirklichkeit, wie ich sie dargelegt habe, bis heute zu sehr aus dem Beobachtungsspektrum der Wissenschaften herausfällt. Für lebensweltliche Diskurse ist sowohl die Anerkennung der hier herrschenden Unschärfe als auch eine große Offenheit der Beobachtungskonfigurationen und -prozeduren notwendig. Empirische Beschreibungen von Aktionen können nie hinreichend ohne Beschreibungen der Selbstbeobachter in ihren Aktionen vorgenommen werden. Teilnehmer und virtuelle Teilnehmer, Beobachter und virtuelle Beobachter sind in ihren wechselseitigen Wahrnehmungen mindestens zu unterscheiden, um hinreichend die eingenommenen Selbst- und Fremdbeobachterpositionen zu markieren.
  • Im Blick auf ein wissenschaftliches Systemmodell der Kommunikation bevorzugt der interaktionistische Konstruktivismus die in Kapitel III vorgestellte Beziehungslogik. Sie sieht im Blick auf Kommunikation die Beziehungen vorrangig vor allen Inhalten, ohne damit Inhalte unterschätzen zu wollen. Dies verändert das humanwissenschaftliche Denken erheblich, weil es nicht nur die Beziehungen (in ihren Praktiken, Routinen, Institutionen) möglichst konkret in das kommunikative Bewusstsein holen will, sondern auch den Wissenschaftler in seiner Verstrickung hierin zu thematisieren hat.
  • Gleichwohl entkommt kein Ansatz einer Typisierung. Diese bedeutet, dass wir aus der Vielfalt der Beobachtermöglichkeiten durch die Einschränkungen unserer Beobachtung bestimmte Subjekte in einem bestimmten Verhalten (in ihrer Selbst- und Fremdwahrnehmung) hervorheben und als Muster, als typisch, mit einem bestimmten Habitus, wie wir mit Bourdieu gesehen haben, beschreiben. Insoweit sind wir gezwungen, auch eine dekonstruktivistische Perspektive nicht nur zuzulassen, sondern stets zu fordern: Die konstruktivistische Verständigungsgemeinschaft benötigt die verschiedenen Beobachterperspektiven (der Akteure und Selbst-/Fremd­beobachter in direkter/virtueller/imaginärer Teilnahme), um so eine Relativierung der Typisierungen zu leisten und die Machtfrage in der Kommunikation sowohl für die Inhalts- als auch die Beziehungsseite wenigstens thematisieren zu können.

 

(2) Soziale Integration:

 

Struktur
(Elemente)

System
(Strukturmodell)

Beobachter
___________

Beobachtung

(2) Soziale Integration

 

einzelner Sinn

 

 

Werte-/System-
integration

 

Normierung von Perspektiven


Soziale Integration wird auf der Ebene der Beobachtung mittels einer Normierung von Perspektiven konstruiert. Solche Integration, die als Verhaltensprogramm auf die Herausbildung sogenannter Identität zielt, die sich auch als Muster sozialen Verhaltens oder gemeinsamer Werte und Normen von Verständigungsgemeinschaften bezeichnen lässt, basiert auf einer Sinnintegration, die intentional geprägt ist. Sinn ist das wesentliche intentionale Strukturelement, das die Voraussetzung für soziale Systemintegration bildet.
Soziale Integration stellt sich auf der Systemebene als normenreguliertes Verhalten dar. Solche Normenregulierung kontrolliert und diszipliniert verschiedenen Sinn unter einer gemeinsamen Perspektive. Diese erscheint als Lebenskonzept, als Weltbild oder Weltanschauung, als soziales Verständnis oder soziale Verständigungsleistung, die systemisch wirkt, also auf alle Sinnelemente und Sinnmomente selbst zurückstrahlt und Beobachtungen in diesem Feld reguliert und normiert.
Die soziale Integration dient der Rekonstruktion einer Gesellschaft. Zwar müssen unter dem Druck von Pluralität heute nicht mehr alle bzw. überwiegende Teile der gesellschaftlichen Sinnproduktion nach einheitlichen Perspektiven angeeignet werden, was eine re/de/konstruktive Vielfalt ermöglicht, aber dennoch lassen sich immer wieder Haupt- und Nebenströmungen von Werte- und Systemintegrationen beobachten, die strukturell auf die Re/De/Konstrukteure zurückwirken.
Im Bereich der sozialen Evolution wirken die Beobachterurteile bestimmter Verständigungsgemeinschaften immer schon normativ und ausschließend. Dabei wird die soziale Integration immer wieder gerne als soziale Evolution herausgestellt. In einer neodarwinistischen Theorie der Evolution z.B. wird die natürliche Auslese nicht durch Typen, sondern individuelle Varianten realisiert. Es ist ein Beobachterproblem, inwieweit der Evolution dann nachträglich doch wieder eine Typisierung unterschoben wird. Dabei sind Typisierungen nach relativ festem Schema immer auch voreingenommene Re/Konstrukte, die bestimmten Theorieabsichten entsprechen. Anleihen in der biologischen Evolution als Erklärungsmodell erweisen sich hier aber nicht als geeignet, um für solche normativen Prozesse eine Legitimation zu finden. Auch hier wirken die Objekt-, Macht- und Beziehungsfallen. Sie haben uns verdeutlicht, dass es sich bei der sozialen Evolution keinesfalls um einen einheitlichen und widerspruchsfreien Raum handelt. Indem wir vielmehr unterschiedliche Interessen, Macht, Objektivationszwänge als Strategien bestimmter Verständigungsgemeinschaften erkennen, dekonstruieren wir zugleich die Vorstellung einer gesamtgesellschaftlich möglichen Universalisierung auf nicht hintergehbare Normenperspektiven hin. Zugleich halten wir damit dann den Anspruch fest, jegliche Normierung als Ausdruck einer sozialen Integration von Verständigungs- und Geltungsgemeinschaften hinterfragen zu müssen.
Nehmen wir die soziale Integration in ihrer Bedeutung für Mindestanforderungen einer konstruktivistischen Lebensweltanalyse, dann will ich folgendes besonders hervorheben:

  • Der einzelne Sinn ist die Bezugnahme auf einen Sinn, ein einzelnes Sinnelement, das sich als Behauptung einer bestimmten Bedeutung, eines Argumentes, eines Wertes, einer Norm darstellt. Eine soziale Intention oder Bewertung wird aus solchen Sinnelementen zusammengesetzt. Mitunter steht ein Sinn im Vordergrund der Behauptung, für die Post/Moderne als Multiobligationsgesellschaft habe ich die Vervielfältigung der Sinnelemente weiter oben bereits hervorgehoben. Je mehr die Beobachter in einem vorgeordneten Theoriemodell denken, desto mehr werden ihnen jedoch einzelne, teilweise widerstreitende Sinnbedeutungen entgehen. Bei rekonstruktiven Praktiken ist deshalb gerade hier eine dekonstruktivistische Methode gefragt, die den bemerkten und erarbeiteten Sinn in seinen möglichen Ergänzungen oder nach blinden Flecken untersucht.
  • Die Werte- oder Systemintegration ist in der Post/Moderne ohnehin schwierig geworden, da Werte und Deutungssysteme nicht nur gegeneinander streiten, sondern auch meist innerlich widersprüchlich geworden sind. Der Beobachter muss spezifizieren, unter welchem Fokus er eine solche Integration beschreibt. In dem Abschnitt über Praktiken, Routinen und Institutionen in der Lebenswelt ist deutlich geworden, dass eine solche Spezifikation schwierig ist, da jeweils unterschiedliche Sichtweisen in die Begründung einer Selbst- oder Fremdbehauptung von sozialer Integration eingreifen. So wird beispielsweise eine Identität gerne als Ausdruck solcher Integration zugeschrieben. Hier jedoch dürfen wir nicht den Fehler begehen, die Zuschreibung, die ein Strukturmodell darstellt, mit der Realität einer Werte- und Systemintegration (etwa vereinfacht gedacht als Abbild der Lebenswelt) gleichzusetzen. Es handelt sich immer um einen re/de/konstruktiven Behauptungszusammenhang.
  • Aus der Sicht der eigenen Beobachtungen wird bei einer Re/De/Konstruktion von sozialer Integration immer eine Normierung eigener Perspektiven vorgenommen. Diese Normierung führt notwendig Werturteile der jeweiligen Verständigungsgemeinschaft in den Beobachtungsprozess ein. Wissenschaftlich transparent werden Beobachtungen erst, wenn der Hintergrund solcher Normierungen nicht verschleiert, sondern nach der Interessenlage dokumentiert wird. Hier zeigt sich auch, dass ein ethischer Anspruch im Grunde für jede Theorie unausweichlich ist, weil im Blick auf soziale Integrationen eine Normierung von Perspektiven immer erfolgt. Dann stellt sich die Frage: Welche ist die wünschenswerte? Inwieweit kann das Erwünschte normativ aus der Sicht einer Verständigungsgemeinschaft auch für andere sinnvoll aufgestellt werden? Der Konstruktivismus kann diesen Fragen nicht ausweichen, wie ich bereits weiter oben im Zusammenhang mit der Macht analysiert habe (vgl. Kapitel IV.3.3.2).

 

(3) Objektivationen und Macht:

 

Struktur
(Elemente)

System
(Strukturmodell)

Beobachter
___________

Beobachtung

(3) Objektivationen
und Macht

 

 

Wahrheit

 

Wissen

 

Ein-Sicht
(Ausschluss)


Objektivationen von Handlungen sind aus der interaktionistisch-konstruktiven Sicht immer mit Macht verbunden. Im Sinne Foucaults nehmen Beobachter, wenn sie Beobachtungen im Rahmen einer Verständigung organisieren, Ausschlüsse vor, die ihren Einsichten zugrunde liegen. Hier wird im Diskurs von Wahrheit und Wissen das Eins gegenüber möglichen Auchs betont. Keine verobjektivierende Theorie kann ohne Vereinfachung und Ausschluss existieren.
Die Kränkungsbewegungen haben deutlich gemacht, dass die Wahrheit, auch wenn sie heute als relativiert erscheint, nicht verschwindet. Wir benötigen sie immer wieder, um etwas verobjektivierend auszusagen. Auch im Alltag ist Wahrheit ein gängiges Beobachtungselement. Es hilft uns, sinnliche Gewissheiten, Wahrnehmungen und Sachverhalte zu koordinieren und unter eine gemeinsame (hoffentlich verhandelbare) Perspektive von Verständigung und Erklärung zu stellen. Dabei geht eine Verständigung allerdings einer Erklärung notwendig voraus. Nichts erklärt sich von allein, auch wenn wir in unseren Wahrnehmungen oft meinen, die Welt vollständig und richtig vor uns zu sehen. Aber oft sehen wir den Wald vor lauter Bäumen nicht. Wir bemerken nämlich kaum mehr, welche Vorverständigungen alle unsere Erklärungen – auch die scheinbar einfachsten und sinnlich gewissesten – benötigen. Was uns meist auch verborgen bleibt, das ist die Position der Macht, die sich durchgängig schon daraus ergibt, dass zwar alle Beobachter (d.h. Menschen) für Beobachtungen zugelassen sein sollten, es aber niemals gleichberechtigt sind. Die vorgängigen Verständnisleistungen unserer Lebenswelt machen hier schon deshalb eine Gleichbe­handlung unmöglich, weil sie uns als irrational erscheinen würde. Ein Baby oder Kleinkind kann trotz eigener Kompetenzen nicht überall ein gleichermaßen kompetenter Beobachter wie ein Erwachsener sein; ein Gebildeter sieht mehr als ein Ungebildeter, ein alter Mensch anders als ein junger; eine Frau anders als ein Mann usw. Einerseits haben wir für die Beziehungswirklichkeit festgestellt, dass es keinen objektiv besten oder letzten Beobachter geben kann, andererseits kommt er lebensweltlich im Blick auf Objektivationen unseres symbolischen Zusammenlebens ständig vor. Hier konkurrieren auf Gleichberechtigung drängende Beziehungen mit den Ungleichheiten einer symbolvermittelten Welt. Objekt-, Macht- und Beziehungsfallen wirken nach dieser Sicht ständig ineinander.
Die Wahrheit ist als wissenschaftliches Kriterium immer in ein System des Wissens und in kulturelle Kontexte eingebettet. Wissenschaft als bloße Wahrheitsbehauptung in einem engen Sinne wäre ein naives, ahistorisches und ungebildetes Unterfangen. Selbst in den Techniken mit ihrem relativ eindeutigen Wahrheitsaussagen beginnt der kulturelle Kontext sich spätestens in den Anwendungen, dem Nutzen und den Folgen für die Umwelt bemerkbar zu machen. Allerdings ist der Diskurs des Wissens auch nimmersatt, weil er ständig nach mehr Wissen verlangt. Seine auf Gleichheit oder Pluralität zielende Unmöglichkeit wurzelt darin, dass dieses Mehr an Wissen nicht außerhalb einer ausschließenden, verengenden und vereinfachenden Beobachtung gewonnen werden kann. Jeder Sieg ist zugleich ein Verlust.
Besonders das Wechselspiel von Objektivitätsansprüchen und kommunikativen oder auf soziale Integration bedachten Handlungen verdeutlicht die Unausweichlichkeit von Macht und Interesse, die jeder verobjektivierenden Handlung zu eigen sind. Es zeigt allerdings auch die Komplexität von wahren und wissenden Beschreibungen. Die Strategie der Ausschließung von Kommunikationen oder sozialen Konstruktionen, um Fragen der Objektivität möglichst wissenschaftlich rein anzusetzen, schei­tert heute zunehmend mehr an lebensweltlichen Zusammenhängen. Sie kann allenfalls als ignorante und vereinseitigende Strategie betrieben werden, die sich für den lebensweltlichen Kontext der eigenen Theorie- und Beobachtungsbildung und auch für die lebensweltlichen Folgen nicht interessiert. Ein illustratives Beispiel hierfür ist der Bau und die Testung von Atombomben. Weder die lebensweltliche Ethik des Forschers (vgl. den Fall Oppenheimer) noch die lebensweltlichen Probleme für die Testopfer oder die Umwelt wurden hinreichend bedacht.
Nehmen wir Objektivationen und Macht in ihrer Bedeutung für Mindestanforderungen einer konstruktivistischen Lebensweltanalyse, dann will ich folgendes besonders hervorheben:

  • Die Position der Wahrheit als ein Strukturelement ist stets durch die Beobachtungsstrategien als Re/De/Konstrukte von Wirklichkeit relativiert. Wahrheit in Diskursen ist kein ausschließlicher Platz, der uns stets sicher und eindeutig sein kann, sondern nur eine wechselhafte Besetzung. Dabei ist je nach Kontext die Verifikation einer von vielen Beobachtern geteilten Wahrheit unterschiedlich: Leichter fällt diese Konstruktion in den Techniken und Naturwissenschaften, sofern sie sich auf einheitliche Messprozeduren und allseits geltende Konventionen einigen können, ungleich schwieriger ist sie in den Humanwissenschaften, die sich mit komplexen Problemen der Lebenswelt beschäftigen (vgl. auch Hickman/Neubert/Reich 2004, 2009).
  • Das Wissen unterliegt wie die Wahrheitssuche Praktiken, Routinen und Institutio­nen, die es jeweils an gesellschaftliche, soziale, kulturelle Zeitgeisterscheinungen anpassen. Gerade hierin erscheinen Machtpositionen, die sich dadurch verschleiern, dass sie in einer Zeit als gewohnt, vertraut und sinnvoll – kurzum als normal – gelten. Solche Geltung wird auf mehr oder minder fiktive gesellschaftliche, soziale, kultu­relle Mehrheiten bezogen. Dieser Bezug verschleiert sehr oft den Zugang zur Vielgestaltigkeit der Lebenswelt. Insoweit erfordern rekonstruktive Objektivationen eine Anstrengung, im Wissen auch über die gewohnten, vertrauten, sinnvollen und nor­malen Perspektiven hinauszusehen und neue Konstruktionen zu fördern. Es gibt z.B. in der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft nicht nur einen gesellschaftlichen, sondern vor allem auch einen wissenschaftlichen Reformstau: Nicht die Wiederkehr des scheinbar bewährten Selben, das in seinen gewohnten Bahnen kreist, sondern die Kreativität von neuen Lösungen ist gefragt. Dazu aber müssen erst einmal neue Fragen zugelassen werden. Aber dies bedeutet Machtverluste, die gerade traditionelle Institutionen – insbesondere Universitäten – nicht freiwillig zugestehen (vgl. dazu z.B. Bourdieu 1992). Noch deutlicher mag dies für das deutsche Schulsystem gelten, dass trotz empirischer Belege für seine Ineffizienz nach wie vor als besonders gut gepriesen wird (vgl. auch Reich 2009).
  • Wissenschaftler betonen ihre Einsichten meist mehr als ihre Auslassungen und Ausschließungen. Konstruktivisten sind aufgrund ihrer Beobachtungs- und Erkenntnisansprüche gezwungen, die eigenen Einsichten nicht zu überschätzen. Solche Überschätzung halten sie gerade anderen Ansätzen als Fehler vor. Insoweit ist hier ein Moment der Selbstkritik von vornherein eingebaut. Dies fordert bei re/konstruktiven Tätigkeiten insbesondere eine dekonstruktive Haltung heraus: Wie können wir die Ausschlüsse ertragen? Welche Ergänzungen erscheinen als möglich?

 

(4) Legitimationen:

 

Struktur
(Elemente)

System
(Strukturmodell)

Beobachter
___________

Beobachtung

(4) Legitimation

 

Normen
(Wirkungen)

 

Viabilität
(Geltung)

 

 

Verifikation
(Gewissheit)


Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal von Handlungen ist die Legitimation. Sie reicht von strikter Reflexion bis hin zu bloßer Rechtfertigung. Als Strukturelement hebt sie immer auf bestimmte Normen und deren Wirkungen in einem lebensweltlichen Kontext ab. Die Ereignisse der Lebenswelt werden aus legitimierender Per­spektive kurzum als Wirkungen und dann als Fakten beschrieben, die einen normati­ven Sinn, eine normative Intentionalität und Zweckmäßigkeit, Nützlichkeit oder Hoffnung ausdrücken. Solche Legitimationen kennen wir auch aus dem Alltagsleben, wobei in diesem aber öfter auch Wunschdenken oder bloße Verteidigungshaltungen artikuliert werden. Normen sind dann z.B. auch negative Bezüge im Sinne von „die Anderen machen dies auch so“. Die Praktiken, Routinen und Institutionen scheinen hingegen in unterschiedlichem Grad durch sich selbst legitimiert. Es sind normative Wirkungsgefüge, die allein schon durch Funktionalität für sich sprechen. Aber erst eine wissenschaftliche Reflexion sichert ihnen eine Legitimation, die sie als viabel (im Kontext einer spezifischen Geltungstheorie) darstellt. Allerdings steht diese Viabilität stets auch unter den Perspektiven der Objekt-, Macht- und Beziehungsfallen.
Es stellt sich die Frage, inwieweit in Kommunikation, sozialer Integration und Objektivationen/Macht nicht bereits inhärent Legitimationsansprüche enthalten sind. Dies ist sicherlich der Fall. Wenn wir nämlich auf die Beobachtungsleistungen sehen, dann sind Typisierungen, Normierungen von Perspektiven, Ausschlussbedingungen immer unter einem Legitimationsdruck. Die beobachteten Strukturelemente und mehr noch das entwickelte System/Strukturmodell sollen nicht nur eine Aussage, sondern meist auch eine Theorie legitimieren. Aber diese Legitimation, die in den drei Perspektiven eingeschlossen ist, reicht in der Regel in wissenschaftlichen Diskursen nicht hin. Sie muss auch gesondert reflektiert werden, um Transparenz zu gewinnen. Damit reflektiert die sich legitimierende Sicht auf die Voraussetzungen, die sie macht. Reflektieren wir z.B. auf kommunikative Handlungen, dann werden die Subjekte in ihren Aktionen nunmehr als normative Figuren und Operationen in einem Legitimationskonzept unseres Ansatzes erkennbar. Dies macht zumindest eine gehaltvolle Theorie aus.
Alle Behauptungen von Elementen, die sich auf ein Eins fixieren, setzen Normen voraus. Als System setzen sie voraus, dass etwas als viabel erachtet wird. Dies ist die Geltungsreflexion, die eine Beobachterperspektive legitimiert. Schließlich suchen wir auch für die Beobachtung stets eine Legitimation anzuführen, die ich als Verifikation bezeichnen will. Wir sind im eigentlichen Sinne nicht in der Lage, Sachverhalte eindeutig zu falsifizieren, weil wir sie nie gegen alle möglichen Einwendungen und Möglichkeiten absichern können. Wir verifizieren vor allem durch empirische Belege immer das, was wir gerade mit unseren Einsichten können, d.h. vor allem durch Ausschluss gewinnen. Als Gewissheit von Beobachtungsleistungen dient es dann direkt der Legitimation, die wir für die Strukturelemente und ein System begründend nutzen.
Nehmen wir die Legitimation in ihrer Bedeutung für Mindestanforderungen einer konstruktivistischen Lebensweltanalyse, dann will ich folgendes besonders hervorheben:

  • Unter einer legitimierenden Perspektive erkennen wir schon für die Wahrnehmung von Strukturelementen, dass wir nicht nur Nutznießer von verifizierbaren Gewissheiten in unserer Beobachtung sind, sondern auch bereits ihr Opfer. Die Verifikation normiert unsere Einseitigkeiten, indem sie Wirkungen beschreibt, die als zukünftige Norm für unser beobachtendes Handeln gelten. Solche legitimierten Normen schreiben sich als einzelne Wahrheit, einzelner Sinn, als relevantes Subjekt mit musterhaften Aktionen ein. Die Legitimation vollendet scheinbar die Beobachtungen, indem sie ihnen eine Gewissheit verleiht, die uns unangreifbar gegen Kritik macht. Doch dürfen wir nicht übersehen, dass die Legitimation durch und durch selbst ein re/de/konstruktiver Vorgang ist. Dominiert eine Rekonstruktion, dann werden wir schnell Teilnehmer eine vorgegebenen Theorie. Dominiert eine Dekonstruktion, dann erschöpfen wir uns oft im bloßen Kritisieren vieler theoretischer Elemente, ohne die eigene Theorie darlegen zu müssen/wollen. Dominiert unsere Konstruktion, dann werden wir oft blind gegen die Lösungen von Anderen.
  • Diese Schwierigkeiten wiederholen sich auf der Ebene des Systems oder der Strukturmodelle. Die Zuschreibung einer Viabilität als Geltungserfordernis verweist uns auf Interessen- und Machtlagen, die das zu legitimierende Re/De/Konstrukt erst in seinem Kontext zeigen. Versuche, solche Kontexte zu universalisieren, sehe ich als prinzipiell gescheitert an, weil sie das, was wir ereignishaft als Macht in Kontexten erleben, ebenso leugnen müssen wie alle Unwägbarkeiten und Unbestimmtheiten der Kontexte selbst, die durch unterschiedliche Beobachter ans Tageslicht kommen. Setzen wir hingegen auf eine Universalisierung bestimmter Beobachter, dann erheben wir einen von diesen (oder eine Verständigungsgemeinschaft) in eine gleichsam göttliche Position. Selbst wenn er vorher keine Macht hätte (was gänzlich unwahrscheinlich ist), so hätte er nachher so viel Macht, dass wir diesen Beobachter besser schon vorher bekämpfen sollten.
  • Es geht hier nämlich nie um eine bloße Verifikation von bestimmten Ereignissen durch neutrale Beobachtungen, Beschreibungen oder Aussagen, um aus dieser Gewissheit Fakten und Geltungen abzuleiten. Die Ansprüche, Faktizität zu beobachten, sind immer schon durch Geltungsansprüche bestimmt. Die Geltungsansprüche unterliegen zwar einem Legitimationsdruck, aber keine Verständigungsgemeinschaft kommt ernsthaft in Schwierigkeiten, wenn Fremdbeobachter ihr Abweichungen zwischen Legitimationsanspruch und Durchführung vorhalten. Schwierigkeiten ergeben sich nur dann, wenn der eigene Legitimationsanspruch inkohärent wird, indem die störenden Bedingungen, die verifiziert werden, zunehmen oder die Beobachterrollen sich verschieben, weil die Interessen- und Machtlage sich selbst verändert. Diese Aussagen gelten allesamt auch für den Konstruktivismus. Er hat sich dem Legitimationsdruck durch andere Theorien oft – in Formen des radikalen Konstruktivismus – dadurch gestellt, dass er möglichst nah an naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu verifizieren versuchte, warum seine neue Struktur- und Systemsicht legitim sei. Dies führte, so denke ich, zu einer beklagenswerten Einseitigkeit, die wir heute durch eine kulturell­theoretische Öffnung ausgleichen sollten.

Aber wird man mir an dieser Stelle der Legitimation nicht zurecht ebenso eine Einseitigkeit vorwerfen können? Ich denke ja. Im Blick auf lebensweltliche Legitimationen können wir auch gar nichts anderes erwarten, denn die Legitimationen, die sich auf Kommunikation, soziale Integration und Objektivationen/Macht beziehen, sind schon aufgrund dieses Bezuges für andere Interessen- und Denkannahmen einseitig orientiert. Ihr legitimes Mittel, die Verifikation durch ein empirisches Sinnkriterium, lässt hier keinen Ausweg, weil dieses nicht außerhalb von Typisierungen, Normierungen und Ein-Sichten/Aus-Schlüssen bestimmter Verständigungsgemeinschaften, die einen normativen Rahmen setzen, situiert sein kann.
Ist so gesehen wissenschaftlicher Fortschritt überhaupt noch möglich? Ja, aber nicht als universeller Vorgang, der unabhängig von der Lebenswelt uns quasi als ein natürliches oder göttliches Abbild zur Verfügung steht. Fortschritt selbst ist aus Sicht des interaktionistischen Konstruktivismus eine legitimierende Beschreibung der Entwicklung von kommunikativen, sozial-integrativen und objektivierenden/machtbezogenen Verständigungsgemeinschaften. Wir haben aber die Gewissheit verloren, dass diese Gemeinschaften – auch als wissenschaftliche Gemeinschaften – hinreichend erfassen können, was an einzelnen Beobachterpositionen, an gültigen Teilnahmen und sinnvollen Handlungen für immer passend erscheinen soll. Fortschritt ist nur ein Beobachterkonstrukt eines  „Mainstreams“, eines Sogs von gewohnten, vertrauten und normalen Handlungen. Deshalb ist der Dekonstruktivist eine wesentliche Figur im interaktionistischen Konstruktivismus, auch in den Erfolg oder Misserfolg des eigenen Ansatzes, einen möglichen Kritiker schon mitzubedenken. Ohne ihn laufen wir Gefahr, fortschrittsgläubig im Sinne einer unkritischen Haltung den eigenen Voraussetzungen gegenüber zu werden.

(5) Weitere Handlungsbeschreibungen im Wechselspiel von Beobachter und Beobachtungen sind als Re/De/Konstrukte stets möglich und bezogen auf unterschiedliche Thematisierungen sinnvoll. Die vier genannten Aspekte aber scheinen mir für eine konstruktivistische Sicht als grundlegend notwendig, weil sie bei Inhalts- und Beziehungsbetrachtungen der Lebenswelt beobachtbar sind und uns helfen können, die Viabilität von Aussagen und Theorien zu überprüfen. Kommunikation ohne die Aspekte der sozialen Integration, die die Offenheit des kommunikativen Handelns in Normen-, Wert- und Sinnbezügen bändigt, wird zu einer oberflächlichen Betrachtungsweise. Objektivationen und Macht sind die durchgängigen Vermittlungen jeder Kommunikation, sozialen Integration und für jegliche Legitimationsleistungen wesentlich. Legitimationen schließlich sind ein diskursiv erzeugtes Band von Verständigungsgemeinschaften, um Handlungen begründet in den Kontext ihrer Sicht und in Abgrenzung zu anderen Sichtweisen zu stellen. Mit den vier Aspekten wird daher ein interaktionistisch-konstruktiver Mindestanspruch an Deutungen gestellt, der zwar erweitert werden kann, aber nicht minimiert werden sollte. Werden einzelne Aspekte nämlich ausgeblendet, so wird der Hintergrund re/de/konstruktiven Handelns zu wenig in die Tiefe und Breite nachvollziehbar.
Sehen wir auf die Strukturelemente in unseren Beobachtungen, dann fungieren sie im Rahmen der verschiedenen Handlungsaufgaben als Re/De/Konstrukte des Einen, um vielfältige Auchs auszuschließen. Bereits in der ersten Kränkungsbewegung habe ich die Unvermeidlichkeit dieser Position nachgezeichnet. Dank der Beobachtertheorie des interaktionistischen Konstruktivismus sind wir den reduktiven Schwächen dieser Position aber nicht hilflos ausgeliefert. Als Norm können wir verlangen, dass bereits die Auswahl der Strukturelemente einer kritischen Reflexion unterliegt:

  • rekonstruktiv, indem sie sich vergegenwärtigt, seit wann und warum diese Struktur relevant wurde;
  • konstruktiv, indem herausgearbeitet wird, welche Wirkungen für welche Beobachter (Teilnehmer, Akteure, Beteiligte) dies lösungsorientiert bedeutet;
  • dekonstruktiv, indem ein Teil der Forschungsarbeit auf die Verstörung (ggf. bis hin zur Zerstörung, zur Aufgabe) der eigenen Perspektive verwendet wird.

Blicken wir auf die Verwandlung der Strukturelemente in ein System oder in ein Strukturmodell, dann erkennen wir deutlich ein Generalisierungsproblem, das uns scheinbar vom Stückwerk in die Ganzheit führt, aber darin große Gefahren birgt:

  • rekonstruktiv sollten wir deshalb versuchen, die Generalisierung ebenso zu hinterfragen wie die Strukturelemente, und wir sollten uns immer bewusst machen, dass wir mit Rekonstruktionen von Wirklichkeit hantieren;
  • konstruktiv, indem wir das generalisierte Konstrukt auf möglichst viele Sachverhalte in Praktiken, Routinen, Institutionen beziehen, um seine Viabilität (auch in den sozialen Folgen für unterschiedliche Menschengruppen) zu prüfen;
  • dekonstruktiv, indem wir diese Prüfung dort anhalten, korrigieren, verwerfen, wo sie sich als nicht hinreichend in Bezug auf die immer einzuholenden Perspektiven der Selbstbeobachter (also vor allem der Betroffenen) in solchen Kontexten erweist.

Was uns immer kritisch stimmen sollte, das ist der Umstand, dass diese Forderungen meistens daran scheitern, dass Systeme und Strukturmodelle bereits im vorhinein festlegen, wie die Beobachtungen nur ablaufen können. Hier erscheint ein Immanenzproblem, das allen Wissenschaften innewohnt. Es führt zur Begrenzung von Beobachtungen, denn diesen Sinn hat in erster Linie das Unternehmen, Strukturelemente zu definieren und Systeme oder Strukturmodelle aufzubauen. Deshalb fordert der interaktionistische Konstruktivismus mehr als eine Einstellung, die auf ein bloßes Machen hin orientiert. Ähnlich wie der Pragmatismus sollte auch der Konstruktivismus nicht in einem Utilitarismus aufgehen. Dies gelingt dann umso mehr, wenn eine kulturkritische Haltung neben die re/konstruktive Deutung und Gestaltung von Lebenswelt tritt. Und um die Fallen der Immanenz zu überwinden, müssen Konstruktivisten sich auch in andere Systeme und Strukturmodelle hineinversetzen, um deren Beobachtungsmöglichkeiten zu nutzen. Dies kann allerdings keine Nutzung im Sinne einer willfährigen Übernahme sein, sondern bedeutet Rekonstruktion aus einer eigenen Sicht bei gleichzeitiger Beachtung system­transzendierender Beobachtungen. Da Theorien hier sehr widerständig sind, erscheint es als unabdingbar, einen Wechsel in die konkreten Felder der Praktiken selbst vorzunehmen. Dieses Anliegen, das wir von Bourdieu kennen, bedeutet für Rekonstruktionen, möglichst umfassend die Akteure, Teilnehmer, mehr oder minder entfernt Beteiligte – die immer allesamt auch Beobachter sind – in die rekonstruktiven Beobachtungen, die wir als Fremdbeobachter führen, einzubeziehen. Konstruktiv verlangt dies einen empirischen Ansatz, der vor allem die Kurzzeitperspektiven von Untersuchungen aufgibt und sich stärker auf die Unschärfen der Analyse selbst – bis hin in die zirkulären Aspekte der Beziehungswirklichkeiten – mit langem Atem einlässt. Dekonstruktiv aber bedeutet es eine ständige Selbstkritik, die auch durch direkte Auseinandersetzung mit äußeren Kritikern stimuliert werden kann und muss.
Schauen wir letztlich auf die Wirkungen, die die Beobachtungen dann ihrerseits auf die Auswahl und Sicht von Strukturelementen einnehmen, dann erkennen wir auch an dieser Stelle ein Reduktionsproblem. In jeder Theorie sehen wir meist nur das, was wir erwarten. Für anderes haben wir gar keine Kategorien. Auch hier muss die Rekonstruktion nicht nur als Hilfe, sondern auch als Hilflosigkeit verstanden werden. Was haben wir in unserer Beschränktheit nicht in den Blick nehmen können? Was ist in unseren Konstruktionen noch sehr einseitig ausgefallen? Können wir dekonstruktiv betrachtet überhaupt hinreichend mit unserem Ansatz die Komplexität der Lebenswelt erfassen, oder haben auch wir nur eine der vielen Theorien uns re/konstruiert, die zu nichts führen: Weder eine kritische analytische Sicht auf die derzeitigen Verhältnisse noch Lösungsansätze zu einer Veränderung? Beobachtungen stellen aus dieser Sicht Ressourcen (im vermittelten Bezug von Eins und Auch) dar, die Lösungen thematisieren helfen. Wissenschaftlich gesehen dominieren besonders in den Humanwissenschaften derzeit aber oft noch die Analysen, die eher im Nachhinein den Veränderungsprozess der Moderne begleiten, weniger aber die Konstrukte aktiv mitgestalten, die massenhaft Menschen erreichen und ihrerseits auf Veränderungen und Lösungen einwirken. Dieses Defizit – etwa im Gegensatz zu den Naturwissenschaften, der Technik, der Medizin – liegt an einer geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Überbetonung der Rekonstruktion. Es hat auch in der Wissenschaft deutlich – hier stimme ich mit Bourdieu überein – mit der hauptsächlich agierten Form der Lehre zu tun. Wenn es Professoren vorwiegend darum geht, alle möglichen Abwehrsysteme gegen praktische Umsetzungen von Wissenschaft ins Feld zu führen, dann siegen die abstrakten Rekonstruktionen um ihrer selbst willen. „Ihre ersten Opfer sind die Studenten: Wenn sie nicht spezielle Dispositionen, das heißt eine spezielle Aufsässigkeit mitbringen, sind sie dazu verdammt, zum wissenschaftlichen oder wissenschaftstheoretischen Krieg immer zu spät zu kommen, wie die Professoren auch, denn statt sie, wie es sein müsste, dort ansetzen zu lassen, wohin die am weitesten fortgeschrittenen Forscher vorgedrungen sind, scheucht man sie immer wieder – das ist eine der Funktionen des akademischen Klassikerkults, das ganze Gegenteil einer wirklich kritischen Wissenschaftsgeschichte – auf erprobtes Gelände zurück, wo man sie in alle Ewigkeit die Schlachten der Vergangenheit noch einmal ausfechten lässt.“ (Bourdieu/Wacquant 1996, 282) Im Rahmen der Umstellung auf Bachelor-und Masterstudiengänge verstetigen sich diese ewigen Gefechte, indem sie dann auch noch kanonisiert wie in Schulbüchern gelehrt und abgefragt werden, weil die Lehre selbst standardisiert abgeprüft werden muss, so dass die neueste Forschung immer zu früh kommen wird. In diesen Gefechten dominiert die Rekonstruktion. Die Dekonstruktion bleibt meist auf einen Vergleich klassischer, d.h. erlaubter Interpretationen und Gegeninterpretationen beschränkt. Die eigene Konstruktion aber fehlt oft. Sie ist für eine konstruktivistische Denkweise jedoch unverzichtbar. So zerstört eine Verschulung und durchgehende Zertifizierung von Lern- und Studienleistungen genau das, was sie eigentlich fördern will: Kompetenzen für eigenständiges, kritisches, engagiertes Denken. Wollen wir dies erreichen, so muss grundlegend umgedacht werden: Allen Lernenden sollte von Anbeginn  ermöglicht, aber auch von ihnen gefordert werden, konstruktive Beiträge schon während ihrer Lernprozesse zu leisten.

Mit den Mindestanforderungen habe ich einführend auf wichtige Aspekte und Funktionen aufmerksam gemacht. Nun stellt sich jedoch die weiterführende Aufgabe, ein Diskursmodell zu finden, das es uns erlaubt, sowohl die Breite der Beobachtungen als auch die Zirkularität der Beobachterpositionen hinreichend zu beachten. Nach der bisherigen Argumentation sind wir gezwungen, von vornherein umfassende Beobachterpositionen anzubieten und Re/De/Konstruktionen im Rahmen einer Anerkennung der Kränkungsbewegungen vorzunehmen. Zwar scheint auch mein im bisherigen Abschnitt entwickeltes Modell durchaus schon tauglich, zumindest anzugeben, was in Diskursen alles geleistet werden müsste, wenn wir legitimierend nach einer Position suchen, die uns sagt, wie die Prozedur beschaffen ist und welche Felder der Argumentation dabei mindestens zum Einsatz kommen sollten. Damit habe ich Konsequenzen aus den bisherigen Argumentationen gezogen und diese in eine Übersicht gebracht. Aber nun gilt es, ein ganz spezifisch interaktionistisch-konstruktives Diskursmodell auszuarbeiten, das unter den Voraussetzungen der Mindestanforderungen steht und diese noch genauer formal beschreiben lässt. Dies liegt an Schwierigkeiten, die uns das bisherige Modell bei Versuchen einer konkreten Umsetzung noch bietet:

  • Zwar ist die Spannung zwischen Beobachter und Beobachtung erkennbar und auch eine Zir­kularität zwischen den Positionen (Strukturelement – System/Strukturmodell – Beobachtung) hergestellt, aber noch besser wäre es, wenn die Diskurstheorie die bloß beschreibende Ebene im Sinne einer Zuschreibung von Beobachtungsfeldern verlässt und aus spezifisch interaktionistisch-konstruktiver Sicht die Positionen auch inhaltlich besetzt.
  • Die tabellarische Auflistung zeigt eine große Fülle möglicher Felder der Beobachtung, was dazu verleitet, sich auf einzelne Felder zu beziehen, um sie möglichst detailliert zu analysieren. Dies ist für eine metatheoretische Einordnung von Diskursleistungen immer sinnvoll. Aber wir müssen nun auch konkretisieren, welches vereinfachte Modell, welche Typisierung, Normierung von Perspektiven, welche Einsicht wir als Prozedur praktizieren, um aus spezifisch interaktionistisch-konstruktiver Perspektive Diskurse zu re/de/konstruieren.
  • Eine Schwäche des Modells der Mindestanforderungen ist, dass es zwar die Beziehungs- und Inhaltsseite für Kommunikation unterscheiden lässt, so aber leichthin der Eindruck entsteht, als sei dieses Feld unabhängig von den anderen zu reflektieren. Dies ist ein Umstand, der uns aus der gegenwärtigen Forschung bekannt ist, in der meist sehr abgegrenzte Untersuchungen nach den beschriebenen Feldern durchgeführt werden. Wäre es nach der bisherigen Argumentation aber nicht besser, ein Diskursmodell zu entwickeln, das von vornherein diese Einseitigkeit vermeiden hilft, das uns zumindest zwingt, möglichst alle der zuvor analysierten Perspektiven in einer Prozedur in den Blick zu nehmen?
  • Eine weitere Schwäche ist die Ausblendung des Unbewussten, das wir nur implizit in die Mindestanforderungen hineindenken können. Aber gerade unbewusste Prozesse gehören auch Diskursen an, wie ich insbesondere in den Kränkungsbewegungen und in Kapitel III argumentiert habe.
  • Bei der Konstruktion eines Diskursmodells ist auch die bisher geleistete Argumentation umfassender einzubeziehen und in ihrer Grundstruktur aufzuheben: Selbst­ und Fremdbeobachter, Verständigungsgemeinschaften, objektivierende Beobachtungen, Beziehungen und Lebenswelt sind als Perspektiven in ein Diskursmodell zu integrieren, das insbesondere konstruktiven Ansprüchen genügt und nicht nur auf Untersuchungsfelder sich orientiert. Wir benötigen ein Modell, das vor allem zirkulär ausgelegt ist, um die symbolischen, imaginären und realen Perspektiven, die wir einnehmen, in ihrer Bewegung und Rückkopplung zeigen.
  • Gleichzeitig müssen wir dekonstruktiv bedenken, dass das Diskursmodell, das wir aufstellen wollen, im Blick auf die Mindestanforderungen nur eine Legitimation eines spezifischen Ansatzes darstellen kann. Insoweit können und sollten wir nach der Darlegung des spezifischen interaktionistisch-konstruktiven Diskursmodells immer auch wieder auf das Modell der Mindestanforderungen als ein mögliches Korrektiv – als Ausdruck einer selbstreflexiven konstruktivistischen Sicht von Mindestanforderungen – zurückkommen.

Unternehmen wir nun also einen neuen Anlauf, indem ich Plätze eines konstruktivistischen Diskurses festlege und ein spezifisches Modell vorstelle.

 

4.2. Die Plätze des Diskurses

Es gibt keinen Diskurs ohne Beobachter. Es gibt keinen Beobachter, der nicht irgendeinen Platz in seinen Beobachtungen einnimmt. Aber welche Plätze sind sinnvoll? Welche sind wissenschaftlich gültig?
Alle Bemühungen um Erkenntnistheorien scheinen immer wieder darum zu kreisen, zunächst die gültigen Plätze der Beobachter zu fixieren. Dabei sind die Methoden sehr unterschiedlich: Sei es, dass man eine ausgewiesene Beobachterposition (den unbewegten Beweger; Gott) sucht, um von diesem Platz aus alle weiteren Beobachtungsmöglichkeiten abzuleiten; sei es, dass man aus einer inneren, dialektischen Spannung (hier bieten sich die unterschiedlichsten Plätze an: Mimesis – Kinesis; Innen – Außen; Subjekt – Objekt; Produktivkräfte – Produk­tions­verhält­nisse usw.; als Sprachspiel hierüber vgl. insbes. Tyler 1991)  diese Ableitung symbolisieren will; stets ringen Plätze als Statthalter für Beobachtungsperspektiven. Dies ist ja auch genau der Sinn und die Geltung solcher Plätze: Schließlich kann ich als Beobachter eine Perspektive nur einnehmen, wenn ich mich auf einem bestimmten Platz situiere.
Die Argumentation, die schon im vorigen Abschnitt entfaltet wurde, geht nun dahin, dass in symbolischen Ordnungen, auf die Diskurse zielen, solche Situierungen und die Wahl von Plätzen unvermeidlich sind. Dies entspricht dem Fazit der ersten Kränkungsbewegung: Zwar mag uns alles relativ geworden sein, aber dies nötigt zu einer absoluten Aussage. Es hatte sich ja als Paradoxie des Relativen erwiesen, dass es ohne Absolutes gar nicht sein kann. Aber wir wissen, dass unsere Einfalt des Absoluten nur als Relativität zu ertragen ist.
Es muss deutlich sein, dass dies ein Sprachspiel ist. Mit dem späten Wittgenstein bedeutet dies, dass es hier ganz und gar vom Gebrauch meiner Sprache abhängt, welches Spiel gespielt wird. Richard Rorty hat in seiner Fortentwicklung des Pragmatismus deshalb im „Spiegel der Natur“ besonders Wittgenstein interpretiert, um performative Selbstwidersprüche zu vermeiden, wenn er sagt, dass etwas „ist“, ohne dies noch im Sinne einer Letztbegründung oder absoluten Aussage tun zu können. Ich sage also, etwas „ist“ und setze es scheinbar absolut, aber ich gestehe gleichzeitig zu, dass dies eine relative Aussage im Nach- und Nebeneinander der vielen Aussagen ist, und dass ich weder die Macht habe noch haben will, diese Pluralität zu ändern, auch wenn dies bedeuten könnte, dass ein anderer Ansatz kommen mag, der zurück zu absoluten Aussagen findet. Er würde meinen Ansatz vernichten, aber zugleich auch das vernichten, was Demokratie im Blick auf Wissenschaft bedeuten muss – die Ankunft einer unvermeidbaren Relativität. Besonders John Dewey, den Rorty auch anführt, hatte dies erkannt, indem er betonte, dass wir unsere Wahrheiten ohnehin nur auf Zeit gewinnen können, denn sie sind an unsere Handlungen und Erfahrungen in diesen gebunden, so dass es einem wissenschaftlichen Selbstwiderspruch gleichkäme, die historische Konextualität wissenschaftlichen Handelns selbst zu verleugnen. Wissenschaft in der Demokratie aber setzt diese Anerkenntnis voraus, ohne deshalb in eine Beliebigkeit absinken zu müssen. Auch wenn deshalb alle Aussagen nur noch bedingt als "absolut" erscheinen können, weil sie grundlegend relativiert sind, so können sie zumindest auf Zeit gelten, auch wenn wir nicht zu optimistisch sein sollten, denn solche Geltungen, das begründete Dewey auch, beruhen immer auf selective interest, so dass die Setzung des Einen ein Anderes ausschließt.
Vor diesem Hintergrund will ich die Wahl von Plätzen begründen, aber diese nötigt nicht, nur einen bestimmten einzunehmen. Es sind auch sehr unterschiedliche Plätze möglich, auch wenn wir eben schon von Mindestanforderungen gesprochen haben. Lässt sich nun konstruktivistisch eindeutig ableiten, welche Plätze wir überhaupt wann und warum in wissenschaftlichen Diskursen für sinnvoll halten?
Hier atmet uns der gesamte Streit der Philosophiegeschichte an, weil es in ihr immer auch darum ging, die einheimischen Plätze zu finden, von denen aus wir die Wahrheit und eine eindeutige Bestimmung unserer Wirklichkeit finden.
Seit Hegel hat man sich angewöhnt, dabei einen Dreischritt ins Denken einzuführen, der eine Grundfigur diskursiven Argumentierens darzustellen scheint:


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Ein jeder Diskurs beginnt mit einer These, einer Markierung, einer Aussage, die sich einem Anderen (Antithese) zu stellen hat, denn kein Diskurs erscheint völlig neu oder an einem reinen, offenen Ort, um sich dort allein einzuschreiben. Aus der Spannung der Ergänzung zwischen neu und alt, zwischen dem, was hinzutritt, und dem, was schon vorhanden ist, eröffnet sich eine Synthese, die erneut in das Geflecht zur These zurückkehrt.
Besonders mit Hegel wird klar, dass die Bewegung zwischen solchen Plätzen für das Denken wesentlich ist. Dies kann man in der „Phänomenologie des Geistes“ z.B. sehr eindringlich studieren. Aber steht bei einem Diskurs nicht noch mehr auf dem Spiel?
Erweitern wir einmal unser Bild um den Platz der Wahrheit:


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Diskurse eröffnen sehr komplexe Reihen von Thesen, Antithesen und Synthesen, um am Ende aber doch immer, wie Thomas Kuhn (1976) es sagt, zu gewissen theoretischen Kernen zu gelangen, die als Zusammenfassung wahrer Ansichten (eines Paradigmas) gelten. Offensichtlich benötigen wir einen Platz der Wahrheit, wenn wir von Diskursen sprechen, denn weder die Thesen oder Antithesen, aber schon gar nicht die Synthesen sind hier willkürlich nach Begründung und Geltung. Sie führen letztlich alle zur Wahrheit; dies ist zumindest das traditionelle Bild von Wissenschaft. Woran liegt das? Die Wahrheit soll als Platz gebildet werden, damit unverrückbar und fest auch für nachfolgende Generationen die schon gebildeten Schlussfolgerungen Bestand haben, damit sich ein Fortschritt im Denken ergeben kann, der auf wahren Grundlagen steht.
Im Grunde ist meine Abbildung aber ein wenig irreführend. These, Antithese und Synthese sind eine Bewegung, eine Prozedur des Denkens, die die Wahrheit in jedem Element generiert. Die Abbildung stimmt nur insofern, wenn wir sie zirkulär begreifen: Auf jeder Stufe wird Wahrheit generiert, aber sie wird erst begründet und geltend gemacht, wenn wir für sie die Generierung selbst problematisieren. Wir stellen also Thesen, Antithesen und Synthesen in Argumentationen auf, um dann aus diesem Zirkel heraus – ganz gleich an welcher Stelle! – den Blick darauf zu richten, dass dies nun eine Wahrheit sei. Diese aber fällt dann scheinbar aus der Prozedur heraus, um fixiert und tradiert werden zu können.
Dazu benötigen wir Beobachter, die diese Wahrheit feststellen. Und Hegels „Phänomenologie des Geistes“ ist deshalb ein so grandioses Werk, weil es diese Beobachter in so vielen Spielarten zeigt: Sinnliche Gewissheit, Wahrnehmung, Verstand, Vernunft (in ihren verschiedenen Weisen) bringen sich in den Dreischritt des Denkens ein, um Wahrheit selbst als eine flüssige Form, als Prozedur, zu erzeugen.
Es entsteht allerdings das Problem, dass die Wahrheit als Verflüssigung immer wieder in eine statische Wahrheit verwandelt wird, wenn sie als symbolischer Inhalt Sinn und Bedeutungen verwalten hilft.
Nun erweisen sich die Hegelschen Begriffe bei Einzelanalysen immer wieder als hilfreich, aber es sind viele Thesen, Antithesen oder Synthesen in größeren Diskursen möglich. Wir suchen verallgemeinerte Kategorien, um Plätze im Diskurs und notwendige Verbindungen aufzudecken (der von Hegel für dieses Problem entwickelten Lösung gehe ich hier deshalb nicht mehr weiter nach, auch wenn die nachfolgende Argumentation implizit mitunter seine Analysen voraussetzt). Da scheint sich folgendes Konstrukt anzubieten:


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Jeder Diskurs scheint von einem Eins auszugehen, d.h. von einer These, von einem Satz, einer Aussage, Behauptung usw., die sich an ein Auch wendet: andere Thesen, Sätze, Aussagen, Behauptungen, also insgesamt Sachverhalte, aber auch an andere Menschen, die als Personen in bestimmten Funktionen (z.B. Wissende, Prüfende, Lesende, Studierende usw.) stehen.
In der ersten Kränkungsbewegung habe ich ausführlich dieses Spiel von Eins und Auch thematisiert. Es ist das Eingangsspiel in jedem wissenschaftlichen Sprachspiel: etwas setzen, um es zu ergänzen; etwas behaupten, um es zu überprüfen; etwas kritisieren, um es zu verbessern; usw. – immer ein Spiel von Eins und Auch.
Hegel sieht dieses Spiel dann als gegeben an, wenn ein subjektives Bewusstsein von einer sinnlichen Gewissheit als reichster Erkenntnis (alle Sinne mögen berührt und offen sein) zur Wahrnehmung (dieses Nehmen selbst ist Reduktion) kommt, weil es nach Wahrheit sucht. Das ist der erste Schritt im traditionellen Diskursdenken! Ich setze etwas, nehme es wahr, betone, behaupte es, usw., um dann in einem zweiten Schritt dieses Eins mit seinen Möglichkeiten (kontemplativ oder aktiv) zu konfron­tieren: Dann erscheinen die Auchs.
Aus solcher Gegenüberstellung muss nichts resultieren; wir mögen das eine gesetzt und etwas anderes auch noch erfahren haben, aber in dieser Stimmung (bloßen Wahrnehmung) verbleibt es: Dann geschieht aber auch kein Diskurs. Ein Diskurs in traditioneller Deutung macht es erforderlich, dass nun mindestens zweierlei zusätzlich geschieht:

  • die Gegenüberstellung selbst kommt erstens zu einer Synthese, indem beide Seiten zu einer Produktion oder Konstruktion, zu einem Her- oder Vorstellen gelangen,
  • diese Synthese erzeugt zweitens etwas Neues: Wahrheit. Diese Wahrheit wird zur Basis für das weitere Agieren, sie fundiert also das nächste Eins, das in den weiteren Gang der Argumentation (des diskursiven Zirkels) eingebracht wird.

Dies ist ein traditionelles Verständnis von Diskursplätzen, das sich implizit für sehr viele Diskurstheorien rekonstruieren lässt. Besonders Lacan hat sich explizit in seiner Diskurstheorie mit solchen Plätzen auseinandergesetzt. Bei ihm stehen das Agens, der Andere, die Produktion und die Wahrheit als Plätze zur Verfügung. Auch wenn ich Lacans Theorie als Anregung schätze und zunächst versucht habe, diese auszubauen, so habe ich erkennen müssen, dass es unmöglich war, sie konstruktivistisch nur zu modifizieren. Insoweit ist in Vermittlung mit den Anregungen ein ganz eigener Ansatz entstanden. Suchen wir also jetzt gezielt Plätze und Besetzungen, die der bisherigen Argumentation entsprechen. Welche Plätze ergeben sich aus einer interaktionistisch-konstruktivistischen Sicht?

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Der Fremdbeobachter, der am äußeren – offenen – Rahmen steht, soll markieren, dass jede Diskurstheorie in Abhängigkeit von Beobachtern steht, die aus der Verständigungsgemeinschaft der Selbstbeobachter herausfallen können. Aus konstruktivistischer Sicht ist dies eine triviale Behauptung, aus der Sicht mancher Diskurstheorien allerdings bereits eine unmögliche, sofern sie darauf bestehen, eine universelle Wahrheit für alle Beobachter herausgefunden zu haben. Solche Theorien vermögen dann für diese Geltung keine internen und externen Beobachter mehr zu unterscheiden, da der Maßstab eines gemeinsamen Beobachtens stets schon als Voraussetzung mitgedacht werden muss. Dann nämlich scheint der Beobachter entweder durch das symbolische System selbst ersetzt werden zu können oder Ausdruck einer universellen Verständigungsgemeinschaft zu sein. Für Konstruktivisten sind solche Positionen unmöglich: In der symbolischen Gefangenschaft einer universalisierten Wahrheit wird die Freiheitsposition des Beobachtens so stark beschränkt, dass alle Weiter- oder Neuentwicklung stets schon vorausgesehen werden muss. Eine solche Position hat sich aber bisher in der menschlichen Kulturgeschichte als die unwahrscheinlichste der denkbaren erwiesen, da die symbolischen Ordnungen stets verändert wurden. Auch die Gefangenschaft durch eine Verständigungsgemeinschaft erscheint als nicht haltbar, da die Vorbedingungen zur Erfüllung selbst als Idealsetzung oder kontrafaktische Bedingung der Möglichkeit von sinnvoll erscheinender Verständigung in eine Reduktion der Beobachtervielfalt führt. Gerade deshalb waren die Kränkungsbewegungen für meine Argumentation entscheidend, da sie die Reduktionen selbst markieren helfen, die solche Unmöglichkeit von Universalisierung verlangen. Das Unmögliche wird nur durch rigide Beschränkungsleistungen oder allgemeine Unverbindlichkeiten (insbesondere hohe moralische Erwartungen, die kaum in der Lebenswelt erfüllt werden) erreicht, um sich damit aber schon als unerreichbar zu dekonstruieren.
Allerdings sieht dies nur der Fremdbeobachter, der die Illusionen von Selbstbeobachtern erkennt. Dies aber bietet auch dem Selbstbeobachter die Chance, seine Gefangenschaft zu verlassen und die Perspektiven zu erweitern, zu wechseln, zu kritisieren.
Der Fremdbeobachter erscheint damit als freie, aber auch zunächst meist unverbindliche oder kritische Position, die im Blick auf Diskurse eingenommen wird. Doch ist dies überhaupt möglich? Je mehr in einer Kultur ein bestimmter Diskurs dominiert, um so stärker wird seine Freiheit eingeschränkt werden. Dann wird aus dem Fremdbeobachter am äußeren Rand des Diskurses ein Selbstbeobachter im Inneren, den wir als Verständigungsgemeinschaft bezeichnen. Diesen Wechselverhältnissen sollten wir noch etwas näher nachgehen.
Der Beobachter kann nie aus der Rolle seiner (kulturbezogenen und lebensweltlichen) Bestimmung von Bedeutung, Sinn, Geltung usw. einer von ihm immer erst zu situierenden Diskurstheorie entbunden werden. Oft sehen wir erst aus Kulturvergleichen heraus, dass es die äußere Beobachterposition gibt. Sie erscheint uns durch das für uns Befremdliche der Diskurse, das für die andere Kultur als Selbstverständlichkeit gilt. In der Post/Moderne erscheinen solche Kulturvergleiche aber immer stärker in einer globalisierten Kultur, die zugleich einen einheitlichen Sinn als Multioptionsgesellschaft verloren hat. Wenn wir hier das Nach- und Nebeneinander von Diskursen betrachten, erscheint die Wichtigkeit der verschiedenen Beobachterpositionen sehr deutlich. Sie markiert nämlich die Möglichkeit, zwischen den Diskursen zu wechseln. Dies erscheint nur demjenigen als unmöglich, der in einer diskursiven Formation gefangen ist.
Nun schließt dies keineswegs aus, dass der Fremdbeobachter bloß Gefangener eines anderen Diskurses in einer anderen Verständigungsgemeinschaft ist. Bei Diskursen ist die symbolische Bevorratung von Wissen bereits so groß, dass als Fremdbeobachter stets schon jemand vorausgesetzt ist, der einiges aus einer anderen Teilnahme heraus verstanden hat. Dies aber erscheint außerhalb von Verständigungsgemeinschaften als unmöglich.
Wenn nun Diskurstheorien aus dieser Unmöglichkeit ableiten, dass deshalb die Verständigungsgemeinschaft im Blick auf dieses Verständigen selbst eben doch eine universelle Leistung erbringen muss (denn die Verbindlichkeit eines sinnvollen Verständigens erscheint ja als Voraussetzung, dass sich die Positionen überhaupt einigend beobachten können), so ist dies allerdings ein reduktiver (kognitivistischer) Trugschluss:

  • Es mag stets Fremdbeobachter geben, die nichts von dem verstehen, was die Verständigungsgemeinschaft mit ihrem Diskurs intendiert, aber doch beurteilen, was sie sehen, meinen, vermuten; hier erscheint die Unverständlichkeit, die das Verstehen leitet und die Dekonstruktion jeder Verständigung bis hin zum Unverständnis antreibt; gerade dieses Phänomen scheint in der Gegenwart sowohl ab- als auch zuzunehmen;
  • Unverständnis kann ich aber nicht damit bezwingen, dass ich es ausschließlich als kognitives Verständigen mit bestimmten Regeln wieder einführe, denn in diesem Zirkelschluss muss ich stets das voraussetzen, was erst bewiesen werden soll; dies ist übrigens die Pointe der Transzendentalpragmatiker gegen ihre Kritiker: Ihr müsst stets schon das voraussetzen, was wir zu beweisen suchen; allerdings verpufft diese Beschränkung in der Lebenswelt, weil die gemeinten Fremdbeobachter schon gar nicht mehr verstehen, was sie hätten verstehen müssen, um zu begreifen, was ihnen fehlt (vgl. dazu Reich 2000);
  • das Unverständnis, das als eine Vorstufe zum wahren Verständnis, das die universellen Geltungsansprüche des Verständigens noch nicht begriffen hat, gesehen wird, zwingt die Fremdbeobachter in eine Verallgemeinerung, die sich in den Widerspruch rückt, aus der Ansicht einer Verständigungsgemeinschaft dominant für alle werden zu müssen; dies aber erscheint nun gerade heute Fremdbeobachtern gegen solche Diskurse als die unwahrscheinlichste Position, weil sie zunehmend lebensfremd wird; die Lebensfremdheit entsteht besonders daraus, dass Verständigung in solchen Theorien – wie z.B. insbesondere der Transzendentalpragmatik nach Apel und anderen – nur als kognitiv-sprachlicher und vernünftiger Vorgang betrachtet wird und kommunikative, affektive usw. Schwierigkeiten ebenso ausblendet wie Fragen der Macht;
  • damit aber wird, dies zeigen alle bisherigen Punkte, der Fremdbeobachter doch auch nur stets aus der Position eines Selbstbeobachters diszipliniert, um sein dekonstruktives Spiel nicht zu weit zu betreiben; dies wird auch jeder Fremdbeobachter für sich zugeben müssen: Die Weite seines Treibens, die Offenheit seiner Blicke, das Wagnis seiner Kritik hängen von dem Freiheitsgrad ab, den er beansprucht, auch zwischen Diskursen zu schwanken und im Nach- und Nebeneinander mit ihnen umzugehen; eine solche Erweiterung der Perspektiven muss immer erst vom Fremdbeobachter geleistet werden; wenn er in einem eigenen Diskurs verharrt und bloß den einen gegen den anderen stehen lässt, dann sinkt die Wahrscheinlichkeit einer Öffnung seiner Perspektiven und die Gefahr einer Universalisierung seines Standpunktes steigt, selbst wenn er einen anderen universalisierenden bestreitet;
  • in diesem Spannungsfeld erscheint aber überhaupt erst der Konstruktivismus, der anerkennt, dass der einheitliche Sinn, eine universalisierende Verständigung als Vorleistung verschwunden sind; eine erzwungene Verständigung für alle ist immer ein Geständnis, und dies benötigt eine Disziplin, die zwingen darf (z.B. im Rahmen der Autorität universitärer Meisterlehren); die Auflösung solcher Verständigung löst auch Geständnisse auf und öffnet – aus der Sicht der traditionellen Vernunft in unerträglicher Weise – der scheinbaren Willkür das Tor zum Platz des wahren Wissens, das pluralisiert, singularisiert, dekonstruiert usw. wird;
  • was aber hindert noch in einer Lebenswelt wie der heutigen, diese Freiheiten von Beobachtern aufzuhalten und sie auf ein Sprachspiel zurückzuzwingen, das die Unerträglichkeit des Verlustes wahren Sinns oder wahrer Anthropologie, wahrer Normen oder Erwartungen usw. überspielen will? Es ist stets das Zurück in eine Verständigungsgemeinschaft von Selbstbeobachtern. Es ist der Zwang zum Geständnis im Gefängnis der Beschränkung des eigenen Sprachspiels. Solche Gefangenschaften werden von der Verständigungsgemeinschaft organisiert. Sie steht deshalb innerhalb der Platzhalterschaft (und, wie wir noch sehen werden, der inhaltlichen Besetzungen in dieser), um die bestimmte Festschreibung einer diskursiven Argumentation zu markieren. Deshalb habe ich bei den einführenden Mindestanforderungen an ein konstruktivistisches Lebensweltmodell auch die Legitimationen als einen Bestandteil notwendiger wissenschaftlicher Selbstreflexion hervorgehoben. Es gibt keinen Diskurs ohne eine solche Verständigungsgemeinschaft, denn Diskurse erfordern ein Mindestmaß an Öffentlichkeit und Veröffentlichung; sie sind weder als Privat­sprache noch bloß als individuelle Liebhaberei zu entwickeln (vgl. dazu nochmals das Privatsprachenargument in Band 1, Kapitel II.1.3.2). Die Verständigungsgemeinschaft kontrolliert das diskursive Geschehen, indem sie para­digmatisch die Plätze des Diskurses feststellt und seine inhaltlichen Besetzungen – nach Kuhn die theoretischen Kerne des Paradigmas – aussagt und nach außen – gegen andere Verständigungsgemeinschaften – verteidigt.

Auch für Konstruktivisten können wir diese Rückkehr in die Selbstbeobachtung feststellen. Aber dies reicht nicht aus, um einen konstruktivistischen Anspruch zu erfüllen. Als Selbstbeobachter will der Konstruktivist immer auch in die Position eines Fremdbeobachters wechseln, er will – nach traditioneller Vorstellung – damit das Unmögliche: Nicht nur re/konstruieren, sondern auch die eigenen Beobachtungen dekonstruieren. Damit wird er in wissenschaftlichen Diskursen hochgradig angreifbar, denn er zeigt viele Perspektiven, die dann für einen Angriff sinnvoll sind. Hinzu kommt, dass er den Sinn seines Argumentierens stets selbst angreifen muss, sofern er nicht im Gefängnis und Geständnis der Selbstbeobachtung allein verharren will.
Hier erscheinen uns die Kränkungsbewegungen, die wir thematisiert haben, noch einmal deutlich. Vor allem jene Verständigungsgemeinschaften, die sich ein letztes normatives Muster universeller Verständigung festhalten, beharren dem Grunde nach auf einem einseitigen Diskurstyp. Das ist konstruktivistisch betrachtet immer problematisch, denn – wie wir gesehen haben und wie ich auch noch weiter thematisieren werde – solche Einseitigkeit ist weder lebensweltlich wahrscheinlich noch hinreichend in der post/modernen Lebenswelt als quasi-neutrale (gerechte, wahre, vernünftige) Norm beanspruchbar. Eine solche Normierung setzte voraus, dass es in der Tat einen letzten (entscheidenden) Diskurs geben müsste, was angesichts der Plätze, die diskursiv zur Verfügung stehen, für den Konstruktivisten schon eine Unmöglichkeit darstellt. Die konstruktivistisch zur Verfügung stehenden Plätze haben sich nämlich gegenüber dem traditionellen Ausgangsmodell verändert. Ich will diese Veränderungen nun interpretieren.

(1) Der Platz des Einen
Ausgangspunkt aller Diskurse scheinen stets Ereignisse, Ziele, Strukturen, Symptome usw. zu sein, die in einer Einheit, als Eins, als das Eine, das wichtig, entscheidend, markant, bedeutsam usw. ist, wahrgenommen werden müssen. Solches Nehmen schließt notwendig die Auswahl eines Eins (des Wahren im Nehmen) als auch die Aktion des Nehmens selbst ein. Dieses Eine muss mit dem Wahren, auf das es rekurriert, aber noch keinen Wahrheitsanspruch verbinden, sondern agiert dieses Nehmen als das, was geschieht: Ich oder wir nehmen dieses Eine wahr und schon scheint ein Platz markiert, von dem aus alles weitere geschieht. Das Eine ist der Platz, der kontemplativ oder aktiv eingenommen wird, um etwas zu markieren, geschehen zu machen, in Gang zu setzen. Wir können eben nicht alles in einen Diskurs werfen, nicht mit allem beginnen, nicht alle Symbolvorräte, Ideen, Imaginationen usw. hier als Platz vorstellen, sondern immer nur eine Auswahl, eine Beschränktheit, mit der wir – wie auch immer – beginnen.
Von vornherein müssen wir allerdings bedenken, dass dies Eine nicht aus dem heiteren Himmel kommt. Auf dem Platz des Einen kann alles Mögliche als Start in jedem Diskurs sitzen. Doch die Möglichkeiten sind an Bedingungen geknüpft, die das Erfinden durch das Entdecken begrenzen. Jede Konstruktion auf dem Platz des Einen steht unter dem Verdacht, Rekonstruktion zu sein, vielleicht sogar unbemerkt. Deshalb haben wir aus lebensweltlicher Sicht Mindestanforderungen an eine konstruktivistische Betrachtung gestellt. Wir scheinen frei, alles auf diesen Platz setzen zu können – und dann los. Das Zirkelspiel unserer Beobachtungen, der von uns wahrgenommenen Strukturelemente und des darüber errichteten Strukturmodells aber sind immer schon vorgängig zu uns als Beobachtern. Unsere beobachtende Freiheit wird durch das subvertiert, was schon geschehen war, bevor wir diese Freiheit hatten. Die Freiheit selbst ist dadurch subvertiert. Dann sitzen wir im Zirkelschluss – und dies ist stets das Anliegen von Diskursen. Hier lohnt eine diskursive Betrachtung und Analyse im Fluss der Argumente, wie wir noch sehen werden.
Eine Doppeldeutigkeit macht deshalb jeden Beginn eines Diskurses aus: Einerseits scheint man frei, jede inhaltliche – auch möglicherweise neue – Besetzung auf diesem Platz unterzubringen, andererseits beginnt schon das Entscheiden für das Eine auf einer Grundlage. Dies ist einführend bei den Mindestanforderungen an eine konstruktivistische Lebensweltanalyse bereits deutlich geworden. In dem hier vertretenen Diskursmodell wird es uns wieder begegnen, wenn wir die Zirkularität der Plätze und möglicher Besetzungen untersuchen.
Auch für den Konstruktivismus ist ein Platz wesentlich, an dem etwas markiert wird. Ich kann nur in Aktion des Diskurses treten, wenn etwas geschieht oder unterbleibt (eine besondere Form des Geschehens). Es gibt verschiedene Beobachter, die hierüber Feststellungen treffen können.
Ist dies nun ein universeller Platz? Beginnt nicht alles immer mit Einem? Könnten wir uns nicht versteifen, dass genau dies eine anthropologische Tatsache sei?
Es lassen sich unzählige Beispiele anführen, mit denen wir logisch die Notwendigkeit des Einen gegenüber dem Anderen beweisen können. Unser konstruktivistisches Modell, um Mindestanforderungen an eine Lebensweltanalyse festzulegen, war auch ein solcher Beweis. Nur müssen wir als Konstruktivisten reflektieren, dass solche Beweise trotz der naheliegenden Versuchung, sie zu universalisieren, bloß Konstrukte sind. Dies mag gerade den Wissenschaftler beleidigen, weil er doch oft denkt, alles besser und logischer als Andere herausgefunden zu haben. Aber diese Beleidigung ist mittlerweile Alltag der Wissenschaft. Sie hat ihre Heiligkeit verloren und steht ernüchtert als ein Blick neben anderen: Dein Beweis, ja, er ist logisch, aber wozu ist er gut? Wozu können wir Anderen ihn gebrauchen? Oder schärfer meist: Bemerken die Anderen überhaupt, wozu da etwas gut sein soll? Dieses Dilemma kann man von Kants Behauptung eines vernünftigen Aprioris (etwa seine Regeln zum ewigen Frieden) bis hin zur Transzendentalpragmatik von Apel studieren: Eine sehr logische Argumentation, wie Verständigung für alle vernünftig erscheint, wird breit entfaltet, ohne dass diese Vernunft in der Lebenswelt die Relevanz erreichen konnte, die ihr – logisch gesehen – zukommen müsste. Das aber ist der eigentliche Sinnverlust der Wissenschaft: Menschliche Verständigungsgemeinschaften gebrauchen Wissenschaft nicht in dieser Einseitigkeit, weil sie nicht vorwiegend wissenschaftlich-logisch leben. In der weiteren Argumentation wird es deshalb auch darauf ankommen, die wissenschaftlichen Diskurse als nur eine Spielart der diskursiven Möglichkeiten zu zeigen.
Die lebensweltliche Verknüpfung von Verständigungsgemeinschaften und Behauptungen von wahren Diskursen erzwingt für eine konstruktivistische Sicht den Verzicht auf eine Metalogik für alle Verständigungsgemeinschaften (denn eine solche wertneutrale oder übermenschliche Gemeinschaft gibt es nicht) ebenso wie die Bevorzugung der nur einen vernünftigen Verständigungsgemeinschaft, die alle zu belehren hat.
Wir begründen dies aus der lebensweltlichen Beobachtung von verschiedenen Beobachtern, die es zwischen/in/gegen Kulturen gibt: Fremdbeobachter, die außerhalb der Diskurse sitzen und auf diese schauen; Selbstbeobachter, die in den Verständigungsgemeinschaften existieren.
Auch dem Leser bleibt es überlassen, zwischen der Position des äußeren Beobachters und dem Verständnis z.B. der hier vertretenen Verständigungsgemeinschaft interaktionistischer Konstruktivisten hin und her zu wechseln. Der Sinn meiner Konstruktion ist nicht universell. Er ist auch nur dann einleuchtend, wenn wir durch die Konstruktion etwas für die Re- und Dekonstruktion von Diskursen gewinnen. Das aber muss erst noch gezeigt werden.
Nehmen wir diese Argumente an, dann können wir aus der Sicht eines Fremdbeobachters sofort geltend machen, dass das Vorhaben unserer Vergabe von Plätzen des Diskurses bereits eine zu problematische Setzung ist. Ist diese Setzung nicht  gänzlich willkürlich? Und schleichen sich in dieses Verfahren nicht auch bestimmte Momente der Vereinseitigung, der Ethnisierung, wenn wir auf den Kontext einer bestimmten kulturellen Herkunft schauen, und damit der  Kolonialisierung gegenüber anderen Sichtweisen ein?
Es ist in der Tat ein post/moderner und damit schon gespaltener Blick: Wir sind sicher, dass wir als Beobachter Plätze verteilen dürfen und können; wir sind ferner sicher, dass alles von einer gesetzten Bewegung seinen Anfang nimmt: Wir nehmen zunächst das Eine wahr, von dem aus alles zu beginnen scheint; aber ebenso sicher sind wir auch, dass wir dies nicht allmächtig und alleine vollbringen können. Dies ist nicht nur der Blick eines postmodern inspirierten Konstruktivismus, sondern einer der noch geltenden Moderne überhaupt. Sie sucht sich ihre Kraft in einer ersten Gewissheit zu bestimmen.
In Hegels „Phänomenologie des Geistes“ ist dies die erste Stufe der sinnlichen Gewissheit, die in die zweite Stufe der Wahrnehmung immer dann umschlägt, wenn eine Aussage in der Verständigung von Menschen erreicht werden soll. So behaupten wir uns in einem selbst gewählten Ausgangspunkt, der schon im ersten Blick sich einen Überblick verschaffen will: Da ist etwas markiert, davon können wir ausgehen. Dies ist ein Grundgedanke jeder Aufklärung: Beobachte die Dinge genau, erkenne und bestimme die Welt. Der Glaube an fremde Mächte, die uns bestimmen, ist erschüttert, der Siegeszug der Wahrnehmung und Beobachtung als Bewusstwerdung unserer eigenen Mächtigkeit ist uns zunehmend gewiss geworden. Nur die Untätigkeit erzeugt eine selbst verschuldete Unmündigkeit, von der Kant spricht. Die bewusste Wahrnehmung aber scheint Garant eines Fortschritts. Und deckt sich dies nicht mit industriellen Fertigungserfahrungen? Am Anfang ist eine Zielorientierung, die die Wahrnehmung des Eigeninteresses bedingt. Also z.B.: „Ich will diese Ware herstellen, um Gewinn zu erzielen.“ Dann stellt sich dem eine Schwierigkeit entgegen, eine Differenz zwischen Ziel und Resultat. Aus dieser Spannung heraus entstehen Lösungsversuche der Konstruktion bzw. Produktion, deren Wirkungen am Ende in der Wirklichkeit des Marktes erprobt werden. Gelingt die Verwirklichung, dann bleibt dies nicht ohne Einfluss auf das Ziel, dessen Wahrnehmung eben noch Ausgangspunkt war.
Dies ist der Sog der Moderne. Aber zugleich fühlen wir uns in ihr, von ihr entfremdet: Dies ist der Reiz, sie als Postmoderne zu denken.
In einer Gesellschaft, die sich auf das Machen orientiert, die sich konstruktivistisch begreift, die sich eine Evolution zugesteht und hierin eine Entwicklung hin auf etwas anderes, die zugleich aber auch zugesteht, dass dies alles ein Vorgang von Handlungen sein soll – dabei sogar von Wahrnehmungen eigener Interessen ausgehen soll – ist dieser Platz des Einen notwendig. Er ist sinngebend für den Ausgangspunkt aller Aktionen: Im Einen selbst müssen Kriterien und Bestimmungen gesetzt sein, die uns zu weiteren Handlungen forttreiben.
Dabei ist das Eine an dieser Stelle allerdings ambivalent. Einerseits kann es in bloßer Einfalt verharren: Wir nehmen dies Eine und lassen es wirken. Dann kümmern wir uns nicht weiter darum. Damit aber begründen wir als Selbstbeobachter auch keinen Diskurs. Wenn wir hingegen aus dem Einen heraus zu Handlungen gelangen, die mit dem Einen operieren – das Experiment, der Instrumentalismus, die Waren- und Gedankenproduktion sind hierfür Sinnbilder –, dann erscheint es als erster Platz eines (auch) diskursiven Verhaltens.
Für die Fremdbeobachter allerdings bleibt immer die Möglichkeit, überall Diskurse zu sehen. Sie können sie selbst dort sehen, wo die Selbstbeobachter meinen, gar keinen Diskurs geführt zu haben. Sie meinten vielleicht bloß so zu leben, wie es alle tun, aber der Fremdbeobachter erkennt aus seiner anderen Perspektive eine Bedeutung, die er als Diskurs proklamiert.
Deshalb ist es für eine konstruktivistische Diskurstheorie sehr wichtig, den Diskursbegriff sehr weit zu halten. Aus der Sicht jener Verständigungsgemeinschaften, die sich selbst öffentlich als Diskurs aussagen, indem sie Diskurse an Wissensbedingungen knüpfen, fallen – wie Foucault folgerichtig betonte – mittels Ausschließungen meistens schon alle anderen relevanten Diskurse heraus, die in der Lebenswelt ihre Netze knüpfen. Nur der Fremdbeobachter kann solche Verknüpfungen enttarnen, nur der Fremdbeobachter des Fremdbeobachters die darin versteckte diskursive Formation dekonstruieren usw.
Das Eine ist ein mächtiger Platz. Auf ihm muss man zunächst etwas zur Geltung bringen (als Selbstbeobachter, wenn ich meinen Diskurs begründe, als Fremdbeobachter, wenn ich den Diskurs von Anderen als meinen führe). Eine Bestätigung für die Relevanz des Platzes finden wir darin, dass es uns schwerfällt, eine Alternative für ihn zu finden.
Wovon nimmt in westlichen Gesellschaften, in Industrieländern und im Ka­pitalismus alles seinen Anfang? Scheinbar immer von der Vereinfachung. In ihr steckt auch der Beobachter, der seine Beobachtungen macht. Hier erscheint die Heraufkunft der Beobachter (vgl. Band 1, Kapitel I). Es wird nicht nur in der Wissenschaft (empirisches Sinnkriterium) diesem Platz eine hohe Bedeutung zugesprochen, sondern auch im Alltag: Die Wahrnehmung des Einen (das Wichtige, Bedeutsame, Relevante, Sichtbare, Gewisse usw.) scheint stets das zu sein, auf das wir am meisten vertrauen können.
Den Platz des Einen beobachten unterschiedliche Beobachter. Sie schwanken zwi­schen Selbst- und Fremdwahrnehmung. Insoweit können die symbolischen Inhalte, die den Platz des Einen einnehmen, sehr unterschiedlicher Natur sein. Über diesen Platz können alle Beobachtungsvorräte agieren. Die Ereignisse, die hier Platz greifen, scheinen nicht begrenzbar, aber sie müssen im konkreten Fall  immer auf ein Eins begrenzt werden. Dies ist die grundlegende Paradoxie dieses Platzes und damit aller Diskurse.
Aus der bisherigen Argumentation wissen wir, dass in der Post/Moderne scheinbar alles diesen Platz einnehmen kann. Aus konstruktivistischer Sicht mögen wir betonen, dass das Eine eben jenes geistige oder materielle Konstrukt sei, was Ausgangspunkt einer Beobachtung, einer Unterscheidung wird, die im Netzwerk von Beobachtungen und Unterscheidungen sich dann fortpflanzt, teilt, faltet, multipliziert usw. Und so wird es sich uns in unterschiedlichen Konfigurationen von Diskursen auch gleich noch zeigen: Das Eine ist der Platz, der offen für alle Inhalte/Beziehungen von Welt und Lebensformen ist, wenn die Macht, diesen Platz einzunehmen und für Beobachter/Verständigungsgemeinschaften besetzt zu halten, nur groß genug ist.
Aus der Gesamtargumentation dieses Buches wissen wir aber auch, dass es keine inhaltliche Einheit ohne menschliche Beziehungen gibt, weil die Mächtigkeit, mit der Inhalte verteilt und vertreten werden, nur illusionär als reine Aufgabe und Fragen von Theorie begriffen werden können. Insoweit stehen hinter allem, was uns als das Eine in Diskursen angeboten wird, immer Beziehungen und über diese vermittelte Mächte, und es gehört gerade zu den Spezifika einer konstruktivistischen Diskurstheorie, möglichst diese Hintergründigkeit gegen das Eine zu entbergen.
Hinter oder neben dem symbolisch vermittelten Einen steht als motivierender Antrieb, vielleicht auch als Unbewusstes oder als Unmögliches, zudem immer das Imaginäre, nach dem ebenfalls der Beobachter diskursiv greift (deshalb führten wir in Kapitel III einen Diskurs auch über die imaginäre Beziehungswirklichkeit). Hier findet der Diskurs seine eigenen Unschärfen, wie gleich noch zu diskutieren sein wird.

(2) Der Platz des Anderen
Ein Eins hat immer ein Gegenüber. Alles, was als das Eine erscheint, richtet sich auf etwas. Steht dabei eine Sache, ein Gegenstand, Ding usw. im Vordergrund, so erscheint als Anderes ein Platz der Differenz: Ein Eins bezieht sich auf einen Unterschied, der einen Unterschied macht. Die inhaltsorientierten Beobachter beziehen ihre Beobachtungen immer auf solche Vereinseitigungen, um mit Gegenständen, Dingen, manipulierbaren Sachen und Sachverhalten umzugehen, die sie als das Eine aufgenommen haben, um es nun in ein Anderes zu verwandeln. Im Grunde scheint dies das Eine nur zu präzisieren oder zu ergänzen, aber diese Präzisierung oder Ergänzung bedeutet eben eine Differenz: Das Eine bleibt sich nicht gleich, es bleibt kein stilles Abbild, das unberührt gelassen wird, sondern es wird auf Sachen, Gegenstände, Dinge usw. – auf ein Anderes – bezogen. Das Eins zerfällt in die vielen Auchs, so haben wir bereits mit Hegel gesehen. Die Auchs aber zeugen von Differenzen.
Das Eine ist ein offener Platz, aber er wird mit Interessen und Intentionen belegt. Ein Interesse leitet mich, etwas auf diesem Platz als das Eine hervorzuheben. Das Andere zeigt: Nicht alle folgen meinem Interesse, es gibt Widerstände, Unterschiede. Eine Intention leitet mich, hier etwas zu bevorzugen. Das Andere zeigt: Die vielen Auchs müssen erst meinen Intentionen einverleibt werden. Wir nehmen etwas und machen es zu dem Einen, das wir einsetzen: In diesem Sinne verstehe ich den ersten Platz.
Aus der Spannung zwischen dem Einen und dem Anderen ergeben sich Aussichten auf den nächsten Platz: die Konstruktion. Im Vor- und Herstellen wird als Experiment, Erprobung, Instrumentalisierung, Verobjektivierung usw. erzeugt, was eindeutige Regeln finden, klare Bestimmungen definieren, Techniken realisieren und Waren fertigen kann. Wir nehmen zunächst das Eine wahr, um dann mittels (kontemplativer oder aktiver) Handlungen uns auf ein widerständiges anderes oder Andere zu beziehen, die sich uns entgegenstellen. Dabei entstehen inhaltliche Schwierigkeiten, Probleme, die zu lösen sind. Insoweit erzeugen die Plätze des Einen und des Anderen ein Spannungsverhältnis, denn erst aus solcher Spannung werden wir angetrieben, eine Lösung zu suchen. Wo das Eine für sich bleibt, da ist zumindest für den Selbstbeobachter kein Diskurs erforderlich. Dies ist eine Gefahr unseres Modells der Mindestanforderungen: Ich setze diese Anforderungen, beschreibe eine Tableau der notwendigen Reflexion, und schon scheint sich alles in diese Felder einordnen zu lassen. Aber wo bleibt die Bewegung, die diese Einordnung immer erst erzeugt?
Deshalb bilden wir jetzt ein neues Modell: Nur die beobachtete Spannung im Verhältnis zu Differenzen erzeugt einen Wechsel der Plätze.
Nach meiner interaktionistischen Theorie sind es immer Beziehungen zu a/Anderen, die die Hintergründigkeit aller Aktionen abgeben. Aber solche Hintergründigkeit mag gerade in Diskursen verborgen sein, denn sie verschleiern allzu oft die Beziehungsseite, indem sie uns symbolische Angebote (also nicht den Anderen, sondern das Andere) unterbreiten, um die Beziehungen zu versachlichen. Dennoch lauert hinter dem Platz des Anderen stets die Beziehung: Das Eine richtet sich versachlicht auf ein schon verobjektiviertes Abstraktum (das Andere), aber menschlich a/Andere stehen dabei immer gegenüber, sofern wir die Subjekte beobachten, die hier vorhanden sind – imaginäre andere und symbolisch Andere. Allerdings können diese Subjekte versachlicht erscheinen. Sie wirken über die Rituale der Interaktion als Personen, Rollen, Habitus, Status, Prestige, Imago, sie beziehen sich auf Macht und Autorität, sie erscheinen in Strukturen von Institutionen und Funktionen.
Nun haben wir allerdings ein weiteres Problem: Richtet sich das Eine nun vorrangig auf sachlich Anderes oder persönlich a/Andere? Sind alle Sachen bzw. Inhalte in Beziehungswirklichkeiten eingebettet oder deutet der Begriff „Anderes“ auch die Möglichkeit an, dass die Bewegung bloß auf der Inhaltsebene stattfinden kann? Wir haben es mit einem doppeldeutigen Platz zu tun:
Die beziehungsorientierten Beobachter werden es für unvermeidlich halten, dass jede Aktion, jede Bewegung in irgendeinem Sprach- oder Denkspiel immer an andere Menschen gerichtet ist, also notwendig als Gegenüber zunächst immer Beziehungen herstellt. Interaktionen sind dann die Basis allen menschlichen Agierens, Handelns usw. Dieser Platz entspricht in dieser Betonung unserem interaktionistischen Anspruch, denn wir hatten behauptet, dass alle komplexere und damit notwendig unschärfere Situierung von Erkenntnis Interaktionen mit einschließt. Dies gilt in mehrfacher Weise, wie ich hervorgehoben habe:

  • zunächst ist gar kein Selbst und damit auch niemand, der etwas vertritt, ohne einen a/Anderen, d.h. ohne Beziehung, überhaupt denkbar;
  • sodann ist jede symbolische Vermittlung von Wissen/Wahrheit/Diskursen immer an eine symbolvermittelte Interaktion rückgebunden;
  • schließlich ist jede menschliche Kommunikation imaginär über die Spiegelung eines anderen vermittelt, was uns zu der Aussage führte, dass solcherart die Beziehungswirklichkeiten immer weitreichend in die Herausbildung symbolischer Ordnungen – und damit auch in die Ordnung von Diskursen – eingreifen.

Wenn wir die Beziehung auf dem Platz des Anderen dem Einen gegenüberstellen, dann reflektieren wir eine Bewegung, deren Bedeutsamkeit für die Erkenntnistheorie des 20. Jahrhunderts immer unabweisbarer wurde. Gleichwohl müssen wir gerade für die Immanenz von Diskurstheorien anerkennen, dass in ihnen meist der Platz des Anderen nur als inhaltliche Differenz dominant ist. Diskurse tragen hier beziehungsauslöschenden Charakter, sie versachlichen und entflechten Aussagen gerade von den Beziehungen, so dass wir meist als Fremdbeobachter erst fragen können, was dem Selbstbeobachter im Diskurs entgeht: Steht hinter deinem Ansatz der Differenz nicht immer auch ein Platz der Beziehung auf Menschen? Und solch ein Platz ist durchaus im Abstraktum der Differenz (des Anderen) implizit eingeschlossen: Schließlich wird auch hier ein Unterschied erzeugt, der Unterschiede macht. Daher will ich explizit für diesen Platz stets doppeldeutig fragen: Nach der Differenz und der Beziehung. Ich sehe also stets die Verdopplung: Das Andere und den/die a/Anderen.

(3) Der Platz der Konstruktion
Das Eine, das sich auf Andere/s richtet, erzeugt eine Wirkung, die wir als Konstruktion, im engeren Sinne auch als Produktion, als Herstellung  beobachten können. Sie mag bloß geistiger Natur sein oder auch materieller Art, sie mag bloß Wirkungen antizipieren oder auch direkt in Realität umsetzen, aber die Konstruktion ist immer erreicht, insofern das Eine überhaupt Andere/s trifft, um dann in eine Vermittlung beider Seiten umgesetzt zu werden.
Solche Konstruktionen erscheinen, das habe ich mehrfach dargelegt, allerdings in einer Vielfalt von Möglichkeiten, aus denen drei Klassen in meiner Beobachtertheorie hervorragen:

  • Als Rekonstruktionen stehen sie unter der Dominanz der Wiederherstellung,  die unter dem Anspruch steht, auf Bestehendes, Traditionelles, bereits Konstruiertes zurückzugreifen. Hier dominiert das Entdecken gegenüber dem Erfinden.
  • Als Konstruktionen verweisen sie auf Innovatives, Kreatives, auf Neues. Hier dominiert das Erfinden gegenüber dem Entdecken.
  • Als Dekonstruktionen lösen sie den Überschwang der re/konstruktiven Entdeckungs- und Erfindungsgabe auf. Die jeweilige re/konstruktive Lösung erscheint in ihrer Fragwürdigkeit, was in das Handeln eine kritische Reflexion auf die Bedin­gungen dieses Handelns einführt.

Diese drei Beobachterklassen lassen sich auch auf die Produktion beziehen. Produktionen sind vor allem im Bereich der Warenherstellung meist Reproduktionen, d.h. die Wiederherstellung von seriellen Mustern in Massenfertigung. Die moderne Industrie und der Massenkonsum fußen auf solcher Serialität, auch wenn die Werbungspsychologie oft das Gegenteil – nämlich eine Pseudo-Individualität – propagiert, um ein scheinbar Neues und Kreatives zu betonen. Solche Formen der Innovation, des Kreativen und des Neuen, gibt es auch im Bereich der Warenproduktion, aber sie sind bei Profitorientierung meist nur flüchtige Momente im Strom des Entwerfens von Prototypen, die sich die Warenproduktion allenfalls als Antrieb neuer Serialität leisten kann. Die Dekonstruktion geht der Warenproduktion als bewusster Vorgang hingegen oft ab. Besonders als Destruktion der eigenen Bedingungen erscheint sie immanent z.B. in der Automation, die als Totengräber des eigenen Systems fungiert: Je umfassender automatisiert wird, desto weniger Arbeitskräfte werden beschäftigt, desto schwieriger wird die Verwertung der Waren nach ihrer Tauschwertseite.
Die Konstruktion ist – nach der hier geübten begrifflichen Konvention – ein umfassenderer Beobachterplatz als die Produktion (vgl. Kapitel IV.3.3.1.3): Sie ist aufgrund der Breite des Blickens nicht auf die Notwendigkeiten des Produzierens in gegebener Produktionsweise gebunden. Die Produktion zielt schwerpunktmäßig auf ein bestimmtes (wert- und profitorientiertes) Herstellen; die Konstruktion schließt alle Möglichkeiten des Vor- und Herstellens ein.
Konstruktion kann auch reines Vorstellen bleiben, in dem nichts gegenständlich hergestellt wird. Erst in dem Wechsel auf den Platz der Wirklichkeit wird sich zeigen, was das Vor- und Herstellen für Wirkungen erzielt.
Auch hier wird wie für jeden anderen Platz, den wir diskutieren, ein Beobachter benötigt, der solche Wirkungen beobachten und sich eine gezielte Beobachtung daraus ableiten will.
Nun ist es schon eigentümlich, dass der Ort der Konstruktion/Produktion von dem Einen etwas weiter abgerückt ist und mit dem Anderen in direkterer Verbindung steht. Dies ist von den Plätzen her kein Zufall, denn die Konstruktion, die als Wirkung beobachtet werden kann, erscheint gegenüber dem Ausgangspunkt, dem Einen, ja als ein Unterschied, als eine Veränderung, die erst durch die Spannung zum Anderen aufgebaut wurde. Das Eine, das mit sich selbst identisch ist, ist für Konstruktionen uninteressant. Erst vermittelt über das Andere entsteht die Notwendigkeit, konstruktiv zu werden. Um als Konstruktion zu wirken, benötigt das Eine zuvor einen Widerstand, ein Gegenüber, eine Aufhebung durch eine Differenz. Dies gilt selbst für Serienfertigungen. Sie müssen sich als Produkte gleichen, als Verkaufsgegenstände unterscheiden. Wir werden gleich noch sehen, dass dies ein folgenreicher Umstand ist.

(4) Der Platz der Wirklichkeit/des Realen
Die Konstruktion als eine eingetretene Veränderung, als markierter Unterschied, bleibt nicht folgenlos, sondern kehrt in gewisser Weise als Grundlage zu dem Einen zurück, ohne zu völliger Übereinstimmung zu gelangen. Als Wirkung ist sie das Resultat von Handlungen. Die Konstruktion hat eine Wirkung erzielt; diese wird festgehalten, symbolisch notiert oder markiert, was den Platz der Wirklichkeit besetzt. Konstruktivisten behaupten gerade deshalb, dass wir als Beobachter, als handelnde Menschen, die Wirklichkeit konstruieren. Und auch Diskurse, von denen wir hier handeln, implizieren diese Zirkularität.
Gegenüber traditionellen Diskurstheorien (und auch gegenüber Lacan) verwandle ich den Platz der Wahrheit in einen der Wirklichkeit. Wahrheit kann kein Platzhalter mehr sein, sondern nur noch eine Besetzung.
Dies könnte man mir als einen Widerspruch auslegen, der meine Unwissenschaftlichkeit zeigt. Ich spreche von Diskursen, ohne zu bemerken, dass ich mit dem Konstruktivismus selbst schon einen Diskurs anführe, der meine Redeweise legitimiert. Die Wahrheit muss ein Platz sein, denn sonst könnten wir nicht mehr wissenschaftlich sprechen. Aber ich ersetze diesen Platz durch die Wirklichkeit. Das erscheint dem Kritiker, der den Platz der Wahrheit hier erhalten will, als unreflektiert, unbegründet, als Mangel an Logik.
Aber genau diese Kritik verkennt die Radikalität der neuen, konstruktivistischen Sichtweise, um sich im alten Denken erhalten zu können. Auch dieses alte Denken kennt ja schon den Widerspruch, sich nur aussagen zu können, indem sie sich schon ausgesagt hat. Die eleganteste Lösung wäre es, wenn man diesen Widerspruch anerkennt und logisch bezwingt: Wir wissen, dass es widersprüchlich ist, aber wir können diesen Widerspruch dadurch auflösen, dass wir seine Gültigkeit, seine Reichweite, seine Begründbarkeit und Bewährung selbst logisch erklären und unsere Lösung dann verbindlich machen. Dann können wir den Platz der Wahrheit erhalten.
Der interaktionistische Konstruktivismus kann die Logik solcher Verständigungsgemeinschaften – etwa der Transzendentalpragmatiker – gar nicht logisch widerlegen. Sie haben sich mit solcher Logik in einen Diskurs des Wissens eingekapselt, der seine eigene Geltung erzwingt, ohne jedoch eine lebensweltliche Gültigkeit erzwingen zu können (vgl. dazu meine Auseinandersetzung mit der Transzendentalpragmatik 2000). Und dies gilt vielfach auch für Konstruktivisten, sofern sie ihr wissenschaftliches Sprachspiel als neue, universelle Wahrheit markieren, oft ohne es zu bemerken.
Ihre Bewährung bleibt stets als Ideal ausgesetzt: Seht diese Konstruktion, sie ist logisch gültig, aber die Menschen befolgen sie eben noch nicht alle. Es fehlt offensichtlich an Vernunft. Und deshalb sind sie angetreten, den Menschen die Vernunft zurückzugeben. Aber damit zirkulieren sie bloß in der Vernunft, in der Kognition; sie vereinseitigen das Leben auf eine enge Beobachtungslogik. Der konstruktivistische Ansatz hingegen stellt sich keiner engen Logik allein, sondern schaut weiter: In die Kränkungen solcher Logik, in die Unschärfe, die wir hinnehmen müssen, wenn wir nicht im Schneckenhaus Universität das Leben verschlafen wollen. Und schärfer noch: Die Transzendentalpragmatiker oder andere verbleibende Letztbegründer, die am Platz der Wahrheit als Endpunkt der diskursiven Reflexion festhalten, sind eben nicht Analytiker wie Foucault, weil sie die aufgestellte Logik nur begründend durchdenken und die Bewährung in der Lebenspraxis vernachlässigen. So entgeht ihnen das, was der eigenen Logik aus anderen Beobachterperspektiven widerstreitet: Die Wahrheiten wechseln nicht nur, sie sind als Wissen auch stets mit Macht, Disziplin(ierung), Vereinseitigung verbunden.
Eine Einschränkung meiner Kritik will ich vornehmen. Meine Sympathien gelten der Transzendentalpragmatik und mehr noch Habermas insoweit, wie sie als kontrafaktische Forderung an die Verständigungsgemeinschaft deren Schwächen offenbar werden lassen und durch ihre Forderungen zumindest sichtbar werden lassen, was als kontrafaktisches Ideal bleibt (vgl. dazu Band 1, insbes. Kap.1.3 und 2.4). Diese Leistung ist nicht zu unterschätzen.
Auch in Lacans Diskurstheorie ist die Wahrheit in einem traditionellen Sinne noch ein Platz. Die Besetzungen sind bei ihm der Meistersignifikant, das Wissen, das Begehren (a), das Subjekt. Eine konstruktivistische Diskurstheorie aber hat den Platz der Wahrheit, auf dem sich ein wahres Wissen situieren könnte (= die Psychoanalyse?) verloren. An die Stelle des Platzes der Wahrheit rückt die Wirklichkeit, die zwar mit einer Wahrheit (neben anderen!) besetzt sein kann, aber diese Besetzung ist heikel, weil im Laufe der Zeiten am Platz der Wirklichkeit die Wahrheiten wechseln. Auch den Meistersignifikanten von Lacan übernehme ich nicht in die interaktionistisch-konstruktive Diskurstheorie, da er sich auf eine enge strukturalistische Sprachinterpretation stützt. Nein, aus meiner Sicht ist es vielmehr die Wahrheit (in ihren Variationen) selbst, die in Diskursen zirkuliert, an verschiedenen Plätzen sich einnistet. So kann die Wahrheit auf den Platz der Wirklichkeit gelangen, aber nie die Wahrheit einer alles umgreifenden Wirklichkeit sein. Die Wirklichkeit selbst ist ohnehin nur ein Platz neben anderen, aus unserer Sicht in diesem Sprachspiel mit dem Wechselspiel des Einen, des Anderen und einer vermittelnden Konstruktion verbunden.
Warum fallen die Plätze der Konstruktion und der Wirklichkeit auseinander? Ist nicht jede Konstruktion explizit oder implizit schon Wirklichkeitserzeugung?
Implizit trifft dies gewiss zu. Jede Konstruktion erzeugt ihre eigene Wirklichkeit. Aber dies bedeutet noch nicht, dass dies auch explizit von einer Verständigungsgemeinschaft oder einem größeren Kreis von Beobachtern erkannt wird. Die Explikation richtet sich nach den Wirkungen der Konstruktionen, die nicht mit dem Vorgang des Konstruierens (einer Wirklichkeitserzeugung) gleichgesetzt werden sollten. Erst in der Wirklichkeit (Realität), d.h. z.B. erst auf dem Markt, innerhalb einer wissenschaftlichen Verständigungsgemeinschaft, innerhalb bestimmter Machträume usw. entfalten sich Wirkungen, die als Wirklichkeit von größeren Menschengruppen gesehen und anerkannt werden. Der Platz der Konstruktion mag so z.B. dem Erfinder zukommen, aber ob dieser Erfinder als ein weltfremder und realitätsloser Spinner am Platz seiner Konstruktion gilt, oder ob er breite Anerkennung in einer anerkannten (aber von wem?) Wirklichkeit findet, das wird an zwei unterschiedlichen Plätzen ent­schieden. Der Platz der Wirklichkeit entscheidet so gesehen über Erfolg oder Misserfolg der Konstruktionen, zumindest über Geltung oder Sinnlosigkeit, wobei der Druck der Anerkennung durch größere Menschengruppen hergestellt wird.
Das Maß der Wirklichkeit ist bei Ernst von Glasersfeld die Viabilität, eine vorwiegend biologisch gedachte Passung, der sich Konstruktionen zu stellen haben (vgl. Bd. 1, Kapitel II.1.5.1.2). Wer aber entscheidet darüber letztlich? – die Verständigungsgemeinschaft. Als deren differenzierteste rationale Form kennen wir die wissenschaftliche Verständigungsgemeinschaft, als sehr rigide und schwankende aber bestimmt im Kapitalismus der Markt die Erfolgsgeschichten. Seine Mechanismen üben ihre Kraft bis hinein in die angeblich freien wissenschaftlichen Urteilsbildungen aus. Insoweit ist der Platz der Wirklichkeit im Kapitalismus besonders heikel. Allerdings scheint er mir in jeder Kultur heikel zu sein, denn die Wirklichkeitsdefinitionen sind immer ein Ort mehr oder minder subtiler Machtansprüche. Diese definieren sich im Gebrauch, einer Viabilität, die durch den kulturellen Kontext – darin aber eben auch selektive Interessen – hergestellt wird.
Kapitalistische Viabilität aber zerfällt in unendliche Möglichkeiten des Gebrauchs und des Tauschs. Aus diesen ragt in jedem neuen Zirkel, der diskursiv durchschritten wird, das Eine heraus, das in der Wirklichkeit entstanden ist, um über die Wirklichkeit als neue Wirklichkeit zu zirkulieren.
In solcher Zirkulation sind die hier vorgestellten Plätze ethnozentrisch geprägt: Westliche, kapitalistische Plätze sind erfolgsorientiert; sie wollen eine Wirklichkeit sich im Sinne einer Berechnung und Kontrolle des Erfolgs festhalten und dies an alle ihre Aktionen zurückbinden. Ihre Platztheorie ist im Grunde sehr einfach: Mache eine Tat, stelle sie in einen Kontext (überwiegend von Sachen, teilweise von Beziehungen), erzeuge etwas Neues (produziere/konstruiere), und halte dir die Wirkungen so fest, dass sie das nächste Mal deine Handlungen effektivieren (suche nach der Wirklichkeit als Ordnung). Insoweit entlarvt sich meine konstruktivistische Diskurstheorie als westliche Ethnozentrik. Aber indem wir dies erkennen, verneinen wir auch jede Universalität, was bedeutet, dass wir andere Ethnozentriken nicht ausschließen können und wollen. Besonders Konstruktionen aus anderen Kulturkreisen, die aber angesichts der Globaliserung immer schwieriger zur Geltung kommen können, sollten andere Sichtweisen entwickeln können. Deshalb habe ich den Fremdbeobachter außerhalb des Diskursrahmens situiert, um damit zu signalisieren, dass aus dieser Position unterschiedliche Diskursarten re/de/konstruiert werden können. Für einen Konstruktivisten bedeutet dies die Aufforderung, sich ständig auch als Fremdbeobachter gegenüber dem eigenen Diskurs zu denken, also möglichst zu versuchen, andere Beobachterpositionen als die vorausgesetzten eigenen einzunehmen. Eine dekonstruktive Herausforderung! Gleichwohl wird dies nicht verhindern, dass er dabei innerhalb von etablierten Verständigungsgemeinschaften Vorlieben praktizieren wird. Die Position des Fremdbeobachters steht stets unter dem Druck einer Vereinnahmung aus selbstbeobachtenden Perspektiven.
Doch noch in anderer, noch grundlegenderer Sicht ist der Platz der Wirklichkeit sehr heikel. Die Wirklichkeit ist stets durch die Ereignisse gebrochen, verstört, subvertiert, in denen das Reale wirkt. Zwar sehen wir es immer erst im Nachhinein, aber wir stellen es in solch staunender, erschrockener, verstörter Sicht als etwas fest, das unseren vermeintlich symbolisch sicheren Wirklichkeiten eine Grenze zuweist: Das Loch, die Lücke, das nicht Vorhersagbare, das am Ende so Unwahrscheinliche, das als größter angenommener Unfall meist hinweggedacht wurde; all dies gelangt am Platz der Wirklichkeit zur Sicht, wenn das Reale erscheint. Es subvertiert unsere Wirklichkeiten, und es gehört aufgrund der damit verbundenen Ängste mittlerweile zum guten symbolischen und imaginären Spiel, dass wir gerade in unseren virtuellen Wirklichkeiten massenhaft ein antizipiertes Reales in Form von Horror, Serienmördern, Unglücken und Katastrophen simulieren. Die Serialität seiner virtuellen Eroberungen scheint unsere Wirklichkeiten zu schützen, denn der Horror im Film- und Fernsehkonsum inflationiert das Reale, um es zugleich als virtuelle Wirklichkeit zu verbergen. Doch wir entkommen ihm nicht, weil und insofern wir den massenmedialen Effekten unserer Zeit nicht entgehen können.
Das Reale schauen wir immer erst im Nachhinein. Es drängt uns, in die diskursiven Zirkel zurückzukehren und über die Wahl des Einen sogleich Differenzen oder Beziehungen zu organisieren, die vermittels Konstruktionen den Platz der Wirklichkeit wieder sicher machen. Einen dauerhaften Schutz jedoch können wir nicht erreichen.
In den Kränkungsbewegungen habe ich immer wieder auf die Eigentümlichkeit des Wechselverhältnisses von Realität (Wirklichkeit) und Realem hingewiesen. Auch eine konstruktivistische Diskurstheorie kann nicht alles in bewusste Konstruktionen von Wirklichkeiten aufgehen lassen, sondern hat den Bruch im (stets schon re/de/konstruierten) Wirklichen anzunehmen, der für Überraschungen, Unwägbares, Unheimliches, aber auch für Kreatives und zu Bestaunendes steht.

(5) Die Verbindungen der Plätze
Die Plätze sind Plätze von Beobachtern, die von einem Platz zum anderen sehen, die sich Perspektiven bilden, was notwendig zu Verengungen, zu Ausschließungen, damit aber auch zu Bestimmungen, zu Abfolgen, Ketten von Argumenten führt, die auf Plätzen siedeln und wuchern, die wachsen und geerntet werden; was zu Figurationen von Sprach- und Denkspielen führt, die wir schließlich Diskurse nennen.
Solche Verbindungen scheinen einer strengen Kausalität zu unterliegen, denn hier werden die Plätze in strikter Abfolge absolviert, d.h. die Blicke und Perspektiven sind gerichtet, sie schweifen nicht ziellos umher, sondern situieren sich an festgelegten Orten und beziehen sich von einem Ort auf den anderen. Und trotz­dem ist die Kausalität durchbrochen, indem sich in der Bewegung immer ein Zirkel schließt, ein hermeneutischer, wenn man will, ein systemischer oder zirkulärer, wie es im Konstruktivismus heißt. Denn wenn wir den Kreis der Blicke und Perspektiven schließen, wenn wir die Vernetzungen der Orte auf­einander beziehen, dann löst sich die Enge einer kausalen Ausschließlichkeit in die Zirkularität einer rückgekoppelten Bewegung auf. Alles, was von dem Einen ausgeht, kehrt zu ihm zurück und verändert es. Dies gilt gleichermaßen für alle anderen Plätze.
Als Fremdbeobachter dieser hier aufgestellten Diskurstheorie – also in der Absicht der Selbstdekonstruktion – möchte ich zunächst einige kritische Fragen an diesen Ansatz richten, um Problemlagen zu verdeutlichen:
Ist nicht auf den Plätzen des Einen, des Anderen und der Konstruktionen die Wirklichkeit stets schon inbegriffen? Wie kann sie als isolierter Platz erscheinen? Auf die erste Frage will ich antworten, dass dies Inbegriffensein in der Tat notwendig gilt. Es gibt ja nicht die Wirklichkeit, sondern eine Wirklichkeit im Einen, auf das man sich festlegt, im Anderen, auf den oder das man sich bezieht, in den Konstruktionen, die selbst Wirklichkeiten schaffen. Deshalb ist keiner der Plätze isoliert zu begreifen. Die Plätze sind notwendig zirkulär, aber sie erscheinen in einer Ordnung, die wir als Beobachter uns aufstellen, um uns besser nachvollziehbar zu machen, wie Diskurse sich aufbauen und in sich selbst kreisen.
Bei Konstruktivisten gibt es diesbezüglich immer wieder problematische Auffassun­gen über Wirklichkeit. Entweder verabsolutieren sie die bloß individuelle, solipsistisch erscheinende Welt als Wirklichkeit, oder sie überhöhen die wirkliche Welt durch eine Hinterwelt (insbesondere die Natur oder natürliche Vorgänge), aus der das eigene konstruierende Wirklichsein abgeleitet wird. Die Wirklichkeit aber ist nur ein Platz in dem Sprachspiel, das wir Diskurs nennen. Und darin, dies ist meine Behauptung, ist sie auch nie ständig zugegen, sondern unterliegt phasenweise dem Vergessen: Jetzt denke ich nur an dies Eine und vergesse alle (weitere) Wirklichkeit; jetzt bin ich in der Spannung zum Anderen und vergesse die Wirklichkeit; im Konstruieren selbst ist das Wirklichkeitsvergessen geradezu sprichwörtlich; also denken wir uns diesen Platz: Wirklichkeit. Auf diesem kehrt für die Fremd- und Selbstbeobachter alles das ein, was wir eben noch vergessen haben. Es ist nur eine Unterscheidung, die wir treffen, aber Unterscheidungen sind eben in dieser Zirkulation der stete Ausgangspunkt für diskursive Reflexion.
Ist der Selbstbeobachter nicht Gefangener seiner Verständigungsgemeinschaft? Wie kann es ihm dann überhaupt gelingen, seine eigenen Perspektiven zu erweitern?
Als Selbstbeobachter in einem Diskurs sind wir immer Gefangene der Regeln und Normen einer Verständigungsgemeinschaft, ob uns diese nun bewusst oder unbewusst sind. Allerdings zeigt nun gerade die Entwicklung der Kränkungsbewegungen, dass die Selbstbeobachter sich in ihrem Dilemma zunehmend erblicken konnten. Sie müssen dabei – auf verschiedenen Ebenen, wie ich noch darlegen werde – erkennen, dass ihre Position zwar notwendig, aber nicht hinreichend ist. Notwendig ist z.B. auch für Konstruktivisten die Anerkennung durch eine Verständi­gungs­gemeinschaft, die das konstruktivistische Sprachspiel für sinnvoll, viabel, pragmatisch nutzbar usw. hält. Aber Konstruktivisten müssen zugleich anerkennen, dass sie nicht das einzige Sprachspiel auf der Welt betreiben. Im Nach- und Nebeneinander der Diskurse können und müssen sie dabei andere Möglichkeiten anderer Beobachterperspektiven zugestehen. Dann aber wird es notwendig, den engeren Kreis der Selbstbeobachtung zu verlassen und in den Zirkel der Verständigung mit anderen Diskursen und Verständigungsgemeinschaften einzutreten. In der Form der Abrechnung („die können das nicht, die sind blind an dieser Stelle“, „die schließen das aus“; usw.) dominiert dabei die Abgrenzung, die meist den Mangel trägt, den eigenen Ansatz bloß gegen mögliche Einwände zu immunisieren. Die Betonung einer systemimmanenten Eindeutigkeit führt dann dazu, dass die systemtranszendente Hinterfragung zu kurz kommt. In der Form der Zuschreibung symbolischer Vereinfachung („die kommen aus der und der theoretischen Ecke“, „das kennt man schon von dem defizitären Ansatz“, „das hat damals schon nichts gebracht“; usw.) verteidigen sich die Selbstbeobachter gern und suggerieren zugleich, dass sie die Anderen doch zur Kenntnis genommen haben. Doch all diese Abrechnungen, Abgrenzungen und vereinfachenden Zu­schreibungen, die in theoretischen Diskursen unvermeidlich auftreten, müssen nun gerade dem Konstruktivisten als besonders problematisch erscheinen. Da er in seinem Diskurs behauptet, dass die Re/De/Konstruktion erst Wirklichkeiten und Wahrheitsbesetzungen schafft, so kann er nicht einfach andere Ansätze in ihrer Selbstbeobachtung vernichten oder übergehen, sondern müsste sie – was eine große Selbstüberforderung darstellt – kritisch in seinem Ansatz aufheben.
Aufhebung bedeutet gegenüber den anderen Strategien die Suche nach kritischer Verwendbarkeit, nach den Gründen für und weniger gegen, nach der Verbindung mit und nicht der Unverbindlichkeit. Diese offene Position ist durch die Produktion von erkenntnistheoretischer Unschärfe gefährdet. Gleichwohl ist es ja nun diese Unschärfe, die die Erkenntnis in der Gegenwart beunruhigt. Und deshalb erscheinen gegenwärtig zunehmend mehr Konstruktivisten, die aus solcher Beunruhigung zwar eine Theorie der Selbstbeobachtung konstruieren, dabei aber deutlich anerkennen müssen, dass der Fremdbeobachter für sie zu einer notwendigen dekonstruktiven Position wird, die sie als offene Verständigungsgemeinschaft immer mitbedenken sollten.
Führt ein solches Denken des Aufhebens aber nicht in die Beliebigkeit, wobei der Konstruktivismus dann sogar zu einem Sinnbild für den jeweiligen Mainstream, die Politik des jeweils massenhaft dominanten Diskurses wird?
Diese Gefahr besteht dann, wenn der Konstruktivismus überwiegend subjektiv und nicht zugleich sozial aufgefasst wird. Insoweit besteht für den Konstruktivismus nicht nur das Erfordernis einer Beobachtertheorie, die vielfältig und vielseitig schauen will, sondern auch die kritische Reflexion auf eigene Teilnahmen in den Handlungen und auch Beobachtungen. Die darin immer schon enthaltenen und meist nicht direkt sichtbaren selektiven Interessen bilden einen Kontext, den auch der Konstruktivismus nicht übergehen kann. Um dies zu reflektieren, schlägt der interaktionistische Konstruktivismus deshalb eine Anknüpfung an den Pragmatismus vor, der bisher zu sehr – insbesondere im radikalen Konstruktivismus – übergangen wurde. In ihm finden wir sowohl die Idee der Konstruktion als auch des kulturellen Kontextes, den wir immer schon in Interaktionen und Kommunikationen voraussetzen . Erst eine solche Anknüpfung an kulturelle Kontexte, wie es neben dem interaktionistischen Konstruktivismus auch der Kulturalismus von Peter Janich versucht, vermag die Beliebigkeit einzuschränken.
Die Beliebigkeit kann auch innerhalb des konstruktivistischen Diskurses vermieden werden. Zunächst entsteht folgende Frage: Ist der Fremdbeobachter nicht immer auch Teil einer Verständigungsgemeinschaft? Wie aber soll er, wenn er Verständigungsgemeinschaften unterliegt, noch relativ frei auf andere Diskurse anderer Verständigungsgemeinschaften schauen? Dieses Mitbedenken bedeutet zunächst, dass Konstruktivisten sich mehr als andere Theorien in andere Positionen hineinversetzen müssen, um nicht im dogmatischen Schlummer ihres Symbolsystems zu verharren. Dann aber werden sie aus der Position der Fremdbeobachtung mit anderen Verständigungsgemeinschaften konfrontiert. Dieser Positionswechsel bedeutet, dass man zuerst die Intentionen und Prozeduren dieser anderen Ansätze aus deren Perspektive heraus verstehen muss, was zunächst Verzicht auf eigene Rechthaberei bedeutet. Aber ist dieser Verzicht überhaupt durchführbar? Es bieten sich zwei Lösungen an:
Die eine Lösung ist unter der Intention einer universalistischen Verständigungsgemeinschaft hinreichend bekannt. Aus dieser Sicht sind Fremd- und Selbstbeobachter von vornherein gezwungen, sich an gewisse Regeln des Sprachspiels zu halten, wenn Verständigung – auch aus unterschiedlichen Perspektiven – überhaupt möglich sein soll. Hier wird, wenn man es boshaft formulieren will, eine gemeinsame Rechthaberei a priori festgelegt. Diese Lösung bleibt konstruktivistisch gesehen unbefriedigend, weil sie entweder ins metaphysische Denken zurückfällt oder sich dessen Folgeprobleme auflädt. Dies habe ich in den Kränkungsbewegungen problematisiert.
Die zweite Lösung hingegen ist unangenehm. Sie zerfällt nicht nur in prinzipielle Unübersichtlichkeit – die könnte ja noch irgendwann von jemandem geordnet werden (wenngleich dies äußerst unwahrscheinlich ist) –, sondern erweist das Unübersichtliche als das Unterschiedene und Widersprüchliche, als Pluralität, Mangel an Verständigung auf gemeinsamer Grundlage, als Singularität von Ereignissen, Ambivalenz von Deutungen usw. aus. Dabei darf nicht übersehen werden, dass es für jeden Fremdbeobachter einen anderen Fremdbeobachter gibt, für den er in die Position des Selbstbeobachters rückt. Hier gibt es keinen Meta-Beobachter als „wirklich besseren“. Zudem bedingt die Reihenfolge und Hierarchie von Beobachtungen selbst schon eine Verständigung konstruktivistischer Selbstbeobachter, die sich ihren Fremdbeobachter schon aus der eigenen Perspektive denken und deuten. Dieses Denken und diese Deutung müssen wir von der möglichen Konfrontation mit tatsächlichen Fremdbeobachtern unterscheiden. Die Notwendigkeit dieser Unterscheidung erscheint besonders dann, wenn wir aus dem Beobachterbereich einer engeren, traditionellen wissenschaftlichen Beobachtung (die dargestellten Kränkungsbewegungen) hinaustreten und in die Beobachterbereiche der Beziehungswirklichkeit und Lebenswelt eintreten. Hier erscheint das Unangenehme: Wissenschaft kann nur vereinseitigend ihre Beobachtungen von der Pluralität, Unübersichtlichkeit, Ambivalenz usw. reinigen. Konstruktivisten aber, wie ich sie verstehe, weigern sich, diese Reinigung unreflektiert oder beliebig mitzumachen. Sie lassen sich auf die Lösungen, die unangenehm sind, selbst ein.
Dieses Einlassen, so denke ich und dies verstehe ich als konstruktivistisch, lässt uns Möglichkeiten der Beobachtung in relativer Freiheit, sofern wir bereit sind in inhaltliche und beziehungsmäßige Metakommunikation einzutreten. Dies wird gleich zu unserem entscheidenden Problem werden: Wie lassen sich die genannten Plätze so besetzen, dass wir für Diskursanalysen beide Seiten der Metakommunikation, die nichts anderes als einen reflektierten Wechsel von Selbst- und Fremdbeobachterpositionen meinen, realisieren?
Diese Frage werde ich Schritt für Schritt argumentativ zu beantworten versuchen. Wir werden dabei verschiedene Diskurstypen entwickeln, um aber erst aus deren Zusammenhängen heraus erkennen zu können, wie der geforderte Wechsel ermöglicht werden kann.
Als Besetzungen für die Plätze schlage ich folgende Elemente vor:

 

W1 = Wahrheit
W2 = Wissen
a = imaginäres Begehren
A = Andere
S = Subjekt

 

 

 

 

W1 = Wahrheit
Die Wahrheit ist für den Konstruktivisten immer eine Angelegenheit auf Zeit, ein Absolutes, das der Relativierung unterliegt, ein Eins, das seine Auchs hat, und wir schreiben sie bei schwierigeren Problemen, die nicht technischer oder konventionell eindeutig geregelter Natur sind, im Plural als Wahrheiten. Gleichwohl erscheinen die Wahrheiten erst im Nach- und Nebeneinander der Diskurse, in den einzelnen Diskursen aber zirkuliert notwendig die Wahrheit. Es ist eine Wahrheit, die in Diskursen traditioneller Art oft als Übereinstimmung von (äußerem) Sachverhalt und (wahrer) Sachaussage gedeutet wird. Selbstbeobachter benötigen solche Wahrheit. Fremdbeobachter dekonstruieren sie als eine unter vielen. Deshalb ist die Wahrheit auch kein Diskursplatz, sondern eine Besetzung von Plätzen in Diskursen. Wir werden im Detail sehen, was diese Besetzung bedeutet.

W2 = Wissen
Das Wissen scheint zunächst alles Wissen zu sein, das plurale Wissen, das immer in Verbindung mit Wahrheiten steht. Allerdings haben wir in den Kränkungsbewegungen erfahren, dass sich dieses Wissen nie als reiner Ort zeigt, sondern als eine machtvolle Besetzung von Plätzen. Als solches Wissen ist es hier gemeint. Die Selbstbeobachter denken gerne, dass ihr Wissen auf den Plätzen alles Wissen sei, was notwendig und hinreichend den Diskurs führen lässt; die Fremdbeobachter dekonstruieren dies als Illusion. Wahrheit und Wissen stehen immer in einer direkten Verbindung, denn sie definieren und begrenzen sich gegenseitig.

a = imaginäres Begehren
Das Imaginäre zerfällt in unzählige Vorstellungen und Projektionen, wobei der Begriff des Begehrens uns hilft, den Antrieb der Prozedur zu bezeichnen. Subjekte scheinen vom Begehren getragen zu sein, motiviert, angespornt usw. Solche Imaginationen zeigen sich als Mehr-Lust, als Lösung einer Imagination, die auf mehr des­selben drängt, aber auch als unerfüllte oder unerfüllbare Wünsche, Träume, Illusionen. Der Selbstbeobachter ist sich seiner Imaginationen oft sicher, aber meist weniger bewusst; der Fremdbeobachter rekonstruiert und dekonstruiert sie aus der Distanz. Dabei ist nie zu vergessen, dass der Fremdbeobachter, wenn wir ihn denn beobachten, ebenso ein imaginäres Begehren zeigt. Die Position a bezeichnet vereinfachend für die imaginäre Seite eine Bewegung von a nach a', wie sie weiter oben (Band 1, Kapitel II.3.5) ausführlich beschrieben wurde. Diese Bewegung von der eigenen (a) zur durch andere beeinflussten, rückgekoppelten (a') Vorstellung ist immer als Hintergrund zu denken, wenn wir diese Seite in der Diskurstheorie vereinfachend nur mit a bezeichnen.

A = Andere
Andere sind auch Subjekte, aber sie werden aus der Position des Subjekts als „wirklich“ Andere, als Außenstehende wahrgenommen. An den Wirkungen der Außenwelt bemerken wir diesen Anderen, der sich nur selten so verhält, wie wir es wünschen. Wir müssen ferner zugestehen, dass aus jedem Anderen sofort ein Subjekt wird, sofern wir die Blickwinkel wechseln. Der Selbstbeobachter definiert Andere, um sich überhaupt positionieren und aussagen zu können.

S = Subjekt
Subjekte sind auch Andere, aber sie werden aus der Position des Subjekts als jene Position definiert, in der der eigene Ansatz, die Identität, die Selbstbehauptung und alles weitere, was mit Selbst beginnt, dominieren.

Ein Beobachter kann als Selbst- oder Fremdbeobachter nun diese vorgegebenen diskursiven Plätze mit diesen Besetzungen versehen. Er scheint sich frei auf diesen Plätzen und mit den Besetzungen bewegen zu können. Was sollte ihn hindern? Er kann mit seinen Beobachtungen an beliebigen dieser Diskursplätze sich aufhalten und von ihnen aus seine Perspektiven entfalten. Und dennoch wird er über kurz oder lang genötigt, die Plätze zu wechseln, um Verbindungen aufzuspüren, die anderen Ortes erzeugt werden. Insoweit werden Beobachter nie frei sein, Besetzungen und Platzauswahlen willkürlich vorzunehmen. Auch die hier vorgestellten Plätze und Besetzungen, die ich gleich für konkrete Diskurstypen diskutieren will, sind nicht willkürlich. Es sind konstruierte, kulturell und ethnozentrisch geprägte Diskursannahmen. Die hier vorgestellten Plätze sind ein Konstrukt einer voreingenommenen (positiv formuliert: begründeten) Ortsbestimmung für Diskurse. Allerdings fordern sie als interaktionistisch-konstruktive Diskurstheorie (in der Selbstbeobachtung) notwendig Fremdbeobachter heraus. Mögen diese andere Plätze und Besetzungen finden, aber es wird sich jedem Beobachter zeigen, dass er stets mehrere Plätze und Besetzungen benötigen wird, um Diskurse zu re/de/konstruieren. Und er wird den Wechsel in seinen Beobachtungen selbst benötigen, um nicht in engen kausalen Zuschreibungen systemische Wirkungen von Diskursorten zu übersehen.
Die strikte Zirkularität in meinen Diskursbildern habe ich zuvor (Reich 2005, Kapitel 4) dadurch ausgedrückt, dass ich die Subjekte und Andere in den Bildern selbst durch­gestrichen habe: S markiert dann, dass im Durchlauf durch den Diskurs das Subjekt nie sich selbst gleich bleiben kann, sondern durch die Bewegung selbst, die Rückkopplung, verändert wird. Dies gilt ebenso für A. Ein solcher Zusatz mag helfen, die Symbolik als statische stets zu hinterfragen.
Aber im Grunde müssten wir dann alle Besetzungen durchstreichen, denn im Durchlauf bleibt meistens nichts sich gleich. Es sei denn, dass W1 dazu dient, eine Wahrheit zu verewigen: Dann ist zumindest die Intention auf eine Kontinuität des Unveränderlichen gerichtet. Als Konstruktivisten erkennen wir recht schnell, dass solche Intentionen nur gewisse Zeitperioden währen. Und mit dem Platz der Wirklichkeit betonen wir, dass hier prinzipiell (schon durch das Wirken des Realen) Durchstreichungen an der Tagesordnung sind.
Hier wird man fragen können, weshalb ich dem Realen nicht einen eigenen Diskurstyp gestatte. Ist das Reale nicht die prinzipielle Durchstreichung aller herkömmlichen Diskurse?
Dies trifft dann zu, wenn wir das Reale schauen und konstruierend verarbeiten. Dabei aber wird es stets symbolisch oder imaginär einverleibt, so dass es, obwohl es die durchstreichende Grenze in der Wirklichkeit uns bezeichnet, in diese Wirklichkeit diszipliniert zurückkehrt. Damit wird das Reale selbst durchgestrichen, es verliert seinen Schrecken oder wir verlieren unsere Unkenntnis, ohne dass damit irgendetwas auf Dauer bezwungen werden kann: Das Reale bleibt die stete Grenze.

Der interaktionistische Konstruktivismus schlägt die Markierung dieser Diskursplätze und Verbindungen als plausibles Platzkonstrukt für unseren Kulturkreis vor, obgleich er sich eingestehen muss, dass

  • es bloß ein Konstrukt für eine bestimmte Zeitepoche und in dieser für bestimmte gesellschaftliche Vorannahmen ist,
  • es damit keineswegs universell begründet noch für alle Fälle eindeutig genug ist,
  • es als Konstrukt zugleich auch einengend für die Betrachtung von Diskursen wirkt und daher nur eine Möglichkeit darstellen kann, Diskursanalysen zu betreiben,
  • andere Konstruktivisten auch andere Plätze und Besetzungen dieser Plätze finden mögen und werden.

Seine Begründung findet dieses Konstrukt allenfalls im Gebrauch, der zu überraschenden Einsichten, zu neuen Blickweisen führen mag. Und in dieser Hinsicht kann es für jeden Konstruktivisten lehrreich sein, seine Wahl von Plätzen mit diesen hier vorgelegten abzugleichen und sich an ihnen kritisch abzuarbeiten und abzugrenzen.
Mit den Plätzen fordere ich dazu auf, sich über die Zirkularität von Argumenten Aufschluss zu geben: Was ist auf dem Platz des Einen, des Anderen, der Konstruktion, der Wirklichkeit situiert?
Schauen wir zurück auf die Kränkungsbewegungen, so können wir feststellen, dass sie in direkter Verbindung zur konstruktivistischen Diskurstheorie stehen.
Der ersten Kränkungsbewegung entspricht, dass die Wahrheit als eindeutiger Platz verschwunden ist. Wahrheit kann allenfalls eine Besetzung auf einem der Plätze sein, aber es gibt sie aus konstruktivistischer Sicht nicht mehr als eindeutigen Platz. Wir können diesen Platz als Wirklichkeit beschreiben und gewinnen so eine größere Aufmerksamkeit für unsere eigene Ambivalenz: Das, was wir für wirklich halten, und das, was uns als Reales erscheint, werden sich hier geltend machen. Aber wie lösen wir das Problem des Erscheinens von Eins und Auch, absolut und relativ, in der Diskurstheorie? Offensichtlich müssen wir Besetzungen einführen, die sowohl das Eins als auch mögliche Auchs bezeichnen helfen. Hier ist es nicht unerheblich, dass das Eine den Auchs in doppelter Weise konfrontiert ist: Es richtet sich stets auf das Andere oder den/die a/Anderen als Auchs; zugleich steht hinter/vor ihm in der Wirklichkeit stets auch das Auch, das seine Einheit subvertiert. Es ist in Diskursen die größte Naivität, das Eine nur als das Eine sehen zu wollen. Vom Platz des Starts eines Diskurses ist also das Auch nie nur als Gegenüber, sondern stets auch als Voraussetzung vorgegeben. Diese strikte Zirkularität gilt auch für die anderen Plätze.
Der zweiten Kränkungsbewegung entspricht, dass ich als Platz des Anderen nie nur die sachliche Differenz sehe, sondern immer nach der Beziehung frage. Diese Beziehung muss sich in Besetzungen niederschlagen, die konkrete Subjekte und Andere umfasst.
Die dritte Kränkungsbewegung hat uns enthüllt, dass das Unbewusste sich stets gegen das Bewusste (Wissen, Wahrheit) geltend macht. Dann wird es unumgänglich sein, einen Diskurs auch des Unbewussten einzuführen.
Schauen wir auf das einführende Modell der Mindestanforderungen für eine konstruktivistische Lebensweltanalyse zurück, dann wird durch die zirkuläre Verknüpfung der vergebenen Plätze deutlich, dass in dem Diskursmodell nun stärker die Bewegung des Diskurses reflektiert werden kann.

 

4.3. Vier ausgewählte Diskurstypen

Am Beispiel von vier Diskurstypen will ich mögliche inhaltliche Besetzungen der Plätze des Diskurses verdeutlichen und damit auch Antworten auf die Erfordernisse aus der Reflexion der Kränkungsbewegungen geben. Auch Lacan verwendet vier Diskurstypen und dabei Plätze und Besetzungen, die sich jedoch deutlich von den hier vorgeschlagenen unterscheiden. Die von mir gegebene Auswahl der Diskurse ist nicht zufällig, sondern folgt der bisherigen rekonstruktiven Analyse. Gleichwohl lassen sich mit diesen vier ausgewählten Diskurstypen nicht alle diskursiven Phänomene deuten (vgl. Kapitel IV.4.6).
Ich unterscheide dabei den „Diskurs des Herrn“ als klassische Form eines autoritären Diskurses, der klar Macht und Abhängigkeit zu regeln scheint und sich als Macht des Glaubens oder einer (oft absolut gesetzten) Wahrheit entfaltet; den „Diskurs des Wissens“ als eine aufgeklärte Form, die auf die Macht der Relativität des Wissens bei gleichzeitiger Wahrheitsbehauptung der eigenen Vernunft pocht; den „Diskurs von Beziehungswirklichkeiten“, in dem es um die Beziehungen als verstandenes Wissen zu gehen scheint; schließlich den „Diskurs des Unbewussten“, der Grenzbedingungen einer Bewusstheit von Diskursen überhaupt offenbar werden lässt.
Am Beispiel dieser vier Diskurse werde ich inhaltliche Besetzungen der Plätze von Diskursen zunächst in sehr allgemeiner Hinsicht diskutieren.

(a) Der Diskurs des Herrn
Wie besetzen wir nun die Plätze? Das ist zunächst die Entscheidung, wer die Plätze besetzt: Welche Beobachter stehen zur Verfügung?
Einerseits haben wir äußere Beobachter. Wir beobachten einen Diskurs und ziehen über ihn und die in ihm agierenden Personen Schlüsse. Wir sind hier Fremdbeobachter. Andererseits sind wir meist selbst in Diskurse verstrickt; wir sind Selbstbeobachter, die von innen schauen und sich einen Blick von außen imaginieren.
Sodann hängt es ganz vom Diskurstyp selbst ab, was wir sehen. Dies wird uns der Diskurs des Herrn sogleich verdeutlichen. Wir gehen dabei in zwei Schritten vor. Zunächst analysiere ich nochmals immanent den Diskurs des Herrn nach Hegel (aa). In einem zweiten Schritt werden daraus Konsequenzen für eine Diskurstheorie aus konstruktivistischer Sicht gezogen (ab).

(aa) Nehmen wir eine Sicht dieses Diskurses, wie sie von Hegel in seinem Abschnitt über „Herr und Knecht“ in der „Phänomenologie des Geistes“ differenziert analysiert wurde (vgl. dazu Kapitel II.2.1.). Wie sind hier die Plätze besetzt?

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Auf der Stelle des Einen sitzt der Herr, denn er ist Ausgangspunkt aller Aktionen gegen Andere, insbesondere gegen Knechte. Für sich hat er die Furcht des Todes abgestreift, riskiert sein Leben, um andere Menschen dazu zu bringen, sich zu unterwerfen. Ganz gleich, an wen er sich als Anderen richtet, so setzt er an die Stelle dieses Anderen sein Heldentum und seine Kampfeskraft, die allein Unterwerfung hervorrufen können. Nur Herren, die sich selbst als Andere nicht unterwerfen, bleiben Herren. Von diesem Wissen müssen sie ausgehen, und dieses Wissen steht ihnen stets gegenüber. Deshalb pochen Herrenkulturen auch auf dieses Wissen, das als Helden- und Kampfeslehre vorrangiges Ziel ihrer Übungen und Gebärden bleibt. In seinen machtvollen Gesten zwingt der Herr die Knechte dazu, sich doppelt zu produzieren: Einerseits produzieren sie ihre Unterwerfung, indem sie den Herren nachgeben, andererseits produzieren sie für die Herren den Lebensunterhalt, damit diese als Herren sich reproduzieren können. Diese doppelte Produktion macht Knechte aus. Allerdings reflektiert die doppelte Produktion der Subjektivität von Herren und Knechten schon auf die Zirkularität des Prozesses, denn indem die Herren die Unterwürfigkeit der Knechte erzwingen, erzeugen sie am Platz der Wirklichkeit als Folgewirkung zugleich ihr Herrendasein, denn alle ihre Aktionen beweisen die wahre Wirklichkeit ihrer Herrschaft. Diese Herrschaft kehrt als Erfahrung für die Herren wie für die Knechte ständig wieder, und die gedankliche Antizipation dieser Wiederkehr lässt eben die Knechte aus Angst vor der Gewalt schuften, um den Herren ihren Lebensstandard und damit ihre Freiheit, gegen Knechte kämpfen zu können, stets neu herzustellen. Der Herr aber fühlt sich am Platz seiner Wirklichkeit autonom – als wahrer Herr.
Wie beobachtet sich hierin der Herr selbst? Er muss vor allem die Zirkulation beobachten, denn keiner der hier behaupteten Plätze darf fehlen, wenn sein Diskurs sicher sein soll. Stets müssen die Aktionen von ihm, dem Herrensubjekt ausgehen. Ständig richten sie sich auf andere Subjekte, die Knechte, aber nicht unvermittelt, sondern stets über den Habitus – sein Heldentum, seine Ehre, seine Kampfesbereitschaft, seine Macht und Gewalt – vermittelt. Diese andere Seite ist wesentlich, denn sie erzeugt Knechte, die sehen, dass es nicht um die willkürliche Tat bloß eines Subjekts, eines Herren geht, sondern dass dieser Eine immer schon bei Anderen (seiner Art) ist. Diese Voraussetzung erzeugt die Beziehung zum Herrn als Produktion knechtischen Verhaltens, reproduziert schließlich ein Verhalten, das einerseits Unterwerfung und andererseits Arbeit für den Herrn darstellt. Die Folgen aus dieser Unterwerfung und Arbeit erscheinen als Wirklichkeit des Herrn: Je stärker alle seine Aktionen zirkulieren und zu dem gewünschten Ziele führen, um so höher ist seine Macht und Autonomie.
Allerdings muss der Herr aufpassen, denn in der Zirkulation selbst lauert ein Feind seines Diskurses. Erstens muss die Zirkulation tatsächlich immer wieder hergestellt werden, was den Herrn zu immer neuen Aktionen zwingt. Zweitens muss er deshalb aber rüstig bleiben und sich selbst zwingen, weder Todesfurcht aufkommen zu lassen noch sein Waffenhandwerk und andere Drohgebärden zu vernachlässigen. Da sein Gegenüber sein eigenes Heldentum und seine Kampfeskraft ist, muss er diese ständig betonen, an seiner Selbstbeherrschung arbeiten und geeignete Kampfesspiele einführen, um ständig gewappnet zu sein. Drittens lauert dauernde Gefahr durch andere Herren, die versuchen könnten, sich an ihm zu vergreifen, weil es in der angestrebten Autonomie selbst keine Vernunftgrenze gibt, die einem sagen könnte, dass es nun genug sei. Aus diesen drei Gründen ist der Herr in seiner Selbstbeobachtung sehr stark von seinen kämpferischen Tugenden abhängig, die er als Zwang gegen sich kultiviert und bei Risiko seines Lebens immer praktiziert. Damit jedoch verwandelt sich das Ziel seiner Autonomie, die in seinem Diskurs auf den Platz der Wirklichkeit sitzt, in eine systemische Folge seines Unvermögens, tatsächlich autonom zu sein: In seiner scheinbaren Autonomie werden ihm Zwänge auferlegt, die damit aber auch diese Autonomie im Grunde verhindern.
Schlimmer noch kommt es für den Herrn, wenn wir ihn von außen beobachten. Wir bemerken, dass er zwar entscheidende Plätze im Diskurs in bestimmter Weise besetzt hat, dass aber gerade in dieser Besetzung schon sein Feind lauert. Zwar erzeugt er die Unterwerfung des Knechtes durch Gewalt und Macht, aber dadurch, dass der Knecht nun für ihn arbeitet, untergräbt er seine eigene Autonomie, denn er macht sich in seiner Reproduktion, in der Beschaffung seiner Nahrungsmittel und seines Lebensunterhaltes, von diesen Knechten abhängig. Die Zirkulation im Wechselspiel mit Anderen erzeugt systemische Netze, die der Selbstbeobachtung entgehen mögen. Interessiert sehen wir dann als äußere Beobachter, wie sich Herrensysteme selbst zugrunde richten, indem sie ihr Heldentum vernachlässigen, verweichlichen und damit alle Kampfeskraft für dauernde Unterwerfung verlieren; oder indem sie den Kampf gegen die Knechte soweit verschärfen, dass sich der Herr dadurch selbst ruiniert; oder wir sehen, dass die Herren untereinander kein Maß mehr kennen, so dass ihre wechselseitigen Kämpfe sie so sehr schwächen, dass die Knechte auf einmal den Aufstand proben usw.

(ab) Der Diskurs des Herrn in dieser von Hegel exemplarisch analysierten Form erscheint in allen Beziehungen dieser Welt immer wieder, nur die Namen der Protagonisten wechseln. Wir erleben solche Diskurse als Rekonstruktionen vergangener Herrensysteme, die uns immer wieder faszinieren. Wir sehen ihn bis heute in Konflikten und kriegerischen Auseinandersetzungen rund um die Welt immer wieder aufflammen. Oft erscheint uns dies wie eine Bedrohung aus archaischen Urgründen, die wir zivilisiert nicht mehr verstehen wollen. Gleichwohl erleben wir diesen Diskurs aber nicht nur auf der Makroebene gesellschaftlicher Systeme, sondern auch in den Mikroebenen in unserem Alltag, wo er auf dem Spielplatz, in Familien, auf der Arbeit, in allen Alltagsformen immer wieder in begrenzter Form erscheint. Wir können dabei sogar einen Austausch der Besetzung der Plätze erleben, wenn die Knechte sich zu Herren aufschwingen und die vorherigen Herren zu Knechten machen, was aber an der Grundkonfiguration nichts verändert.
Und dennoch ist diese Variante, auch wenn wir sie bis in unseren Alltag verfolgen und beobachten können – meist bleiben die Wirkungen hier eher überschaubarer, wenngleich nicht immer gut distanzierbar –, nur die roheste Form, die wir für diesen Diskurstyp einsetzen. Als Diskurs nämlich tritt er schon ganz anders, in reflektierter Form, auf.

Setzen wir also, wie es sich für einen Diskurs gehört, allgemeinere Kategorien für die bisher personifiziert gedachten Abläufe. Wir erhalten dann das folgende Modell:


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W1

=

Wahrheit des Herrn (Selbstbehauptung: „Ich bin der Herr!“) auf dem Platz des Einen

W2

=

Der Platz des Anderen: Das herrschaftliche Wissen als bereits symbolisierte Beziehung zu den Knechten

a

=

Begehren und Imagination der Herren als Vorstellung über Knechte und als imaginäre Herstellung knechtischen Verhaltens am Platz der Konstruktion

A

=

Die Knechte am Platz der Konstruktion, wo sie durch den Herrn als Knechte hergestellt werden und sich selbst als Knechte vor- und herstellen

S

=

Der Herr als Subjekt auf dem Platz seiner Wirklichkeit; allerdings ist diese Wirklichkeit durch das Reale (noch nicht diskursiv Bedachte) subvertiert


Ausgangspunkt ist hier W1, die Wahrheit, die aber für Konstruktivisten kein Platz, sondern stets nur eine Besetzung sein kann, ein symbolischer Ausgangspunkt, der eine Ordnung darstellt – z.B. Gott als oberster Herr, vielleicht auch ein Tyrann als oberster weltlicher Herr, immer öfter eine Abstraktion als ein versachlichter Stellvertreter –, eine symbolische Ordnung, die die Position des Einen besetzt. Wenn ich im folgenden im Blick auf vereinfachte Wahrheitsaussagen auch von Meisteraussagen spreche, dann ist damit eine Position bezeichnet, die sowohl vom Zeichen als auch dessen Bedeutung her gedacht ist und eine symbolische Ordnung verkörpert. Wir könnten auch von einer symbolischen Kernordnung in einer Ordnung sprechen, einem Paradigma, das aus einem theoretischen Kern und möglichen Variationen besteht. Was hier den Meister in den jeweiligen Aussagen ausmacht, wird immer erst durch konkrete Analyse der Machtbedingungen enthüllt. Von der symbolischen Ordnung auf dem Platz des Einen aus denkt sich alles und hat sich alles zu denken, denn W1 symbolisiert, dass der Platz des Einen durch einen Begriff von Macht, Souveränität, Autorität usw. besetzt ist, der auf alles weitere bestimmend wirkt. Bei Lacan gibt es entgegen der hier vertretenen Diskurstheorie immer ein Symptom, von dem alles ausgeht. Dieses nennt er Agens. Aus einer konstruktivistischen Sicht unterliegt der Ausgangspunkt hingegen einer Fülle von Möglichkeiten, die als Interessen, Aktionen, Ziele, dabei auch Symptome als das Eine, auf das man sich bezieht bzw. reduziert hat, agiert werden. Das Eine markiert als diese Ausschließung die Beobachterposition als Einstieg in alle Diskurse. Ihm gegenüber steht nun eine Differenz, denn Beziehungen treten hier in den Hintergrund zurück, weil der Vordergrund für Diskurse gereinigt und gesäubert wird. Zwar wissen wir als äußerer Beobachter, dass die Wahrheit in Form von vereinseitigender Festlegung, als Meisteraussage oder Herrensymbol usw., denjenigen entgegentritt, die sie als Menschen unterwirft, aber in subtilerer Weise stehen für diese Menschen in Diskursen Stellvertreter, die sich inhaltlich zeigen. Es ist das Wissen all dieser Menschen, symbolisiert durch W2, das hier herausgefordert wird. Der Diskurs des Herrn verlangt, dass die Wahrheit W1 das Wissen W2 argumentativ beherrscht. Die Herrschafts- (und damit auch Knechts-) Ideologie hat sich mit anderen Worten als Wissen darüber zu entfalten, was die Herren so stark, so wichtig, so gefährlich macht, und dies ist als Diskurs bis an alle Kinderohren heranzutragen, denn der Diskurs gebietet das, was man sagen kann, und er scheidet das aus, was zu sagen gefährlich ist.
Der Glaube der Weltreligionen zeigt die Brisanz solcher Diskurse, denn sie bestimmen in der Tat alles Wissen, indem sie es beschränken und sich einverleiben. Ihre vereinfachende Wahrheit bezieht sich auf alle Differenzen, alle möglichen Auchs, um diese zu verbieten, zu kontrollieren, so zu organisieren, dass W1 in einem hellen, klaren Licht erscheint. Daraus sind unzählige Kriege im Namen „der einen guten Sache“ – hier erscheinen die Meisterlehren der Weltreligionen – und nicht lösbare Konflikte in menschlichen Beziehungen entstanden, die bis in die Gegenwart fortwirken. In weltlicher Hinsicht radikalisiert sich dies meist auf einfache Botschaften der Rechte der Stärkeren, die als Wissen aufzutreten meinen: Rassismus, Vererbungslehren, heimliche Anthropologien usw. sind besonders geeignet, den Zweck zu verfolgen, das Wissen von Meisterlehren her beherrschbar zu machen.
Mit W1 haben wir eine Position eingeführt, die auf der symbolischen Ebene das Absolute eines Diskurses gegenüber allen möglichen Relativierungen behauptet. Wir wissen aus der ersten Kränkungsbewegung, dass solche Meisteraussagen, paradigmatische Kerne, symbolische Ordnungskonstrukte – oder wie immer wir W1 spezifizieren – notwendig in jedem Diskurs erscheinen. Sie sind ebenso notwendig wie alles bisher und zuvor oder gleichzeitig konstruierte Wissen, das als W2 den Kontext für W1 darstellt.
W2 ist die Pluralität allen Wissens, aber dies stellt sich je nach Beobachterperspektive unterschiedlich dar. Innerhalb einer Verständigungs- oder Diskursgemeinschaft ist dieses Wissen als Kontext stets auch auf das begrenzt, was als Wissen zugelassen ist. Der Fremdbeobachter hingegen kann dieses Wissen immer erweitern und bereichern. W2 enthält deshalb mehrere Wahrheiten, zumindest als Wahrheitsmöglichkeiten. Je mehr jedoch hierbei das Wissen einer Pluralität entzogen wird, um so mehr mag es dazu verkommen, auf die bloße Rekonstruktion weniger Wahrheitssätze nach W1 zurückzufallen. Das Wissen, das der Dominanz der Vereinfachung ausgesetzt ist, wird dann systematisch entwertet.
In keinem Diskurs können wir dem Wechselspiel zwischen W1 und W2 entkommen: Immer konstruieren wir etwas, was als ein Unterschied Unterschiede produziert/konstruiert, d.h. indem wir etwas sagen, schreiben, tun, so können wir dies nur aus einer Sicht, Markierung, Konstruktion usw., auch wenn wir wissen, dass unser Unvermögen diese Einfalt in die Vervielfältigung treiben sollte. Was ist unser Unvermögen? Es ist die Unmöglichkeit, der Einfalt durch ein Wissen entkommen zu wollen. Vielfalt entsteht, wenn Beobachter – als Selbstbeobachter sind sie in der Verständigungsgemeinschaft eingeschlossen, als Fremdbeobachter stehen sie außerhalb des jeweiligen Diskurstypus – auf die Komplexität des systemischen Netzes, in dem alles gefangen ist, achten können. Sie entsteht durch die Zirkularität, in der alles verwoben ist, durch die Relativität dieses Etwas, mit dem wir gerade scheinbar absolut angefangen haben, ohne zu einem Ende kommen zu können. Und doch lauert in jeder Vielfalt für jeden Beobachter die Einfalt. Wir erkennen dies aber erst, wenn wir von W2 auf W1 zurückschließen, d.h. wenn wir die Zirkularität, das hier vorliegende Wechselverhältnis, selbst als Beobachter akzeptieren.
Deshalb ist das bestimmende Verhältnis von W1 auf W2 eigentlich ein Unmögliches, denn es existiert nur als Einfalt, die sich durch Rückkopplung immer auflösen wird; es ist ein unmöglicher Wunsch aus der Sicht des Einen, von dem aus wir anfangen, auf Dauer alles Wissen am Platz des Anderen zu kontrollieren.
Was aber konstruiert/produziert dieses Wechselverhältnis? Wer sitzt hier am Platz der Konstruktion? Auch hier greift unsere Unterscheidung von Selbst- und Fremdbeobachter ein, denn beide sehen nicht gleich. Was erscheint für den Herrn (in seiner Verständigungsgemeinschaft) am Platz der Konstruktion/Produktion, wenn er seinem eigenen Diskurs Glauben schenken will?
In seiner Konstruktion fasst der Herr symbolisch zusammen, was er sich aus dem Prozess als Folge imaginiert: Es erscheint hier seine Lust am Herrschen selbst, die nach immer mehr ruft, sein Glaube an die eigene Überlegenheit, an die Unterlegenheit schwacher Menschen, insgesamt sein Begehren, das ihn andere Menschen und sich selbst als etwas anderes wahrnehmen lässt. Und genau dies kann der Herr auf eine Meisteraussage hin vereinseitigen, denn am Platz der Produktion/Konstruktion kann nur ein Bestreben seines Selbst stehen, seine Mehrlust und sein Begehren, selbst den Meister zu verkörpern. Der Buchstabe a soll dies für uns ausdrücken. Wir halten für den Selbstbeobachter fest, dass klein a jene imaginäre Achse menschlicher Interaktion in der Kommunikation symbolisiert, die stets betont, dass der Selbstbeobachter sich einen anderen/ein anderes darüber imaginiert, was sein Begehren sehen will. Wahr ist hier, was erwünscht ist. Weiter oben habe ich festgestellt, dass solche imaginäre Basis jeder Kommunikation über die Achse a zu a' vermittelt wird. Dies wäre auch hier der korrektere Ausdruck. Aus Vereinfachungsgründen fasse ich die Bewegung a zu a' hier zu klein a zusammen. In diesen Prozess greifen insbesondere Verdichtungen ein (vgl. auch Band 2, Kapitel III.2.3.2.2.).
Ein kurzes Beispiel soll dies erläutern. Ein Herrenkrieger kommuniziert mit einem Knecht. Sie sprechen miteinander, indem sie symbolvermittelt interagieren. Beide wissen um den Diskurs des Herrn. Die Frage entsteht, ob und inwieweit sie sich kommunikativ tatsächlich verständigen können und in ihren Wahr­nehmungen zu einer symbolvermittelten Wahrheit gelangen, die eindeutig für beide ist. Nimmt man ein gängiges Modell zur Wahrheitsbeschreibung von Aussagen, dann sind diese theoretisch wahr, wenn der zu beschreibende Sachverhalt mit der theoretischen Aussage übereinstimmt. Sie sind praktisch richtig, wenn Handlungsvorschläge oder -entschlüsse mit erstrebenswerten Zielen, akzeptablen Zielen und/oder geltenden Normen übereinstimmen. Wie aber soll dies erreicht werden? Wenn unser Herr und unser Knecht die Übereinstimmung bestimmen wollten, so benötigten sie einen Dritten, der ihnen als Beobachter bestätigt, dass es so ist, wie sie meinen. Dieser Dritte könnte dann auch noch zusätzliche Unterscheidungen einführen, die von der Wahrheit die Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit der Aussagen und Vorschläge/Entschlüsse unterscheidet (vgl. z.B. Waldenfels 1994, 402 ff.). Doch wer soll dieser Dritte sein?
Die Aufgabe dieses Dritten ist die Aufgabe des Diskurses. Er bestimmt, was gesagt werden kann, wenn etwas gesagt wird. Deshalb ist es für die Beobachter eben auch entscheidend, stets zu situieren, in welcher Art von Diskurs sie sich befinden und von welcher Verständigungsgemeinschaft dieser kontrolliert wird. Und hier nun, wo wir im Diskurs des Herrn sind, ist der beglaubigende Dritte, der bestätigt, was in der Kommunikation von Herrn und Knecht wahr und wahrhaftig geschieht, bloß der versachlichte, diskursiv in eine Besetzung von Diskursplätzen zurückgekehrte Herr, wobei diese Plätze damit ein bestimmtes Spiel von wahrer Wirklichkeit determinieren: das Herrenspiel.
Nun wird deutlicher, dass es hier gar nicht darum gehen kann, möglichst eine gleichberechtigte Wahrnehmung von Interessen einzuleiten, sondern dass der Platz der Konstruktion eindeutig von den Wünschen der Herren besetzt wird: Ihre Imagination aller anderen in diesem Spiel ist eine der Beherrschung, weshalb ihre Produktionen/Konstruktionen als Selbstbeobachtung immer nur zu klein a, damit zu ihrer eige­nen Imagination von anderen, von unterworfenen und unterdrückten Menschen kommen kann. Dies erklärt uns auch, weshalb Herrensysteme immer voller Verachtung auf die anderen, die sich unterdrücken lassen, blicken, denn genau dies ist ihre produzierte Konstruktion: Solche Menschen aus ihrer Imagination heraus als minderbemittelt abzuwehren, weil sie gar nicht auf die Individualität und daraus abgeleitete Ansprüche anderer Menschen schauen, sondern stets nur die eigene Projektion solch anderer vor Augen haben. Darin drückt sich ein Unvermögen aus, den anderen als Anderen anerkennen zu können (vgl. dazu nochmals meine Argumentation über Levinas, Band 1, Kapitel II.2.2).
Als Fremdbeobachter sehen wir hier einen Diskurs, der Macht und Gewalt produziert, weil die Wünsche der Herren und ihre Mehrlust, sich als Meister immer neu agieren zu sehen, nie ein Ende finden kann. Diese Herren zirkulieren in ihrer Wahrnehmung über klein a in sich selbst, sie nehmen weder Leid noch Elend der Knechte, der Anderen wahr, sie lassen diese in ihrem Herrenspiel gar nicht zu, sie bestreiten deren legitime Geltung. Hier ist die Grundlage dafür zu sehen, dass solche Herrenkulturen das Menschsein oft dadurch bestimmten, dass ein freier Wille vorliegt. Sklaven, Indianer, andere rassisch unterlegene wurden in solchen Systemen oft als Tiere ausgegeben, weil sie sich nicht nach dem gesetzten eigenen Maßstab verhielten.
Auf Dauer waren solche Zuschreibungen nie haltbar. Selbst die größte Unterdrückungsapparatur erzwingt immer noch, dass für etwas unterdrückt wird. Darin aber behaupten die Knechte auf einmal eigene Mächtigkeit. Zu irgend etwas sind sie am Ende immer gut: Meist zur Produktion des Reichtums, den die Herren verzehren. Hier bemerken wir, dass sich am Platz der Konstruktion neben klein a auch groß A eingeschrieben hat: Der Andere im Sinne einer Abhängigkeit des Herrn von jenen Knechten, die er meint, so ausschließlich kontrollieren zu können. Auch hier unterscheidet sich mein Ansatz von Lacan. Bei ihm wird in psychoanalytischer Deutung alles über klein a vermittelt gedacht. Ich hingegen verkompliziere das Wechselspiel, indem groß A als symbolische Figur (nach Mead) oder als realer Anderer (nach Levinas) eingeführt und zugelassen wird. Zwar sehe ich auch, dass jegliche Kommunikation sich über eine imaginäre Achse vermittelt und symbolisch immer auch das Begehren der je einzelnen Interessenposition von Menschen ausdrückt – hiervon sind auch die Knechte nicht frei –, aber dies hindert nicht, dass es in jeder Kommunikation, die ein Subjekt ergreift, immer auch ein anderes Subjekt, damit einen Anderen gibt. Und da beobachten wir nun anders als die Herren, dass am Platz der Produktion eben nicht nur ihre Überlegenheit und Macht reproduziert wird, sondern auch eine Mächtigkeit der Knechte, die über die Produktion der Lebensmittel und Versorgungsketten der Herren, die vermeintliche Autonomie der Herren unterlaufen und sich auf den Platz der Konstruktion als Andere einschleichen. Für Hegel ist dieser Platz geradezu paradigmatisch: Die Knechte erwerben hier ihr Wissen, um irgendwann das knechtische Bewusstsein abzustreifen. Hier erscheint das Paradigma der bürgerlichen Revolution. Doch was geschieht nach der Revolution? Auch die bürgerlichen Demokratien haben ihre Herren nicht verloren, wenngleich sie begrenzter, subtiler, unternehmerischer erscheinen. Gleichwohl ist kein Herr auch als machtvoller Politiker, Unternehmer, Vorgesetzter usw. frei von der Wirkung  der Anderen (der Wähler, der Lohnarbeiter, der Mitarbeiter usw.) am Ort der Konstruktion/Produktion.
Am Platz der Konstruktion sitzt für den Selbstbeobachter a (und erst darüber vermittelt A) und für den Fremdbeobachter a und A. Die Position a verharrt in der Reproduktion der Herrenimaginationen. Die Position A markiert die Reproduktion von Knechten, aber auch die Andersartigkeit der Knechte gegenüber erwünschter Unterdrückung (a): Sie zeigt zumindest eine Eigenständigkeit – für Hegel z.B. die geleistete Arbeit und ihre Entwicklung als Position eigener Mächtigkeit –, die den Herrn in Abhängigkeit bringt.
Was aber sitzt am Platz der Wirklichkeit? Was bleibt an inhaltlichen Plätzen?
Es ist das Subjekt selbst, das hier als „Meister“ hergestellt wird. In diesem Diskurs wird der Herr nur wirklich zum Herrn, wenn es ihm gelungen ist, sich als Herr und Meister zu zeigen. Gleichwohl aber ist dieses Subjekt nicht identisch mit dem, von dem es in seiner Wahrheitsbehauptung unter W1 ausgegangen war: Es hat sich durch den Anderen verändert. Kein Herr bleibt sich allein selbst gleich, denn die Knechte als A bringen ihn – ob er will oder nicht – in eine Abhängigkeit, die sich nicht mehr abschütteln lässt. Davon sind auch seine Imaginationen (a) betroffen. Am Platz seiner Wirklichkeit ist er als Herr nur solange sicher, wie der Diskurs symbolisch funktioniert, aber stets schon unsicher, weil er nie weiß, was das Reale an Subversionen bereithält: Seinen Tod im Kampf, überraschende Aufstände, Krankheiten, die Macht anderer Herren usw.
Die Besetzungen der Plätze zeigen, dass die Positionen S und A sehr relative sind: In jedem Durchgang schon verändern sie die Ausgangspunkte, sie nehmen S und A in strikte Zirkularität, fangen sie in ein systemisches Netz von Beziehungen und Bezüglichkeiten, selbst wenn die Macht und Gewalt nur auf einer Seite zu stehen scheinen. Der Herr benötigt den Knecht, um Herr zu sein, der Knecht hingegen den Herrn, sonst wäre er kein Knecht. Und der Ort der Konstruktion ist die entscheidende Stelle, an der sich Herren­systeme reproduzieren, denn wenn die Knechte nicht für die Herren arbeiten, können diese nicht kämpfen oder dominant werden, und wenn die Herren nicht die Orte der Produktion beherrschen und in kontrollierten Formen anwesend sind, werden die Knechte faul.
Schauen wir nochmals auf unseren Diskurs. Was bleibt als Wirklichkeit des Herrn? Offenbar kann seine Wirklichkeit nur als Folge im Zusammenhang mit den unterdrückten Knechten betrachtet werden. Umgekehrt ist die Wirklichkeit der Knechte ohne das systemische Zusammenwirken mit Herren kaum beschreibbar. Beides aber wiederum hat systemische Folgewirkungen auf den Ausgangspunkt W1 und das Wissen W2. Die Herren als Selbstbeobachter ihres Diskurses dürfen am Platz der Wirklichkeit keine systemische Folge situieren, sondern müssen stur dort die Wahrheit der Behauptung von W1 als zusammenfallend mit ihrer subjektiven Position S platzieren. Für die Herren werden die Plätze der Wirklichkeit und des Einen, von dem aus sie die Welt in den Blick nehmen (= nur ihre Wahrheit) identisch erlebt. Sie lassen beide illusionär in eins fallen, was sie über kurz oder lang immer ins Verderben stürzt. Sie führen so nämlich eine Komplexitätsreduktion durch, die zu wenig die Folgen ihres Tuns thematisiert. Genau dies aber ist der Genuss der äußeren Beobachter, die Herrensysteme scheitern sehen (die gegenwärtige Medienindustrie führt uns solches in allen Variationen oft klischeehaft vor). Diese Beobachter erkennen, was in konkreten Fällen als systemische Folge übersehen blieb – z.B. eine ständige Mehrlust nach Unterwerfung von immer mehr Menschen, bis auch die Kräfte des Herrn aufgezehrt sind; oder ein Begehren nach Kampf jeder gegen jeden, so dass die Herren sich wechselseitig umbringen; vielleicht auch die Überbeanspruchung der Knechte, so dass deren Siechtum den Reichtum der Herren ruiniert; vor allem aber die unzurei­chende Wirklichkeit der Herren, die das Reale ausblendet und oft in Verblendung endet.
Die erschlichene Wahrheit, mit der sich die Knechte in diesem Diskurs über die Produktion/Konstruktion auch indirekt auf dem Platz der Wirklichkeit einnisten, wird den Herren zum Verhängnis, weil sie als Selbstbeobachter dies nicht wie die Fremdbeobachter bemerken. Dies schränkt ihre Handlungschancen ein. Entweder sie stär­ken ihre Macht so sehr, dass sie die Knechte und damit sich selbst auf lange Sicht rui­nieren, oder sie schwächen ihre Macht, um durch die Knechte oder andere Herren besiegt zu werden. Selten gelang ihnen in der vorbürgerlichen Geschichte eine Machtbalance.1 Heute gelingt die Machtbalance dann besser, wenn das Feld der Macht des Herren lokal und situativ begrenzt wird. Hier können sie sich als Tyrannen in der Familie, auf der Arbeit, in Politik und Religion nach wie vor aufspielen, aber ihre Gegnerschaft ist gewachsen, weil sie in Zeiten der Demokratie wie Protagonisten aus einer archaischen Zeit erscheinen. Und ihre Macht ist dann auch nicht durchgängig auf alle Lebensbereiche ausweitbar, sondern erscheint als begrenzt. Verharren sie auf der Position des wahren Subjekts (die alleinige Herrenposition), dann wird über kurz oder lang ihre Illusion zu groß, ihr Realitätssinn zu beschränkt, was den Untergang beschleunigt.
Wird dieses Unvermögen als Problem des Diskurses des Herrn durchschaut, dann drängt die Vernunft zu einer höheren, besseren Lösung: Dem Diskurs des Wissens, der Universität, der ein Diskurs der Aufklärung ist.

(b) Der Diskurs des Wissens
Ist das aufgeklärte Subjekt auf dem Platz des Einen situiert, so richtet es sich mit seinem Diskurs an alle Welt. Dieses Subjekt behauptet z.B.: „Ich kann Wahnsinnige von Normalen unterscheiden.“ Wer sitzt dann auf dem Platz des Anderen? Zunächst sind es alle anderen Subjekte, die wie dieses Subjekt versuchen mögen, Wahnsinnige und Normale zu unterscheiden. Dann aber sind es auch alle Wahnsinnigen und Normalen, die in die Geltung dieses Diskurses treten. Denn sie sind jene Anderen, an die sich das Subjekt wendet; sie stellen mithin eine imaginäre Beziehungswirklichkeit her, die dann zur konkreten wird, wenn das Subjekt z.B. als Arzt tatsächlich seine unterscheidende Auswahl betreibt.
Aber was würde eine solche Position vom Diskurs des Herrn unterscheiden? Dieses Subjekt wäre ein neuer Herr, auch er würde seine Meisterlehre aussenden, um alles Wissen zu beherrschen, indem es Wahnsinn und Normalität nach seinem Maßstab verteilt. Also muss es eine andere Lösung des Problems geben, wenn wir uns aus den Verstrickungen der Diskurse des Herrn befreien wollen.
Betrachten wir dazu zunächst, warum unser Ausgangspunkt einer subjektiven Be­hauptung, Wahnsinn und Normalität zu unterscheiden, so heikel ist. Was ist das Heikle? Problematisch ist offenbar insbesondere die interaktionistische Grundfigur.­ Sie ist der Beziehungswirklichkeit nah, und damit steht sie in der Gefahr, sehr schnell unscharf zu werden. Denn alle Wahnsinnigen und Normalen sind auf den Plan gerufen, wenn sie so direkt aus der Macht eines Subjekts angesprochen erscheinen. Deshalb ist das Sprachspiel der Wissenschaft genötigt, das Interaktionistische zu tilgen. Nicht ein Arzt teilt persönlich nach wahnsinnig und normal auf, sondern sein wissenschaftliches Fach, die Medizin, die Psychiatrie und ihr Erkenntnisstand, der sich in Lehrbüchern, Fachbüchern, Geheimwissen und Geheimbünden manifestiert. Alle Wahnsinnigen und Normalen sind hiervon auszuschließen, ihnen bleibt nichts als Vertrauen auf die Macht einer Arbeitsteilung, die nach wissenschaftlichen Standards zu verfahren verspricht. Enthüllen wir einen Teil dieser Versprechungen, wie es Foucault in „Wahnsinn und Gesellschaft“ unternahm, dann entdecken wir einen Diskurs im Wandel, der jeweils auf seiner erreichten Stufe dieses Versprechen als Konstruktion eines Wissens generiert (vgl. hierzu auch Foucaults Studien zu „Sexualität und Wahrheit“, insbes. Bd. 1: „Der Wille zum Wissen“, 1992 b). Aus den Wechseln der Beobachterpositionen ziehen wir geschockt das Resultat, dass die machtvollen wissenschaftlichen Unterscheidungen eine elitäre Machtspielart weniger Einge­weihter darstellen, die Wahnsinn und Normalität diskursiv verteilen, ohne hinreichend (von wem auch?) kontrolliert werden zu können. Aber dies ist ohnehin der Normalfall fehlender Kontrolle in einer nach diesem Diskurstyp orientierten Gesellschaft, unter den genauso Kranke, Soldaten, Schüler und andere Abhängige fallen, die diszipliniert werden. Und dies geschieht, wie Foucault eindringlich nachweist, nicht linear, sondern zirkulär, weil die Disziplinierten eben jene Disziplin produzieren, die zum Gelingen der diskursiven Formationen erst beiträgt.
So hat sich unter der Hand eine Verschiebung ereignet: Aus dem lebendigen Subjekt wurde auf dem Platz des Einen die Wissenschaft als Theorie (Fachwissen, Entscheidungswissen, Disziplinierungs- und Kontrollwissen) gesetzt.
Dies ist nun eine entscheidende Stelle im Prozess der Moderne, die durch die Aufklärung noch beschleunigt wurde. Sie verdrängt die Subjektposition durch Versach­lichung und lässt die Beziehungsseite in den Hintergrund rücken. Diese Verdrängung feiert im vermeintlichen Siegeszug der Vernunft und in ihrem Gefolge der scheinbar omnipotenten Wissenschaften Triumphe, die den Ausgangspunkt von Diskursen auf das Wissen konzentrieren und diesem das Subjekt gegenüberstellen. So scheint das Subjekt alle Rechte auf Autonomie zu gewinnen, weil es ja stets prüfen kann, was es von dem gesetzten Einen her annimmt, aber dies wird zugleich dadurch unterlaufen, dass das Wissen gegenüber den Subjekten so ungeheuer anwächst, dass sie die autonome Prüfung scheinen aufgeben zu müssen. Sie müssen den Experten und Wissenden in Arbeitsteilung stets vertrauen.
Die Plätze sind in diesem Diskurs wie folgt besetzt:

bild_IV_4.2.f.gif

 

W2

=

Das Wissen sitzt am Platz des Einen; es ist steter Ausgangspunkt aller Aktionen in diesem Diskurs

a

=

Das Wissen wird am Platz des Anderen als immer mehr Wissen begehrt; aber dieses Mehr kennt als Differenz keine Grenze, es ist unendliches Wissen

A

=

Das Wissen bezieht sich auf Andere, die es als Differenz erst zulassen (schon Wissen­ de, Prüfer, Kontrolleure, Institutionen) oder die es als Unwissende vernichten können

S

=

Das Subjekt auf dem Platz der Konstruktion wiederholt oder erzeugt Wissen als Vor­- oder Herstellung

W1

=

Auf dem Platz der Wirklichkeit sitzt die Wahrheit, die die Wissenserzeugung als Resultat begleitet: die Konstruktionen zerfallen in unendliche Relativität, wenn das Wissen nicht auf Wahrheit hin konzentriert, gereinigt, kontrolliert, diszipliniert wird (dies ist die Position, die den unwissenden A begrenzt); aber das Reale subvertiert diese Wirklichkeit, denn es zeigt (wenn es bemerkt wird) die Unmöglichkeit einer dauerhaften Begrenzung

Auf dem Platz des Einen sitzt in diesem Diskurs das Wissen. Was aber ist das Wissen? Wer sammelt es? Was privilegiert es zum Wissen? Das Wissen ist den Wissenschaften überantwortet, die das Privileg der Begründung, Geltung, der Kontrolle und Vervielfältigung, der Entwicklung und korrekten Verbreitung beanspruchen. Was aber sind die Wissenschaften? Sie sind ein in sich zerfallendes, differenziertes, unüberschaubares Wissen, das sich in die Unzahl von Fächern spaltet und das nur noch Experten verstehen. Durch diese Expertenrolle wird der Wissenschaftler in seinen Praktiken der Wissensbewahrung immer wichtiger, wenn es darum geht, das Wissen zu beurteilen (vgl. Bourdieu 1992).
Der Wissenschaftler aber ist im Einzelfall je ein singuläres Subjekt, wohingegen es der Wissenschaft daran gelegen ist, die Singularität zu löschen und eine Universalität zu etablieren. Deshalb soll das Wissen die Beziehungen, die in ihm eingewoben sind, die Interessen, Parteilichkeiten, Einseitigkeiten von Subjekten, vermeiden oder verschleiern, um als scheinbar überparteiliche, wertfreie, universelle Sache plausibel einen Diskurs zu vertreten, der schon von seinem Ausgangspunkt her jede Wahl und Freiheit jenen zu gestatten scheint, an die er sich richtet. Und damit steckt dieser Diskurs schon in seinem Dilemma, denn auf dem Platz des Einen, von dem aus das Wissen der Ausgangspunkt in diesem Diskurs wird, sind längst jene Anderen, an die man sich wertfrei zu richten scheint, einbezogen. Wie im konkreten Fall die Kritik am Positivismus immer wieder belegen konnte: Wertfreiheit von Wissen übersieht die Wertungen, die als Denkvoraussetzungen usw. in das Wissen schon eingedrungen sind, wenn es über die Wahrnehmung von Interessen auftritt. Allerdings ist der Positivismus nur ein Extrempunkt von Wissenschaft, der das hier beschriebene Dilemma auf seine Spitze treibt.
Damit ist das Wissen immer problematisch. Dies sehen wir in der heutigen Zeit der Unübersichtlichkeit, Widersprüchlichkeit, Gegensätzlichkeit und Ambivalenz von Wissen und vermeintlich Wissenden zunehmend deutlicher. Für Geld oder Interessen kann sich das Wissen in Gutachten verwandeln, die aus ihrer Sicht alles wissenschaftlich begründen, auch wenn dabei ein Chaos von Widersprüchlichkeiten entstehen mag. Für die einen Wissenschaftler sind z.B. Atomkraftwerke gefährlich, für die anderen völlig harmlos, für die einen leben wir in einer ökologischen Krise und in einem Zeitalter von Klimaveränderungen, für die anderen sind dies natürliche Schwankungen, die es schon immer gegeben hat. Unzählig sind die gegensätzlichen Begründungsketten in einer Pluralität des Wissens geworden, die zweifeln lassen, ob es so etwas wie Wissen überhaupt noch gibt. Traue keinem Wissen, das du nicht selbst manipuliert hast, denn nur so weißt du etwas darüber, was es verbirgt. Und dort, wo man sich früher in Wissenschaften eingeschrieben hat, um letzte Wahrheiten zu hören, hört man heute mehr von gegensätzlichen Auffassungen und modischen Trends als von der einen Wahrheit, weil die Wissenden sich wissentlich zunehmend darauf einigen, dass das Wissen als eine aus­  schließende Wahrheit unwissenschaftlich ist. Und dennoch vertrauen wir auf das Wissen, indem wir der Technik, den Fortschritten der Medizin, naturwissenschaftlichen Ergebnissen, die sich ständig bewähren oder zumindest nicht andauernd in Katastrophen führen, auch in ihren Ergebnissen vertrauen können. Unter der Hand schleicht sich damit die Unterscheidung von den bewährten Ergebnissen der hard sciences und den ungenaueren der soft sciences in unsere Deutungen ein. Aber es gibt nur begrenzte Regeln, die uns erklären, wann wir von dem einen Feld in das andere geraten.
Doch sehen wir genauer auf diesen Diskurs, um zu verstehen, warum dieser paradoxe Ausgangspunkt unvermeidlich ist.
Auf dem Platz des Anderen sitzt in diesem Diskurs nun kein mündiges Subjekt, das entschieden das Wissen zurückweist, annimmt, es von vornherein aus dem Diskurstyp herausnimmt, sondern das Eingeständnis, dass Wissen nach immer mehr Wissen drängt und dass dies die vorgängige Annahme einer Verständigung in diesem Diskurstyp sein muss. Wissen, mit anderen Worten, verträgt keine Grenzen; seine einzig mögliche Entgegensetzung scheint darin zu bestehen, bloß immer mehr oder anderes Wissen und dessen Kontrolle durch Andere zu erzeugen.
Der Selbstbeobachter in diesem Diskurstyp, der Wissenschaftler, wird dies sofort zugeben. Wir können über jedes Wissen streiten, so wird er sagen, aber nicht über den Sinn von Wissen, immer besser, angemessener, hinreichender unsere Forschungsinteressen zu verfolgen. Warum denn sonst sollte er Wissenschaftler sein? Und dieser Sinn setzt voraus, dass wir für jedes Wissen nur das stets zu verbessernde Wissen als Gegenüber anerkennen können, wenn wir uns in diesem Diskurstyp als Forschungs- und Lehrgemeinschaft von Wissenden verstehen wollen. In diesem Grundsatz verbergen wir das subjektive Begehren des Wissenschaftlers nach Wissen und sein subjektives Streben nach stets mehr Wissen in einer sachlichen Behauptung, die das subjektive Begehren als nachrangig erscheinen lässt, das verobjektivierte Wissen aber verherrlicht. Der Selbstbeobachter wird kaum fragen, warum nun ausgerechnet er sich welchem Wissen zuwendet, weil solche biografischen oder psychologischen Momente dem Wissen selbst nichts anzuhaben scheinen. Und deshalb wird der Platz des Anderen hier auch nicht als einer des subjektiven Begehrens, sondern des sachlichen Fortschritts gewürdigt, denn die Vermehrung des Wissens soll gerade die persönlichen Wünsche in den Hintergrund für die große Gemeinschaft der Wissenden treten lassen.
Als Fremdbeobachter können wir dies kritischer betrachten. Sehen wir den Wissenschaftler mit seinem Wissen am Platz des Einen agieren – denn er wählt aus all dem Wissen das ihm gemäße zunächst immer schon aus –, dann erkennen wir auf der Seite des Anderen seine eigene, wunschbesetzte Imagination von mehr Wissen, was zugleich seine Macht gegenüber anderen Subjekten als Beziehung ausdrückt. Denn wie will ein Wissender je sicherstellen, dass sein Wunsch nach mehr Wissen in die Möglichkeit der Allseitigkeit von Wissensvermehrung übergeht? Er kann dies nur durch die Illusion, dass Wissen immer schon mehr Wissen ist, was verschleiert, dass Wissen oft genug anderes Wissen anderer Subjekte ausmerzt, vernichtet, bestreitet und durchgehend selektiven Interessen folgt. Darin aber erscheint eine neue Figur, ein Anderer, der entweder als kontrollierender oder disziplinierender Anderer mit Autorität im Sinne eines bestimmten Wissens auftritt, oder der Außenstehende, der das Etikett des Nicht-Wissens trägt, der Unwissenheit, der Unwissenschaftlichkeit, die aus den wunschgetriebenen Vermehrungsprozessen des Wissens ausgeschlossen bleiben muss.
Der Ort, die Wissenden in ihrer Macht zu stärken, ist der Platz der Konstruktion von Wissen und immer mehr Wissen, der deshalb strengstens geschützt und durch die Gemeinschaft der Wissenschaftler als jener, die die bisherige Bewegung dieses Diskurstyps stützen, kontrolliert wird. Wie geschieht dies?
Das Wissen tritt am Ort seiner Konstruktion den Subjekten, die sich mit dem Wissen auseinandersetzen, entgegen. Für diese Begegnung hat es sich einheimische Orte der Konstruktion geschaffen, die ritualisiert betrieben werden und genügend abschreckende Kraft enthalten, um den Subjekten einerseits Freude und Lust durch Anerkennung, Habitus, Status, Prestige usw. zu bereiten, sich dem Wissen und einer unendlichen Mehrlust nach Wissen stellen zu dürfen, sie dabei andererseits aber auch hinreichend einschüchtern, damit die Freude und Lust nicht ins Gegenteil des Übermutes und der Enttraditionalisierung umschlägt. Wissen schafft als universitärer Diskurs Disziplin in mehrfacher Hinsicht: Disziplinen von Wissenschaft selbst, Disziplinierung der Wissenschaftler durch Kontrolle ihrer Laufbahnen, ihres Wissens, ihrer Anerkennung, Disziplin der Studierenden, weil Fleiß, Ordnung usw. erforderlich sind. Tritt das Wissen als geballte Macht den Subjekten gegenüber, so wirkt diese Diszipli­nierung auf allen Ebenen, weil z.B.

  • die Subjekte doch nie alles wissen können, was ihre Leistungen und/oder ihr Versagen individualisiert und hinreichend Schuldgefühle aufbauen lässt,2
  • sich das Wissen damit stets als neue Möglichkeit der Lösung anbietet, weil es ja doch niemand jemals ausschöpfen kann (dies ist die unendliche Legitimierung, dass das Gegenüber von Wissen nur mehr Wissen sein kann),
  • die Subjekte sich auf Zeit trösten, indem sie Verständigungsgemeinschaften etablieren, die sich als Theorie- oder Ideenschulen einen Teil der Macht des Wissens aneignen und als Besserwisser gegen Andere ins Feld führen können, was Statusgewinne, Prestige, besondere Vergütungen einbringen kann. Hier schlägt das symbolische Kapital in ökonomisches, soziales, kulturelles um (vgl. Kapitel IV.3.3.1.1).

Obwohl nun das Wissen immer von Wissenden vertreten wird, so rückt deren unmittelbare Position in den Hintergrund. Da steht kein Schamane mehr, der uns direkt auffordert, dies oder jenes zu tun, sondern da liegt ein Buch, das von einem Autor stammt, den keiner von uns persönlich kennen muss, weil das Wissen nicht mehr auf persönlichen Beziehungen beruht, sondern sich versachlicht hat. Jede Person, die ein Wissen im Diskurs des Wissens, der Universität, vertritt, kann als persönlicher Agent zurücktreten und behaupten, dass dies nicht nur seine Meinung ist, dass subjektive Beziehungen hier keine Rolle spielen, weil es immer nur um das Wissen geht. Das Wissen ist die entsubjektivierte Position, in deren Falle wir schon sitzen, wenn wir nach Objektivität, wissenschaftlichem Fortschritt, universeller Geltung und eindeutiger Gültigkeit verlangen. Jeder weiß, dass dies kein Subjekt leisten kann, sondern nur das Wissen selbst. Das ist zumindest die Wahrheit des Diskurses, von dem wir hier sprechen.
Der Platz der Konstruktion steht allen Subjekten als Entdecker offen, aber nur wenige werden ihn als Erfinder nutzen können, denn die Allmacht des Wissens erfordert lange Wege der Aneignung, um auf diesem produktiven/konstruktiven Platz zugelassen zu werden. Jene Wissenschaften z.B., die in der Zivilisation einen besonderen Platz auch im Alltag der Menschen beanspruchten und aufgrund der Konflikte oder Ängste von Menschen hohe Relevanz erreichten, konnten durch geschickte Codifizierung und Geheimhaltung ihr Ansehen durch Wissen steigern und diesen Diskurs als kräftige Einnahmequelle etablieren (so besonders Mediziner und Juristen). Dabei werden die Wissenschaften aber auch selbst Opfer ihrer Codifizierungen, die das Wissen gegenüber den praktischen Tätigkeiten soweit anwachsen lässt, dass die eigene Ausbildung ihres Nachwuchses stets gefährdet erscheint. Wissenschaft kann zur theoretischen Selbstbeschäftigungsmaßnahme werden, die sich immer mehr verästelt, ohne dass ein praktischer Nutzen noch beurteilbar erscheint. Mehr oder minder erreicht im 20. Jahrhundert dieses Problem alle Disziplinen, wenngleich der ökonomische Nutzen sich immer ungleicher verteilt, weil das Wissen nach Angebot und Nachfrage im Rahmen von Wertsetzungen verteilt wird, die mit den Beziehungen der Menschen zu tun haben, mit ihren Ängsten, sozialen, politischen und vor allem ökonomischen Netzwerken von Macht und Verteilung, die das Wissen für bestimmte Zwecke, Gewinne und Interessen einsetzen.
Nur dem Wissen selbst scheint dies nichts anhaben zu können. In diesem Diskurs wähle ich deshalb die Subjekte nicht als direkte Gegenüber, sondern a/Andere, die dem  Wissen, das vom Platz des Einen ausgeht, konfrontiert sind. Sonst müsste zugegeben werden, dass Subjektives auch mit dem Wissen geschieht. Aber gerade davon soll das Wissen unberührt bleiben, weil es das ist, was sich auf dem Platz des Einen zur Wahl stellt, und dies geschieht nach einem Modus der Unendlichkeit: Das Wissen hört nie auf. So ist als Gegenüber die Unendlichkeit als Position a (die Imagination von ständigem Mehr-Wissen) gewählt, was nur sehr schwer subjektiv angegriffen werden kann. Aber andere Subjekte als A erscheinen als Beziehungspartner, die aufgrund ihres umfangreicheren oder anderen Wissens uns die Differenzen, die im vorgebrachten Wissen sich zeigen, in Frage stellen können.
Nur im schlimmsten Fall erscheinen hier Andere, die unwissend sind: Sie sind die Bedrohung für diesen Diskurs schlechthin. Ihre Dummheit allein kann das Wissen und die Wissenschaft vernichten. Aber gegenüber dem Diskurs der Wissenden bleiben sie stets Fremde.
Die wissenschaftlichen Subjekte gelten in diesem Diskurs am Ort der Produktion/Konstruktion, d.h. sie müssen sich immer schon auf die unendliche Arbeit einlassen, bevor sie gegenüber diesen Ansprüchen etwas aussagen können. Treffen Wissen und Subjekte aufeinander, dann produzieren sie aus dem ersten Schritt der Bedeutung des Wissens auf dem Platz des Einen (= Auswahl, Ausschließung, Reduktion) und Anderen (= dieses Wissen und jenes Andere, auf das es sich auch bezieht, durch das es ergänzt wird) stets ein Mehr an Wissen, ein Mehr an Unterschieden, damit auch ein Mehr an anderen/Anderen.
Es lohnt, diesen Vorgang weiter zu unterscheiden. Nehmen wir zunächst den Selbstbeobachter in seiner Verständigungsgemeinschaft in diesem Diskurs:
In seinen Beobachtungen steht er in einem Grundwiderspruch, denn kein Subjekt kann alles Wissen überschauen. Nur ein Teil des Wissens tritt ihm entgegen, und aus diesem Teil mit seinen widersprüchlichen Wissensvorräten sucht sich dieses Subjekt einen weiteren Teil heraus, den es als sein Wissen seiner Zeit annimmt. Dieses Wissen wird rezipiert, indem es rekonstruktiv angeeignet wird.
Was wird hier konstruiert/produziert? Das Wissen wird um einen Besitzer vermehrt. Auf diese Weise vermehrt sich auch das Wissen, denn je mehr Menschen über etwas Bescheid wissen, um so stärker wächst die Macht des Wissens an. Hier produziert das Wissen in sehr wörtlichem Sinne Andere, d.h. Subjekte, die als Andere für ein Wissen eintreten, weil sie es angenommen haben. In dieser Funktion des Anderen zirkulieren sie dann in diesem Diskurstyp, denn sie erscheinen als jene, die das Wissen vom Platz des Anderen aus gegen Subjekte vertreten werden. Sie erscheinen als Besserwisser. Diese Position ist maßlos, denn ein Ende von Wissen ist nie abzusehen.3 So gibt es Menschen, deren Genuss in der Aneignung von Wissen besteht, weil dies die zugleich sicherste Position ist, von der aus man in die Zirkulation zurückkehren kann: Man weiß alles besser, sofern man nur etwas weiß.
Der Selbstbeobachter nimmt die Produktion von Wissen selbstverständlich hin. Er nennt es Lernen, Begreifen, Behalten, alles Leistungen, die etwas herstellen helfen. Aber was stellen sie her? Repräsentiert solche Herstellung tatsächlich das Wissen?
Hier greift eine Illusion, die am Platz der Konstruktion/Produktion sitzt. Als Herstellung des Subjekts umgreift sie einerseits das Vorstellen des Subjektes, dass sein Bild, seine Anschauung von Wissen tatsächlich das repräsentiert, was dieses Subjekt meint. Und hier meint es, dass seine Vorstellung, d.h. sein je subjektives Wissen mit dem Wissen übereinstimmt. Das aber ist unmöglich, denn es würde der Zirkularität dieses Diskurses ein Ende setzen und zwangsläufig in den Diskurs des Herrn zurückfallen.
Als Herstellung eines Subjekts, das sich als Wissendes erlebt und damit gleichzeitig ein symbolisch von sich getrenntes Subjekt ist, erzeugt es andererseits die Illusion eines Wissenden, der als Anderer über das Wissen anderer Subjekte scheinbar beliebig verfügen kann, obwohl diese Anderen gar nicht zu Worte kommen. Das müssen sie scheinbar nicht, weil das gesetzte Wissen ja für alle gilt und Geltung für jedes Subjekt beansprucht. Das zeigt Wissen als Verknüpfung mit Macht.
In beiden Fällen jedoch unterliegt der Beobachter einer Illusion: Dies muss der Selbstbeobachter sich verbergen. Er setzt nämlich an die Position der Wirklichkeit die Wahrheit des Wissens, obwohl dort gar nicht eine Wahrheit sitzen kann. Denn jeder Selbstbeobachter wählt aus der Pluralität des verfügbaren Wissens nur aus oder konstruiert etwas, was die Pluralität erweitert, um damit etwas herzustellen, was seine Aneignung ist, und diese Aneignung kehrt auf den Platz der Wirklichkeit nun als Wahrheit ein, indem sie sich dort als Meisteraussage, als symbolische Ordnung dieses einen Wissens zeigt. Der Selbstbeobachter aber, dem scheinbar das Wissen gegenübergetreten ist, der es sich angeeignet hat, situiert wie selbstverständlich die Wahrheit dieses Wissens blind auf dem Platz der Wirklichkeit. Aber dort kann es nie vollständig sein, weil und insofern es selbst widersprüchlich ist, weil es das Wissen kurzum gar nicht gibt und nie geben kann. Das Wissen als plurales entwertet die Einzellösungen. Schon symbolisch also kann es auf dem Platz der Wirklichkeit nur Wahrheiten als unterschiedliche Lösungsversuche für unterschiedliche Probleme und Handlungen geben.
Aber die Wirklichkeit ist noch in einem weiteren Sinne gekränkt. Das Reale, auf das wir immer dann schauen, wenn wir überrascht werden, dekonstruiert selbst das bereits vorhandene plurale Wissen. Das Wissen ist nie vollständig, es wird durch das Reale überrascht. Eine geschlossene Lösung aller Operationen könnte das Unerwartete auslöschen und das Wissen als symbolisches System perfekt machen. Aber die menschliche Lebenswelt kennt solche Perfektheit nicht: Immer erst im Nachhinein solch symbolischer Lösungen erkennen wir durch reale Ereignisse, wie beschränkt unser bisheriges Ordnungssystem war. Wir erkennen unsere (Ent-) Täuschungen, unser Unvermögen. Das Reale wird zur Grenze am Platz der Wirklichkeit, denn durch seine Wirkungen spüren, erfahren, erleben wir unsere Begrenztheit von symbolischer Ordnung. Es begrenzt auch unsere Imaginationen, denn wir erschrecken dort am meisten, sind dort am überraschtesten oder erstaunt, wo wir uns nicht haben vorstellen können, was tatsächlich unerwartet geschehen ist.
Ist aber am Platz der Wirklichkeit ein einseitiges, ausgewähltes Wissen situiert, so wird es auch am Platz des Einen, das durch diesen Platz fundiert wird, nie das Wissen sein können, sondern ist durch seine Wirklichkeit bereits korrumpiert. Aber dies einzusehen fällt Wissenschaftlern gewöhnlich sehr schwer.
Bleibt diese Einsicht dem Selbstbeobachter verborgen, dann speichert er naiv Wissen ab und verwechselt dies mit Wissenschaftlichkeit. Erkennt der Selbstbeobachter hingegen das Dilemma dieses Diskurses, dann kann er sich nur noch retten, indem er das eine Wissen gegen anderes ausspielt. Hier läuft er entweder Gefahr, in den Diskurs der Herrn zurückzufallen, wenn er seine Meisteraussagen auf dem Platz des Einen einsetzt, oder er wird tolerant und lässt eine Pluralität von Wissen zu, was aber stets seine Position im Kampf aller gegen alle gefährdet. Dies ist heute die ausgewiesene Position all jener Denker, die sich der Postmoderne zurechnen (vgl. dazu nochmals insbes. Kapitel IV.3.3.2.3).
Nun gibt es Selbstbeobachter, die Wissen nicht nur aneignen, sondern selbst neues Wissen erfinden. Konstruktivisten verweisen sehr subtil darauf, dass eigentlich bereits jede Aneignung eine Konstruktion von Wirklichkeit darstellt, aber dies kann nicht soweit gehen, die Unterscheidung von Nachentdecken und Erfinden zu verwi­schen. Ein Selbstbeobachter, der nun meint, neues Wissen erfunden zu haben, kann diese Behauptung nicht so ohne weiteres aufstellen. In diesem Diskurstyp kann er nicht mit Macht, wie im Diskurs des Herrn, seine Erfindung gegen alles Wissen einsetzen, sondern muss zunächst das Wissen über die stete Mehrlust an Wissen an Orten der Produktion/Konstruktion aufnehmen, bevor er mit diesem schon vorhandenen Wissen eine Erweiterung, Ergänzung, Modifikation im Fluss des Wissens selbst vornimmt. Mit seiner Erfindung stellt er eine neue Meisteraussage, eine symbolische Ordnung her, die dann als Wissen zirkulieren kann, wenn er sie in das System des Wissens irgendwie einzubringen vermag. Dies ist gar nicht so leicht, wie es vielleicht von außen scheint. Und das Einbringen selbst ist immer noch keine Garantie für ein neues Wissen, denn jetzt muss es im Kreislauf dieses Diskurstyps auch noch aufgenommen werden, was voraussetzt, dass zumindest einige Subjekte es sich aneignen und in die eigene Herstellung von Wissen übernehmen. Erst mit der Anerkennung in einer wissenschaftlichen Verständigungsgemeinschaft zirkuliert das Wissen, um als Erfindung anerkannt zu sein. Deshalb ist es nicht nur günstig, sondern für den Selbst­beobachter und Erfinder von Wissen nahezu unerlässlich, selbst ausgewiesenes und anerkanntes Mitglied einer solchen wissenschaftlichen Verständigungsgemeinschaft zu sein, um genügend Macht zu besitzen, diese Zirkulation tatsächlich erreichen zu können. In der Wissenschaft sind es allemal die Zitatekartelle, die darüber entscheiden, wer im Diskurs des Wissens eine Hauptrolle einnimmt oder wer bloß Statist bleibt.
Als Fremdbeobachter schauen wir anders auf diesen Diskurs. Wenn wir nicht der Illusion der Selbstbeobachter erliegen wollen, die sich ihre enge Produktion von Meisteraussagen immer wieder als Wahrheit ihres Wissens herstellen und dieses zirkulieren lassen, als gäbe es nichts anderes, dann verliert dieser Diskurstyp seine Mächtigkeit und von Selbstbeobachtern oft konstatierte ausschließliche Bedeutsamkeit, um alle Dinge des Lebens angemessen zu regeln. Auch wenn es Wissenschaftler nicht gerne sehen, aber dieser Diskurs ist nur ein möglicher neben anderen.
Wir erkennen gegenüber dem Diskurs des Herrn eine wesentliche Verschiebung der inhaltlichen Besetzung der Plätze. Dort, wo es im Diskurs des Herrn insbesondere die heikle Stelle einer vereinfachten Wahrheit als Ausgangspunkt am Platz des Einen gibt, ist diese nunmehr auf den Platz der Wirklichkeit verschoben. Die Pluralität von Wissen kann zwar auf dem Platz des Einen als Behauptung der Wissenschaftsgemeinschaft zugelassen werden, aber der Untergrund, auf dem das eine Wissen jeweils wurzelt, seine Basis, ist eindimensional, ausschließend, verengend. Davon kann und wird der Platz des Einen mit dem vermeintlich pluralen Wissen nie unberührt sein. Plurales Wissen kann stets nur ein Kampfbegriff sein, sofern es auf dem Platz des Einen sitzt, denn dieser Platz ist gegenüber einer Pluralität selbstwidersprüchlich: Die Pluralität und die Behauptung des Einen sind unmöglich. Insofern ist plurales Wissen im Diskurs der Universität vom Platz des Einen aus gedacht eine Unmöglichkeit. Das Wissen kann, wenn es agiert, nie vollständig als das plurale Wissen auftreten. Der Wunsch nach stetem Mehr-Wissen garantiert auch noch keine Pluralität, und die Konstruktion des Subjekts führt deshalb ja auch schließlich in die Unmöglichkeit, das Wissen zu erzeugen, weil es immer nur ein Wissen als ausschließendes gibt, weil es Meisteraussagen produziert/konstruiert, die dann als neue Ausgangspunkte in diesem Diskurs zirkulieren. Dennoch steht dieser Diskurs im Zugeständnis, dass sich das Wissen nie auf das eine Wissen beschränken lässt.
Sehen wir auf die Zirkulation in strikter Selbstbeobachtung, dann erkennen wir, dass das Wissen als Diskurs ohne ein Absolutes, ohne Meister, nicht existieren kann. Nur von einer metatheoretischen Beobachterperspektive, die auf ein Wissen unabhängig von konkreten Inhalten schaut, können wir uns als Fremdbeobachter erklären, dass das Wissen selbst stets relativ sein muss. Tritt es jedoch über den Platz des Einen vermittelt in einem Diskurs auf, so wird es notwendig ausschließend.
Naiv gegenüber diesem Diskurs bleiben alle diejenigen, die den Platz der Wirklichkeit, wo immer nur Meisteraussagen auf Zeit situiert sind, als einen Platz der Wahrheit verstehen, dessen Wirklichkeit unbegrenzt erscheint. Sie verstehen nicht, dass dieser Platz als Ausgangspunkt für bestimmte Verständigungsgemeinschaften fungiert. Sie träumen dann von letzten Weltformeln, einer endgültigen Theorie, die alles erklärt, einem abschließenden und hinreichenden Wissen. Unterstützt werden solche Illusionisten oft von der Erwartung jener, die den universitären Diskurs von außen nicht durchschauen und die Erfolge der Moderne mit der Wahrheit von komplexitätsreduzierender Wissenschaftlichkeit verwechseln. Sie haben dann noch nicht die Ausschließlichkeit der Meisteraussagen und deren Einseitigkeit bemerkt, die immer durch diesen Diskurstyp hergestellt wird.
Jeder wissenschaftliche Diskurs kann bezweifelt werden. Wenn heute von Krisenphänomenen wie einer „Risikogesellschaft“ (Beck 1986) und einer ökologischen Krise gesprochen wird, so sind dies nicht Ausnahmen, die sich besiegen lassen, sondern immer wieder konkrete Fremdbeobachtungen gegenüber den Selbstgefälligkeiten des Diskurses.
Aus solcher distanzierenden Beobachtung dieses Diskurstyps erklärt sich uns auch, weshalb es Wissenschaftler gibt, die besonders Wert darauf legen, dass die Wissenschaften sich selbst kritisch reflektieren, Ideologiekritik üben, die eigenen, verborgenen Quellen ihres Wissens offenlegen (so z.B. insbesondere die „Kritische Theorie“ von Horkheimer und Adorno). Sie haben in der Zirkulation dieses Diskurses begriffen, dass die Illusionen über Wissenschaften schnell Überhand nehmen, wenn die Reduktionen am Ort der Wirklichkeit als universalisierte Wahrheit verborgen und verschleiert werden. Genau dafür aber treten Wissenschaftler immer wieder ein, wenn sie diesen Diskurstyp gegen andere retten wollen, um ihre Privilegien zu sichern. Zur Diskurs- oder Ideologiekritik gehört es dann notwendig, aus den Perspektiven des Selbstbeobachters in den Gefangenschaften von spezifischen universitären Diskursen in die Perspektiven möglicher Fremdbeobachtung zu wechseln. Von dieser Fremdbeobachterposition aus gelingt eine Dekonstruktion der Intentionen jeweiliger Verständigungsgemeinschaften, in deren Gefangenschaft ich die Kritik am eigenen Diskurs nicht mehr betreiben kann. Für den je gefangenen Wissenschaftler aber muss dieses Herausgehen geradezu als unmenschlich erscheinen. Dies verleitet ihn, in seinen nach außen legitimierten und verteidigend aufgebauten Diskursen als vermeintlich sicheren Ordnungen zu verharren. Es erklärt, weshalb nach Thomas Kuhn die Paradigmen sich in der Regel nur dann ändern, wenn die machtvollen Besetzer und Nutznießer diskursiver Positionen aussterben oder andere gegen sie Machtpositionen entwickeln können.
Es ist aus der Argumentation der interaktionistisch-konstruktiven Position heraus unumgänglich, sich einen weiteren Diskurstyp anzusehen, der in den beiden bisherigen Mustern verborgen blieb: Der Diskurs der Beziehungswirklichkeit.

(c) Der Diskurs der Beziehungswirklichkeit
Beim Diskurs des Wissens habe ich anfänglich unterstellt, dass auf dem Platz des Einen die Interessen vom Subjekt liegen müssten, was sich aber nicht bewahrheitete: Das Subjekt war dort gerade zu verbergen und durch das Wissen zu ersetzen.
In der Beziehungswirklichkeit nun scheint die Angelegenheit offensichtlich: Das Subjekt muss auf dem Platz des Einen situiert sein, und dieses Subjekt richtet sich an ein anderes Subjekt oder mehrere Subjekte, die am Platz des Anderen stehen.
Vergebe ich nun die inhaltlichen Plätze, dann bietet sich folgender Diskurstyp an (siehe nächste Seite). 
Auf dem Platz des Einen sitzt hier ein Subjekt, aber für den Selbstbeobachter ist es immer ein Anderer als Subjekt, der für ihn agiert und auf den er reagiert. Es ist als Anderer ein stets schon durch die Zirkulation veränderter Anderer, der sich auf das Subjekt bezieht, wobei die Zirkulation in der Beziehungswirklichkeit nie eine ausschließende, autonome Position zulässt. Jedes Subjekt zirkuliert in Beziehungen, jedes ist immer schon beziehungsmäßig vorausgesetzt. Es hat sich immer schon in Beziehungen ausgebildet, bevor es sich bezieht.
Und auf dem Platz des Einen, wo der andere/Andere situiert ist, und dem es als Subjekt gegenübersteht, trifft es auf eine Verdopplung:
Einerseits bezieht es sich auf seine Imagination eines anderen, denn es kann diesen anderen doch nie direkt sich einverleiben oder in den anderen über seine Beziehung unvermittelt eintreten und dort wirken. Seine vermittelte Wirkung ist bloß seine Vorstellung dieser Wirkung, bis der Andere sich hierzu geäußert hat. Äußert sich der Andere in diesem Sinne, dann aber ist er selbst Subjekt und uns als Anderer konfrontiert. Der Selbstbeobachter entkommt so nie dem Dilemma, den anderen in diesem Diskurs nur über sich und sein individuelles Vorstellen vermittelt zu erreichen.

bild_IV_4.2.g.gif

 

 

 

 

 

 

a

Das Bild des anderen ist eine Imagination

A

Der Andere tritt als ein Anderer in den Diskurs ein

S

Das Subjekt ist auf dem Platz des Anderen, sofern sein Bild des anderen oder der symbolisch Andere sich auf diesen Platz bezieht (als Gegenüber, als Anderer)

W1

Auf dem Platz der Konstruktion sitzt die Wahrheit, die vor- oder hergestellt wird

W2

Das Wissen sitzt am Platz der Wirklichkeit; Beziehungen werden als Wissen erfahren, aber im Nach- und Nebeneinander der re/de/konstruierten Wahrheiten ist dieses Wissen relativ

Gleichwohl kann andererseits ein Wechsel in die Rolle des Fremdbeobachters uns – und damit auch jeden Selbstbeobachter mit Selbstdistanz – erkennen lassen, dass der Platz des anderen nicht nur ein imaginierter Platz in einer interaktiven Kommunikation ist, sondern dass dort tatsächlich ein Anderer sitzt, der ebenso zirkuliert wie das Subjekt, weil dieser Andere eben auch ein Subjekt ist, das zu sich selbst immer nur in Vermittlung mit etwas „außer sich“ zurückkehrt. Ob und wann wir diesen Anderen nun auf die Position des Einen setzen oder als Anderen situieren, bleibt ganz den Vorstellungen und Wahrnehmungen des Beobachters überlassen.
Subjekt und Anderer stehen sich gegenüber, aber diese Gegenüberstellung ist nicht eine einfache Wechselbeziehung, sondern eine verdoppelte Beziehung, deren symbolische Festschreibung (= das, was wir vom Anderen „real“ erfahren) immer über die imaginierte und damit begehrte Vorstellung (= das, was wir uns über den anderen einbilden) vermittelt wird. Insoweit ist die Forderung an den Platz des Einen, sich im Anderen direkt umzusetzen, in diesem aufzugehen, etwa ein Input-Output-Modell zu realisieren, unmöglich, denn es übersteigt die Möglichkeiten des Subjekts. Und da der a/Andere aus meiner subjektiven Beobachtung immer auf den Platz des Einen rückt (ich als imaginär Begehrender eines anderen oder ein symbolischer Anderer, der mir äußerlich in einer Aktion erscheint), drückt dieses Diskursmodell sehr klar die Rückbezüglichkeit, die Zirkularität von Verhalten und Beobachtungen in der Beziehungswirklichkeit aus: Es ist unmöglich, diese nach wahr oder falsch, nach Anfang oder Ende zu beurteilen, denn die Zirkulation selbst auf den Plätzen des Einen und Anderen verbietet jedes lineare oder kausale Ableitungsverhältnis.
Aber der Selbstbeobachter gibt sich mit diesem Verbot selten zufrieden. In der Selbstbeobachtung der Subjekte in diesem Diskurstyp lauert die Gefahr, alle Beobachtungen vorschnell in ein Wissen über den anderen/Anderen und damit sich selbst aufgehen zu lassen. Dies hängt mit dem Platz der Konstruktion/Produktion zusammen, an dem in jeder Beziehung bestimmte Verständigungen hergestellt werden, über die man sich klar ist, die unbesehen übernommen werden, die Geltung und Gültigkeit haben, die mit anderen Worten die Meisteraussagen oder die symbolische Ordnung in den Mustern einer Beziehung ausmachen. Dies können Einigungen im Sinne von Konventionen, Traditionen usw. über die Muster der Beziehung selbst sein, aber auch alle hierin verwobenen Inhalte, die durch die Beziehungswirklichkeit betroffen sind.
Warum aber sitzt diese komplexitätsreduzierende Kraft hier auf dem Platz der Produktion/Konstruktion? Ein Blick auf spezifische Diskurse in Beziehungswirklichkeiten lehrt uns dies schnell: Pragmatisch gesehen kann man in Beziehungen nie anders, als sich gegen das abzugrenzen, was auch noch beziehungsmäßig, inhaltlich, symbolisch oder imaginär sein könnte, d.h. man muss sich in irgendeiner Form – diese mag noch nicht einmal offen formuliert werden – auf jene verengenden Perspektiven einigen, mit denen man in der Zirkularität des Aufeinanderbezogenseins diese Beziehung organisiert und praktikabel hält. Sie wäre sonst keinem Beziehungsalltag gewachsen. Und deshalb sitzt am Platz der Wirklichkeit hier auch das Wissen, das sich allein in Abhängigkeit aus diesen Meisteraussagen gewinnen und ablesen lässt, weil es sonst keinen Ort der Herleitung in diesem Diskurs hat. Wahr ist, was ich aus den Aussagen in den Beziehungen weiß, obwohl ich weiß, dass diese Aussagen die Komplexität reduzieren, weil sie am Ort der Konstruktion notwendig verengend sein mussten. Insoweit gilt die Wahrheit nur für die Dauer der Konstruktion! Deshalb verändern sich die Wahrheiten nach Auflösungen von Beziehungen auch so gravierend. Sie schlagen dann in sofortiges Unwahrsein um, weil das Wissen am Platz der Wirklichkeit die alten Wahrheiten in neuem Licht erscheinen lässt, wenn die Konstruktionen sich ändern.
In diesem Diskurs sitzt das Wissen auf dem Platz der Wirklichkeit. Es kann dabei nur plurales, unübersichtliches Wissen sein, das zudem stets durch das Reale überrascht werden kann: Eben noch meinen wir, alles zu wissen und die symbolische Ordnung klar zu überschauen, jetzt staunen wir, was geschehen ist.
Wenn wir die Pluralität der Post/Moderne ernst nehmen, dann scheint unser Staunen abzunehmen. Wir erwarten ja geradezu, da wir ohnehin nicht alle Wissensvorräte überschauen können, dass es irgendwo ein Wissen gibt, das uns die noch so unwahrscheinlichste Erscheinung des Realen bereits vorgezeichnet hat. Aber was nützt dieses uns nicht bekannte Wissen? Es mindert die Erscheinung des Realen nicht. Es zeigt allenfalls, wie vielfältig das Wissen geworden ist.
Therapeuten, die sich mit Beziehungsdynamiken beschäftigen, können nie wissen, was wirklich zu tun ist. Diese Wirklichkeit kommt allein dem Wissen zu, das ein interagierendes Beziehungssystem für sich als Lösung findet. Aber die Therapeuten können wissen, dass das Wissen im Blick auf die Wahrheitskonstruktionen relativierenden Charakter am Platz der Wirklichkeit trägt. Sie können mit dieser Beobachtung vor allem absolute und unerfüllbare Forderungen des Beziehungssystems dekonstruieren und lösungsorientiert arbeiten, indem sie ein relativierendes Wissen als Lösungsmöglichkeit fördern.
Aber gibt es nicht eine Grenze dieser Relativität des Wissens auf dem Platz der Wirklichkeit? Sie erscheint sofort, wenn wir in den Diskurs der Universität wechseln: Dann fordern wir Wahrheit. Oder im Diskurs des Herrn: Dann fordern wir die Herstellung einer bestimmten Subjektivität. Aber in der Beziehungswirklichkeit werden solche Zuschreibungen zur Festlegung einer bestimmten Lebensweise, was mit dem Anspruch auf Freiheit, Demokratie und Subjektivität, auf Pluralität und Offenheit der Lebensformen, wie es für die Post/Moderne typisch geworden ist, sofort kollidiert. Andererseits führen viele Menschen diesen Diskurs mit der Ausschließlichkeit eines Wissens auf diesem Platz. Dies trägt einen tragischen Charakter, wenn dieses Wissen nicht gegen die Wirklichkeit auf Dauer durchgesetzt werden kann. Solche Tragödien aber werden zum neuen Beweis für die Unmöglichkeit, die Bezie­hungen nach Wahrheiten zu konstruieren und diese Wahrheiten ungebrochen zu verwirklichen.
Was aber wäre, wenn die pluralen Ansprüche in diesem Diskurs ein falscher Schein sind, wenn sie die Menschheit in den Untergang – einen selbst verschuldeten – führten? Dann müsste – wie schon Platon in seinem Wächterstaat fordert – ein Herrendiskurs geführt werden, der die Freiheiten begrenzt. Oft haben wir neuerdings aus der Sicht des Diskurses der Universität solche Aufforderungen gehört. Aber sie sind in der Gegenwart unwahrscheinlicher denn je: In den Beziehungsgeflechten der Post/Moderne hören die Menschen zunehmend weniger auf die komplizierten theoretischen Diskurse, sie geben sich vielmehr der Lebenswelt selbst hin, die im Kapitalismus alles zu bieten scheint. Und sie unterliegen einem dabei produzierten Schein auch offensichtlich zusehends mehr. Er verspricht die Pluralität schlechthin durch Vervielfältigung aller Möglichkeiten. Andererseits ist es genau dieser Schein, der die größte Gefährdung der Beziehungen selbst darstellt, wie wir später mit Baudrillard diskutieren werden. Denn wenn am Platz der Konstruktion sich die Wahrheiten von Beziehungen nach den Mustern virtueller Teilnehmer realisieren, dann führt dies schnell zu einer Degradierung der konstruktiven Wahrheitsmacht des handelnden Beziehungspartners: Die Subjekte werden dann in ihren Imaginationen wie im Blick auf reale Andere durch die Virtualität entmachtet, die ihnen die eigene Beziehungsarbeit abnimmt und durch Klischees von Beziehungen ersetzt. So erlebt man zusehends weniger die Dekonstruktion der eigenen Wahrheiten am Platz der Wirklichkeit, so wächst kein Beziehungswissen als Selbsterfahrung, sondern wird illusionär am Platz der Wirklichkeit durch Schein-Welten ersetzt.
Der Selbstbeobachter in Beziehungen entwickelt meist nicht umfassend die Position des Wissens in alle Breite. Er verharrt vielmehr auf seinem Erfahrungswissen. Und darin steckt bereits eine erste große Gefahr. Was kann geschehen?
Besonders einengend ist die Position, wenn der Selbstbeobachter den Anderen auf dem Platz des Einen bloß als sein Konstrukt von klein a zulässt und dieses Konstrukt für die ganze Wirklichkeit hält. Damit verkennt er die Unmöglichkeit einer klaren und bestimmenden Beziehungsinteraktion oder Beziehungskommunikation von vornherein. Er erklärt sie zu seiner eigenen Möglichkeit, was einen Platz der Macht gegen den Anderen bedingt, denn nur die Vorstellung des Anderen, wie sie über die eigene wahrnehmende Imagination gegeben erscheint, scheint die ganze Wirklichkeit abzubil­den, widerzuspiegeln, tatsächlich umfassen zu können. Die daraus entspringenden Anlässe, unglücklich zu werden, sind hinreichend von Watzlawick u.a. beschrieben worden. Sie führen in Beziehungen dazu, dass man Anfang und Ende eines wahren Wissens, eines tatsächlichen Verhaltens, einer Schuld und einer kausalen Erklärung zuschreibt, indem man sich selbst als Subjekt die Macht verleiht, stichhaltig über jeden Anderen entscheiden zu können.
Demgegenüber sind Interaktion und Kommunikation unter den Bedingungen eines relativierenden Austauschs über unterschiedliche Wahr­nehmungen und Sprach- und Denkspiele als Öffnung von Perspektiven besser geeignet, Beziehungen reflektiert zu führen. Therapeuten denken, dass sie dann auch glücklicher sein können.
Nun handeln in den Diskursen der Moderne Selbstbeobachter allerdings keineswegs aus bloßen egoistischen Motiven so, als wäre ihre Wahrnehmung der anderen die einzig richtige. Der Druck auf die Selbstzwangapparatur, den wir mit Elias feststellten, die Disziplinierungen und Disziplinarmächte, die alle Körper und Beziehungen durchqueren, wie wir mit Foucault sahen, führten zu Intensivierungen von Beobachtungsleistungen, die sich auf immer längere Interdependenzketten, auf komplexe Handlungsfolgen einzustellen hatten. Angesichts von Anpassungsdruck an gesellschaftliche Zwänge bei gleichzeitiger Freisetzung möglicher Kreativität und Veränderungen in den Zwängen selbst steigerte sich so die Widersprüchlichkeit menschlicher Beobachtungs- und Handlungsmöglichkeiten, die immer wieder Rückzüge auf scheinbar sichere Wahrnehmungen aus den Kontexten der eigenen Sozialisation und darin dominanter Beobachtungsmuster veranlasst. Diese Rückzüge werden dann zur Offensive gegen Beziehungspartner, sie erscheinen als An- und Übergriffe insbesondere gegen Minderheiten, Unterdrückte, Sündenböcke, allesamt Lebenserfahrungen, die das 20. Jahrhundert bis ins Extrem ausprobierte, obwohl gleichzeitig durch Emanzipationsbewegungen der Andere in seiner anderen Wahrnehmung immer stärker in den Dickichten der Lebenswelt erscheinen und auch den Diskurs der Beziehungswirklichkeit besetzen konnte.
Als Fremdbeobachter erkennen wir, dass die Gefahr der Überwältigung, der Verdinglichung des Anderen in der Kommunikation nur dann gemildert werden kann, wenn die Positionen von Subjekt und Anderen austauschbar bleiben, wenn klein a nicht die Überhand in jeder Interpretation gewinnt und sich als Meisteraussage in ein scheinbar abgerundetes und sicheres Wissen über Menschen einschleicht. Dies wollte ins­besondere Levinas vermeiden, wie ich weiter oben diskutierte (Band 1, Kapitel II.2.2), wenn er den Anderen kontrastierend zum Selbst als unvermittelbar und unverwechselbar hervorhob.
Dann erkennen wir auch, dass ein Diskurs der Beziehungswirklichkeit, der nicht der Illusion der Möglichkeit der einlinigen Bestimmung des Anderen unterliegen will, sich nur ausformen kann, wenn die Wahrnehmung des anderen/Anderen, obwohl sie auf dem Platz des Einen sitzt, vielfältig aktivierbar und verschiebbar bleibt, d.h. wenn er auf keinen Fall starr komplementär zum Platz des Subjekts steht, sondern die Beobachterplätze stets gewechselt werden können, was eine Symmetrie zum Ausdruck bringen würde. Dies bedingt dann in diesem Diskurs aber eine Selbstreflexion des Subjekts, das sich von vornherein auf einem unmöglichen Platz im Blick auf sein Gegenüber reflektieren muss, um nicht der Verdinglichung des Anderen durch seine Vorstellungen und Wünsche zu erliegen. Konsequent kann dies aber nur gelingen, wenn der Andere eine Mächtigkeit zurückerhält, die ihn gegen klein a, gegen die Wunschvorstellungen, gegen das einverleibende Begehren, gegen die Vereinnahmung schützt, indem sie ihn stets als bedeutsam in die Zirkulation dieses Diskurses zurückkehren lässt. Der Andere ist auf dem Platz des Einen ernst in seiner Andersartigkeit zu nehmen. Dieses Ernstnehmen wäre ein wünschenswerter Beginn eines jeden Diskurses über Beziehungswirklichkeiten.
Damit habe ich in diesem Diskurs zwei Möglichkeiten skizziert, die sehr gegen­sätzlich sind: Einerseits jene Beobachter, die Beziehungen nach ihren eigenen Wunsch­vorstellungen über andere bestimmen, wobei sie leicht auf Diskurstypen wie den „Diskurs des Herrn“ oder den „Diskurs des Wissens“ zurückgehen, um ihre Macht auszudrücken; andererseits jene Beobachter, die den Anderen und damit auch sich selbst als Andere zulassen, obwohl sich in ihnen dagegen alles sträuben mag, wenn sie ihrem Begehren nach der Sicherheit ihrer Wahrnehmung folgen. Sie müssen lernen und anerkennen, dass ihre Wahrnehmung nicht Wahrnehmung für alle Anderen schlechthin sein kann.
Die zweite Position favorisiert der interaktionistische Konstruktivismus. Aber es ist keine Position der Stärke, sondern zunächst der Schwäche. Sie gibt eine eigene Schwäche und Unmöglichkeit zu, was gerade von jenen, die die erste Position mit Macht besetzt halten, als Unfähigkeit gedeutet werden kann, überhaupt angemessen einen Diskurs zu führen. Genau dies aber ist die not­wendige Illusion, wenn man die Existenz dieses Diskurstyps überhaupt bestreitet, um beruhigt zu den „Herrendiskursen“ oder „Universitätsdiskursen“ zurückzukehren, um alle alltäglichen, beziehungsmäßigen, auch unbewussten Bewegungen zu verleugnen.
Bevor wir diese Diskurse im Zusammenhang nochmals betrachten, müssen wir dem „Diskurs des Unbewussten“ aber noch näher nachgehen.

(d) Der Diskurs des Unbewussten
Eigentlich scheint es unmöglich, etwas von einem Diskurs des Unbewussten aussagen zu können, da es ja gerade Aufgabe von Diskursen ist, bewusste Aussagen festzuhalten. Wie sollen wir dann das Unbewusste erreichen?
Selbstverständlich geht dies nur bewusst. Aber wir sprechen bewusst über etwas, was in den Grenzen des Bewussten selbst nicht ausgeschöpft wird. Es gibt, so die Behauptung, Dinge, Geschehnisse, Ereignisse, die bewusst ablaufen mögen, wenn Beobachter sie bemerken, die dabei aber etwas produzieren/konstruieren, was diesen Beobachtern selbst entgeht, so dass andere Beobachter von unbewussten Folgen, Ereignissen usw. im Sinne einer Ursachenzuschreibung, einer Erklärung oder eines Verstehensversuches sprechen. Dies habe ich in der dritten Kränkungsbewegung ausführlich diskutiert.
Wie kann ein solcher Diskurstyp beschrieben werden? Seine Plätze scheinen wie folgt besetzt zu sein:

bild_IV_4.2.h.gif

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

S

=

Das Subjekt ist auf dem Platz des Einen, es hat seine ureigensten subjektiven Gefühle und Wahrnehmungen

W1

=

Auf dem Platz des Anderen sitzt die Wahrheit, sie scheidet das Verworrene vom symbolisch Deutbaren

W2

=

Das Wissen sitzt am Platz der Konstruktion: aus der Spannung zwischen Subjekt und der vom Subjekt entworfenen Wahrheit auf dem Platz des Anderen wird ein Wissen über das Unbewusste konstruiert

a

=

Am Platz der Wirklichkeit steht das Begehren und die Imagination, mehr über sich zu erfahren, und die Unmöglichkeit, alles erfahren zu können

A

=

Das Andere, Fremde, Unbekannte, das Unbewusste erscheinen am Platz der Wirklichkeit, weil das Subjekt sich nie ganz versteht; oder das Reale wird als Schrecken, Staunen, Erregung usw. erlebt

 

 

 

Auf dem Platz des Einen sitzt das Subjekt, das als sein Gegenüber Meisteraussagen sieht, vorgestellte Bilder, Denk-, Sprach­annahmen, die alle nur eines darzustellen scheinen: Eine Entgegensetzung, die rückbezüglich etwas über das Subjekt selbst aussagt. Dies alles kann bewusst oder unbewusst geschehen, es kann reflektiert oder unreflektiert sein. In dieser Figur als wahrnehmende und differenzierende Subjektivität erleben wir uns ja ständig: Wir stellen uns etwas vor, denken, tun etwas, sehen etwas, fühlen, schmecken, riechen, hören, um damit über die Begrenztheit unseres Körpers, unserer Haut, unseres Selbst hinauszugehen auf etwas, das uns immer schon gegenübersteht – und merkwürdigerweise kann dies sogar unser eigener Körper, unsere Haut, unser Selbst sein.
Entscheidend für das Unbewusste aber ist vor allem der Platz der Konstruktion, an dem erst entschieden wird, ob etwas überhaupt unbewusst geschehen war.
Der Selbstbeobachter zieht zunächst aus jeder subjektiven Aktion gegen ein beliebiges Gegenüber bewusste Folgen. Er sieht Wirksamkeiten seiner Hand­lungen, seiner Träume und Vorstellungen usw., indem er sie auf sich selbst zurückbezieht. Er spricht davon, was er geschaffen hat, was er produziert und konstruiert, warum er dies tut, was man damit erreicht usw. Erst mit geeignetem Beobachterabstand mag er stutzig werden: Früher sah ich die Dinge und Ereignisse so, aber erst heute erblicke ich, was diese Handlungen für meine weitere Entwicklung bedeuteten. Damals konnte ich das nicht abschätzen. Obwohl ich damals alles bewusst wahrnahm, so blieben die Folgen mir unbewusst. Oder er staunt, wenn er seine Träume betrachtet. Da erscheinen unerklärliche Bilder und Aktionen, verdichtete und verschobene Ereignisse aus einer scheinbar irrealen Welt, die mit Wünschen und Traumata korrespondieren, die irgendwie aus dem tiefen Inneren emporsteigen, ohne dass dieser Vorgang selbst, über den wir bewusst sprechen mögen, zugänglich wird. Da bleibt etwas unbewusst. Oder er wird nachdenklich, wenn er seine Beziehungen zu a/Anderen beobachtet. Warum fühlt er sich zu den einen hingezogen, aber nicht zu a/Anderen? Woher kommen diese inneren Stimmen, die die Welt nach Sympathien und Antipathien abgrenzen, nach Gefühlen und Schwankungen in diesen, die uns oft (unbewusst) handeln und sprechen lassen?
Der Fremdbeobachter kann sich diese Vorgänge scheinbar klarer platzieren. Er mag durch Beobachtung erkennen, dass agierende Subjekte stets einen Teil ihrer Aktionen nach Motiven, Gefühlslagen, Vorstellungen führen, die ihnen im Moment der Aktion selbst unbewusst sind, aber auch, dass die Folgen, die sie durch alle diese Aktionen konstruieren, selbst unbewusste Wirkungen entfalten, die erst von späteren Beobachtern herausgefunden werden mögen.
Damit ist dieser Platz der Konstruktion immer heikel: War er eben noch in irgendeinem anderen Diskurstyp ein Platz bewusster Vorgänge und Abläufe, so wird er in diesem Diskurs zu einer schwierigen Stelle nachträglicher Interpretation oder einer Interpretation neben jenem Beobachter, der gar nicht bemerkt, was geschieht. Stets also kann das Unbewusste in jedem anderen Diskurs eingeschlossen sein, wenn es nur Selbst- oder Fremdbeobachter gibt, die am Ort der Konstruktion sich etwas entdecken, was dem Bewusstsein entging, was vergessen, verfehlt, verdrängt wurde.
Gleichwohl präsentiert sich auf diesem Platz in diesem Diskurs das Wissen, denn das jeweilige Wissen über den Zusammenhang von Wahrnehmung und Meisteraussagen ist ja das einzige, was zunächst konstruiert wird. Das Unbewusste kann sich nie als ein Nichts produzieren/konstruieren, sofern wir es wissen, weil wir einen symbolvermittelten Zugang zu ihm finden. Wir können nur aus einem bewussten Wissen heraus die Konstruktion des Unbewussten beurteilen, auch wenn dieses Wissen einschließt, dass wir zugeben müssen, damit nie das Unbewusste gänzlich einfangen oder auch nur ermessen zu können. In diesem Spiel sind wir doppelt gefangen: Einerseits sprechen wir über das Unbewusste wie über ein vor- und hergestelltes Wissen, indem ich z.B. diesen Text schreibe; andererseits kann das Unbewusste längst in die Veranlassung dieses Schreibens eingedrungen sein, indem es sich z.B. als Ersatzbefriedigung oder Ablenkung, als Sublimierung oder Rationalisierung usw. geltend macht, weil unbewusst noch etwas ganz Anderes, was ich bisher gar nicht durchschaue, dahintersteht.
Was bleibt dann für den Platz der Wirklichkeit? Das Unbewusste kann kein wahres Wissen präsentieren. Das produzierte/konstruierte Wissen bezieht sich vielmehr stets auf andere/Anderes, was die Unmöglichkeit ausdrückt, für das Unbewusste eine klare oder wahre Wirklichkeit auszusagen, weil diese hier nur als Potenz aufgefasst werden kann, die in den jeweiligen singulären Realisierungsmöglichkeiten des anderen/Anderen erscheint.
Dies ist genauer zu betrachten. Erneut unterscheide ich hierzu den Selbst- und Fremdbeobachter.
Der Selbstbeobachter, der zu seiner symbolisch aufgefassten Wirklichkeit des Unbewussten kommen will, ge­langt über seine Produktionen/Konstruktionen zwar zu einem Wissen über das, was er produziert hat, aber dies bleibt ihm zunächst fremd, steht ihm wie ein Gebilde gegenüber, das mit Anderen zu tun hat. Da er diese andren aber vermittelt über seine Imaginationen wahrnimmt, da er sich begehrend und wünschend auf andere bezieht, erfährt er als Wirklichkeit seine Vorstellung von anderen, um so über Andere nichts und über sich alles zu erfahren. Dies aber ist für den Selbstbeobachter eine fatale Falle, denn wenn er diese Wirklichkeit als alleinige Wahrheit annimmt, dann mag er verrückt werden, denn als Subjekt kann er sich nicht ausschließlich in seinen Imaginationen begründen, weil er so weltfremd wird, weil so keine äußere Realität hinreichend eingreift, seine Vorstellungen zu begrenzen. Der Verrückte schafft in solchem Falle seine Wirklichkeit aus einer vermeintlichen Autonomie, die ihn aus den Beziehungen mit anderen und sich so weit entrückt, dass er bloß noch in sich zirkuliert. Dann führt er keinen Diskurs mehr, denn auch der Diskurs des Unbewussten bleibt ihm verschlossen, weil er die Brüchigkeit seiner Wirklichkeit durch den Eintritt des großen, fremden Anderen nicht mehr erkennen kann.
Nur der Selbstbeobachter, der hier auch auf die Position des Fremdbeobachters wechseln kann, mag sich der Verrücktheit enthalten oder sie als begrenztes Spiel entfalten können. Er muss realisieren, dass alle seine Meisteraussagen, die sich als Wissen produzieren/konstruieren, unmöglich in eine wahre Wirklichkeit des Anderen zurückkehren können. Und dies ist hier komplizierter als im Diskurs der Beziehungswirklichkeit. Es ist nicht nur der äußere Andere, der hier nicht erreicht werden kann, sondern auch das innere andere, was eben als Unbewusstes in der Psychoanalyse bezeichnet wird, das am Platz der Wirklichkeit immer fundamental Anderes bleibt. Zwar können wir als Beobachter die gewagtesten Hypothesen hierüber abge­ben, zwar können alle möglichen Selbstzwänge und Kontrollversuche gestartet werden, aber im Grunde bleibt mein Imaginäres auf diesem Platz unerreicht, insofern es immer erst in der Zirkulation symbolisch begrenzt geschaut werden kann. So wird die Wirklichkeit des Unbewussten allenfalls für eine Erklärung der Zirkulation und der Besonderheiten hierbei taugen, aber nicht abgeschlossene Ansichten erbringen. Das Imaginäre als Vorstellung von anderen und das je Andere als das Fremde, das auch in mir selbst Fremde und Andersartige, das mich erstaunt und immer wieder verblüfft, wenn ich mich traue hinzusehen, sitzt hier am Platz einer Wirklichkeit, die alle anderen Wahrheiten dekonstruiert.
So sitzen das Symbolische und Imaginäre auf dem Platz der Wirklichkeit, um dann auch noch durch das Reale dekonstruiert zu werden. Das Reale ist das nicht durchschaute a/Andere, das wir im Schrecken, im Staunen, in möglichen Erregungen, die aus dem Nichts zu kommen scheinen, erleben. Eben noch saß z.B. unsere Imagination auf dem Platz der Wirklichkeit, nun tritt an ihre Seite das Reale. Vielleicht hatten wir uns in einem schönen Tagtraum eingerichtet, um auf einmal von einer unbegreiflichen Angst erfasst zu werden. Diese tritt wie ein äußeres, unbegriffenes Schicksal in unseren Tagtraum ein und zerstört ihn. Vielleicht aber hatten wir auch einen symbolisch Anderen als Wirklichkeit aufgerichtet, und nun zeigt sich durch vorher unbekannte Zeugen oder Wahrnehmungen, dass wir uns getäuscht haben. Der Andere ist nicht der, der er wirklich zu sein schien. Ein Reales zerstört seine Realität, weil es uns zu einer neuen Wirklichkeitsauffassung zwingt. Können wir nun sicher sein, dass es die abschließend richtige sein wird? Wir können es auf diesem Platz unmöglich wissen.
Hier mögen besonders Abwehrleistungen symbolischer oder imaginärer Art herausgefordert sein, um diese Unmöglichkeit zu bewältigen und sie in Möglichkeiten zu überführen. Nur selten gelingt es uns, diese Unmöglichkeit zu akzeptieren und sie für sich stehen zu lassen.
Wie wirkt eine solche (unmögliche) Wirklichkeit auf die Wahrnehmung zurück? Das Subjekt steht auf einer fragwürdigen Grundlage, die stets gegen es gekehrt sein kann, weil es nicht in sich zugleich agierend schauen und begründet handeln kann, weil es in sich eine Leere, einen Riss, eine Dunkelheit verspürt, die existenziell aufgerissen wird: Das Unbewusste selbst schweigt stets, wenn wir es nicht nach diesem Dis­kurstyp im Nachhinein oder von außen schauen wollen, es produzieren/konstruieren, um Aktionen der Subjekte zu verstehen, deren Motive, deren Begehren und Wunschvorstellungen uns sonst unklar blieben. Schauen wir aber solchermaßen gezielt, dann geraten wir in die Welt symbolischer Ordnung, die als Diskurs sich entwickelt und das Unbewusste als Unmögliches selbst symbolisch möglich machen will, indem wir Berichte erstellen, Beobachtungen in Sprach- und Denkspielen gerinnen lassen, alles kommentieren.
Damit ist uns ein eigenartiger Diskurstyp entstanden. Aus der Sicht der Psychoanaly­se taugt er, wenn auf das unbewusste Fundament jeder subjektiven Aktion geschaut wird, um über innere Antriebe, über inneres Begehren und dessen Wechselspiele zwischen Lust- und Realitätsprinzip zu spekulieren. Es wird diskursiv eine Hintergründigkeit der oberflächlichen Handlungen und menschlichen Begegnungen intendiert, die aber selbst offen für das Unbewusste als das nie vollständig Greifbare bleibt. Aus der Sicht des Realen erscheint das Unbewusste als noch nicht bewusste Folge, die die Menschen überrascht, die sich hinter ihrem Rücken produzierte, um immer erst später oder zu spät bestaunt zu werden.
So entsteht ein Diskurs, der das Subjekt an den Ort des Einen zurücksetzt, um ihn in seiner Einfalt zu zeigen: Stets bezieht es sich auf eine Reduktion, eine Auswahl von Meisteraussagen und symbolische Ordnungen, die erst das Wissen konstruieren und damit auch plurales Wissen schon aus der Perspektive der Einfalt schauen müssen. Dies ist die Subjektivität mit all ihren Unschärfen. Deshalb bleibt als wahre Wirklichkeit entweder nur die Imagination von Wirklichkeit aus einem Begehren des Subjekts selbst heraus oder als zurückkehrendes, nicht gewusstes Reales. Beobachter, die diesen Platz der Wirklichkeit besetzen, sind dann am Platz einer Dekonstruktion, denn der gesamte Diskurs ist eine Konstruktion von Spekulationen des Beobachters darüber, wo seine Grenzen liegen.

 

4.4. Der Wechsel der Beobachterplätze

Die vorgestellten Diskurstypen können wir auch als Metadiskurse bezeichnen. Sie sind von hoher Allgemeinheit und für Einzelanalysen sehr offen (vgl. als ein einführendes Beispiel Neubert 2003).  Als Beobachterperspektiven sind sie geeignet, Diskurse einzuordnen und nach dem Spiel ihrer Abfolge kritisch zu analysieren. Dabei ist es erstens interessant zu sehen, welcher der hier genannten vier Diskurse bei verschiedenen Themen schwerpunktmäßig betroffen ist; zweitens ist es aber auch wesentlich zu analysieren, wie sich dies in den Positionen von Selbst- und Fremdbeobachter verschiebt; drittens wird es entscheidend sein, die Metadiskurse als ein Sprach- und Denkspiel zu nutzen, mit dem man etwas über Leerstellen von Diskursen erfahren kann.
Bei der Vorstellung der einzelnen Diskurse ist deutlich geworden, dass eigentlich alle Diskurse in den anderen Diskursen Bedeutungen assoziieren lassen. Wir haben bei gleichbleibenden Plätzen nur die Besetzungen um jeweils einen Schritt verschoben, was als Sprach- und Denkspiel Unterschiede generierte, die Unterschiede produzieren. Eine besondere Rolle kommt dabei dem Diskurs der Beziehungswirklichkeit zu. Dies liegt daran, dass Diskurse im wesentlichen eben dazu dienen, die Beziehungen durch Versachlichung und Entsubjektivierung zu verschleiern, damit auch die Machtfrage zu verbergen.
Der Diskurs des Wissens bzw. der Universität ist bis heute der Prototyp einer solchen Entwicklung. Gegen ihn lässt sich schon mit dem Diskurs des Unbewussten einklagen, dass dann, wenn auf dem Platz des Einen vorrangig das Subjekt gesehen wird, die Wahrheit selbst unwägbar wird. Mit dem Diskurs der Beziehungswirklichkeit aber wird deutlich, dass sich diskursive Bemühungen überhaupt, sofern wir aus ihnen Menschen nicht entfernen wollen, auf einer Interaktion gründen, deren Verschleierung nur darin bestehen kann, an die Stelle der Subjekte oder Personen Statthalter und Stellvertreter treten zu lassen, die uns das Subjektive und den Anderen vergessen machen sollen. Mit dem Diskurs der Beziehungswirklichkeit können wir gegen solche Selbstvergessenheit antreten, indem wir diesen Diskurs gegen die anderen Diskurse anführen und sie als seine Ableitungen, Absonderungen, Selbstvergessenheiten dekonstruieren.
Dies reicht im interaktionistischen Konstruktivismus so weit, dass ich von einer herausgehobenen Bedeutung der Beziehungswirklichkeit gegenüber den anderen Diskurstypen sprechen will. Darin drückt sich aus, dass der Diskurs der Beziehungswirklichkeit die einzige Chance für Menschen bietet, sich relativ frei und gleichberechtigt miteinander auszutauschen, also auch eine Interaktion und Kommunikation zu ermöglichen, die größtmöglich frei von übertriebener Herrschaft und Macht sein kann, obwohl gerade dieser Diskurs uns immer wieder belehrt, dass es keine Machtfreiheit gibt.
Allerdings sollten wir bedenken, dass der Austausch der oben genannten Positionen im Diskurs der Beziehungswirklichkeit uns schnell wieder in den Diskurs des Unbewussten führt. Verschieben wir die Besetzungen um einen Zug, dann sitzt auf dem Platz des Einen das Subjekt, um sich und seine Wirklichkeit  zu erfahren. Es erfährt die Wahrheiten seiner Subjektivität und konstruiert hieraus ein Wissen, das symbolisch den a/Anderen zu bezwingen scheint. Im Diskurs der Beziehungswirklichkeit steht der a/Andere auf dem Platz des Einen, was markiert, dass es um Interaktion, prinzipielle Dialogizität, geht, nicht aber um reine Subjektivität. Diese scheint im Diskurs des Unbewussten für das Subjekt angesprochen, erweist sich aber auch hier als Illusion. Denn am Platz der Wirklichkeit muss das Subjekt in all seiner Subjektivität anerkennen, dass diese nicht in sich aufgeht, sondern am a/Anderen ihre Grenze findet. Ein Wissen jedoch findet das Subjekt über solche Vorgänge allein im Diskurs der Beziehungswirklichkeit. In diesem Diskurs ist die Wahrheit als Konstruktion direkt ausgewiesen, das (plurale, offene, widersprüchliche, ambivalente) Wissen erscheint als Wirklichkeit in Beziehungen.
Es ist diese Relativität des Wissens auf dem Platz der Wirklichkeit, die uns ein Primat des Diskurses der Beziehungswirklichkeit aufstellen lässt, weil nur in diesem Diskurs Kommunikation als Kommunikation über Kommunikation hinreichend reflektiert möglich erscheint.
Und dennoch bleibt die Frage, ob wir irgendeinem dieser Diskurstypen so ohne weiteres ausweichen können. Die historische Dominanz der Herren- vor den Wissensdiskursen und die sehr junge Erkenntnis über die Bedeutung von Diskursen des Unbewussten (Freud) und Beziehungen (der hier vertretene Ansatz) kann nicht unbeachtet bleiben. Aber sind diese Metadiskurse nicht vielmehr allesamt bestimmend für die sogenannte zivilisatorische Post/Moderne?
Es gehört zur Lebenskunst – sei es in Spezialisierungen dieser Diskurse selbst oder in den Wechselfällen des Alltags – sich sicher in diesen Metadiskursen zu bewegen und die Sprach- und Denkspiele mitzugestalten, die hierdurch als rekonstruktive Grundlage unserer Lebensführung angeboten werden. Mag man auch noch so sehr konstruktivistisch – also eigenständig erfinderisch und kreativ – agieren oder dekonstruktiv die vorgegebenen Rekonstruktionen entlarven, in dem Spiel um Subjekte und andere/Andere, um Wissen und Meisteraussagen wird man nicht umhin können, die Plätze zu wechseln, sich unterschiedliche Diskurse und deren Geltung in wechselnden Verständigungsgemeinschaften zu verdeutlichen, sich eigene Perspektiven zu erschließen. Für den interaktionistischen Konstruktivismus ist dabei ein Wechsel der Perspektiven maßgeblich. Wir wollen uns weder auf einen bestimmten Platz noch dessen spezifische Besetzung festlegen, weil wir meinen, dass diese Einengung uns in die geschilderten Fallen der einzelnen Diskurse führt, die wir allenfalls – und dies ist unsere neue Falle – durch einen Wechsel, durch eine Verschiebung der Besetzungen bestimmter Plätze vermeiden können. Deshalb war unser einführendes konstruktivistisches Lebensweltmodell, mit dem man immerhin schon Felder einer Analyse bezeichnen kann, nicht hinreichend: In ihm verbleibt die Bewegung des Diskurses noch zu sehr feldorientiert (erst untersuchen wir dies, dann das), wohingegen wir jetzt der zirkulären Bewegung direkter nachspüren. Der Mindestanspruch im ersten Fall orientierte sich darauf, bestimmte Felder überhaupt zu markieren, die als unverzichtbar für eine konstruktivistische Reflexion von Lebenswelt erscheinen. Dies bleibt einer traditionellen Sichtweise am ehesten verständlich. Der Mindestanspruch im zweiten Fall erweitert sich, da in der Bewegung vor allem das Unbewusste und Reale deutlicher in unser Erkennen hinzutreten und in der Prozedur reflektiert werden können. Dies erscheint gegenüber traditionellen Sichtweisen von Diskursanalysen als radikal neu (und unverständlich?).
Nun mag man bestreiten, dass die Plätze hier richtig gewählt und die Besetzungen hinreichend begründet wurden. Allein ein Wechsel in den möglichen Kombinationen der Besetzung der Plätze mit den vier vorgeschlagenen Beobachtungsperspektiven würde eine Fülle weiterer Diskursmöglichkeiten eröffnen. Sie er­weitern sich, wenn wir auch die Plätze variieren oder gänzlich andere Beobachtungsinhalte oder -beziehungen einführen. Dies kann und sollte gerade ein interaktionistischer Konstruktivismus stets herausfordern, denn der Wechsel der Beobachter wie der Beobachtungen ist eben Kennzeichen im variantenreichen Spiel der Diskurse selbst. Gleichwohl gibt es immer Plätze und Besetzungen in diesem Spiel. Die hier eingeführten haben sich bei von uns bisher durchgeführten Diskursanalysen als besonders handhabbar erwiesen.

 

4.5. Exemplarische Konkretionen von Diskursanalysen

Konkrete Diskursanalysen und Überlegungen zur Diskurstheorie, wie wir sie z.B. bei Foucault finden, zeigen andere Beobachtermöglichkeiten und -perspektiven als die hier geschilderten auf. Gleichwohl lassen sie sich im Spiel der Plätze und Besetzungen auch auf die hier konstruierten Typen zurückbeziehen. Wir können fragen, welcher der Diskurstypen in solchen Konkretionen wieder aufscheint. Wir können im Wechselspiel der vier Metadiskurse sogar ein Sprachspiel einrichten, das es uns erlaubt, alle möglichen Diskurse in dieses Spiel einzuordnen. Ein Sinn solcher Spiele ergibt sich besonders dann, wenn wir auf den Wechsel der vier Diskurse schauen: Wie verändern sich die Positionen z.B. eines beliebigen Diskurses der Universität, wenn wir ihn aus den Perspektiven einer Besetzung nach der Seite des Diskurstyps des Herrn, der Beziehungswirklichkeit und des Unbewussten gestalten? Spielen wir einmal dieses Sprachspiel an ausgewählten Beispielen, weil ich hierdurch den kritischen Charakter der konstruktivistischen Diskurstheorie am besten belegen kann.

 

4.5.1. Anknüpfung an bisher diskutierte Diskurse

In einem ersten Schritt will ich einige mögliche Diskurse aufzählen, die wir kennen. Da mögen uns zunächst die Theoriediskurse einfallen, die wir schon nach Theorien ordnen: Der Diskurs der Psychoanalyse, der Wissenssoziologie, des symbolischen Interaktionismus, der Relativitätstheorie, der Quantenmechanik, der Autopoiese, um nur einige zufällig ausgewählte zu nennen. Dann mögen uns übergreifende Diskurstypen einfallen: Der Diskurs der Normalität, des Wahnsinns, der Sexualität, der Macht, der Geschwindigkeit, der Maschinen usw., die sich auf bestimmte Phänomene in der Lebenswelt beziehen und an diesen verdeutlichen, nach welchen von den Diskursen produzierten Regeln wir handeln und leben. Eine Sonderform mögen dann noch Diskurse einnehmen, die Soll-Forderungen symbolisieren: Die Diskurse der Herrschaftsfreiheit, der Gerechtigkeit, der Gleichheit, der Freiheit usw. fordern Bedingungen der Möglichkeit von Diskursen ein, die sie diskursiv erörtern.
Nun könnten wir alle diese Diskurse in eine allgemeine Diskurstafel eintragen. Die Versuchung ist groß: Benennen wir am besten alle möglichen Plätze und Besetzun­gen, um eine Übersicht zu erhalten. Wenn man allein alle Drehungen und Wendungen der uns zur Verfügung stehenden Plätze und Besetzungen nimmt, dann ergibt sich schon ein großes Spektrum. Aber dieser Versuchung wollen wir widerstehen, denn wir müssen uns zuvor Rechenschaft darüber ablegen, was eine solche Anwendung bringen soll. Als Sprachspiel in einer Selbstbeschäftigung sind unendliche Diskurstafeln möglich, aber mit welchem Sinn? Hier sollen die vier Metadiskurse einen ausgewiesenen Sinn erfüllen: Sie sollen uns als vereinfachendes Modell helfen, bestehende Diskurse nach der Vielfalt ihrer Beobachtermöglichkeiten zu untersuchen und in ihren Beschränkungen und Auslassungen zu kritisieren. Obwohl meine Denkfiguren zunächst als sehr simpel erscheinen, werden sie hierbei gute Dienste erweisen können. Ich habe vier Beispiele ausgewählt, die nochmals einige Gedanken aus der bisherigen Argumentation aufnehmen. Insbesondere die beiden letzten sehr kurzen Beispiele über Habermas und Luhmann erfordern das Nachlesen der ausführlicheren Kritik in Band 1.

Beispiel 1: Der Diskurs von Selbst- und Fremdzwängen nach Elias
In einer interessanten Verbindung von Soziologie und Psychoanalyse hat uns Norbert Elias durch seine Studien zum Zivilisationsprozess insbesondere auf das Phänomen des Übergangs von den Fremd- zu den Selbstzwängen in der Moderne aufmerksam gemacht (vgl. Kapitel I). Der von Elias dargestellte Diskurs ist selbst ein Diskurs der Universität. Am Platz der Wahrnehmung sitzt hier das Wissen, das durch die Wahrheit seiner Meisteraussagen fundiert wird. Also ist auch die These von der Existenz der Fremd- und Selbstzwänge eine Meisteraussage, was voreilige Universalisierungen dekonstruiert. In meiner Diskurstheorie habe ich hier gegen wissenschaftliche Diskurse immer schon eine dekonstruktive Sicht eingebaut. Nehmen wir nun aber den Diskurs der Fremd- und Selbstzwänge konkreter in den Blick, so müssen wir den Beobachter schauen lassen. Was sieht er – möglichst unbefangen – als erstes?
Der Diskurs des Unbewussten: Betroffen scheint hier in erster Linie das Subjekt selbst zu sein, so dass wir unseren Beobachter eine erste Wahl treffen lassen. Er wählt das Subjekt als Ausgangspunkt und setzt es auf den Platz des Einen. Die Setzung von Fremd- und Selbstzwängen, so denkt sich der Beobachter, erfolgt durch das Subjekt. Diese Zwänge entsprechen, vereinfacht ausgedrückt, einer Position, in der die Handlungs- und Interdependenzketten von Menschen vielgestaltig mit notwendig anzueignendem Wissen, Meisteraussagen, Beziehungsfragen und subjektiver Identität immer schon vermittelt erscheinen. Die Zwänge kommen nie aus einem Nichts. Dennoch müssen sie erst einmal geschaut werden, damit wir überhaupt bemerken, was vorliegt: „Das Subjekt nimmt einen Zwang wahr“, diese Markierung wird zum Ausgangspunkt.
An wen wendet es sich? Sein Selbst, so könnten wir in allgemeiner Sicht sagen, wendet sich an einen Zwang, der zu ihm zurückkehrt. Dieser Zwang soll helfen, die Konstruktion von Beziehungen herzustellen und hierüber ein möglichst sicheres Wissen aufzubauen. Wir haben damit also eine Bewegung vom Subjekt auf Meisteraussagen (W1), die die Zwänge darstellen, die Beziehungen konstruieren helfen, um zu einem wahren Wissen hierüber (z.B. Tugendlehren, Disziplinierungen, Moral) anzuwachsen. Am Ort des Anderen sitzt somit die Wahrheit der Zwänge, das, was sie für das Subjekt darstellen (sollen). Hiermit wird schon eine Tücke dieses Diskurses beschrieben. Jene Selbstzwänge, die am Platz des Einen sitzen, und die wir gar nicht bemerken, lassen (ohne kritischen Beobachter) auch nicht den Anderen oder das Andere aufscheinen: Sie funktionieren einfach so, automatisch, unbewusst. Erst wenn bewusst etwas Anderes hinzutritt (Differenz), bemerken wir den Zwang, der uns dazu treibt, zu handeln. Wir selbst stehen in dieser Beziehung zu uns.
Handeln wir, so besetzen wir am Platz der Konstruktion unsere Zwänge mit Wissen. Dies mag zunächst eigenartig erscheinen. Wir könnten ja auch denken, dass wir am Platz der Konstruktion die Zwänge selbst konstruieren. Aber wie soll dies geschehen?
Sitzt das Subjekt auf dem Platz des Einen, bemerkt es über die Spannung zum Ande­ren überhaupt, dass hier Zwänge auftreten – etwa durch die Fremdbestimmung der Eltern, die etwas verbieten, oder durch die innere Stimme eines schlechten Gewissens –, dann wird am Platz der Konstruktion das Wissen geprüft oder erzeugt (vor­ oder hergestellt), was als Muster bisher bezüglich des Umgangs mit solchen Situationen und Zwängen erworben wurde. Dies ist die bewusste Seite. Der Fremdbeobachter sieht sie meist deutlich, der Selbstbeobachter mag sie leicht übersehen, sofern er in seinen Praktiken und aus Gewohnheit handelt.
Am Platz der Wirklichkeit steht einerseits das eigene Begehren, sich immer wieder wirklich in seinem erfolgreichen Durchleben der Interdependenzen und ihrer Kontrolle zu erfahren (paradoxerweise eine Mehrlust nach Fremd- und besonders nach Selbstzwang), andererseits aber auch der Andere/das Andere, der/das fremd bleibt, weil die Selbstzwangapparatur nie völlig durchschaut werden kann.
Ein Zugang zu Aspekten der Psychogenese im Zivilisationsentwurf bei Elias kann insbesondere durch diesen Diskurs des Unbewussten eröffnet werden. Elias macht uns ja gerade darauf aufmerksam (und dies ist seine besondere Leistung im Anschluss an Freud), wie die Selbstzwänge als unbewusste Strukturen eine Apparatur von Zwängen generieren, die wir als Diskurs deuten können (sofern wir nicht als Selbstbeobachter unreflektiert in dieser Apparatur existieren). Dieses Unbewusste ist weniger ein traumhaft Unbewusstes als vielmehr ein noch nicht bewusstes, das sich an den Automatismen erlernter Zwänge orientiert, um am Platz der Wirklichkeit davon überrascht werden zu können, dass die einverleibten und begehrten Zwänge nicht immer aufgehen. Das Reale macht sich hier z.B. geltend, wenn körperliche Symptome aufgrund von Überforderung aufbrechen, die Kultur sich verändert und erworbene Zwänge nicht mehr passen usw.
In klein a wird das Begehren des Selbst dargestellt, die Welt so zu sehen, wie es durch die Wünsche des Selbst vermittelt wird; als großer Anderer aber greifen  tatsächlich Andere/s in solches Begehren ein und bezähmen es, obwohl es – und dies symbolisiert das Feld der Wirklichkeit und seine Subversion durch das Reale – eine nicht zu vermeidende Spannung zwischen a und A gibt, die sich individuell je anders lösen wird. So konstruieren sich in diesem Diskurstyp große Varianzen, die insgesamt zwar den Titel Zwänge tragen mögen, obgleich sie individuell sehr unterschiedlich ausfallen.
Unser Beobachter, der recht unbefangen an die diskursive Verortung der Fremd- und Selbstzwänge nach Elias gegangen ist, hat, so denke ich, zunächst folgerichtig gehandelt. Er hat die Besetzungen so auf den Plätzen situiert, wie es im Alltag meist geschieht: Das Subjekt wird auf den Platz der Wahrnehmung gestellt und wir sehen mit den Zwängen, was geschieht.
Der Diskurs des Wissens: Elias allerdings hat diesen Diskurs nur aufschreiben und rekonstruieren können, weil er in einem anderen Diskurstyp das Problem verankerte. Dies ist der Diskurs des Wissens. Bei ihm steht auf dem Platz des Einen das Wissen über Fremd- und Selbstzwänge. Er fängt deshalb an, diese als Phänomene zu beschreiben und zu klassifizieren. Die Ausgangsperspektive ist hier das schon vorhandene Wissen, das dann in die Differenz gestellt wird:

  • zu klein a, indem das Wissen selbst immer weiter differenziert wird. Elias ergänzt ununterbrochen die Phänomene der Zwänge und erweitert sie in seinen Betrachtungen, wie eine Analyse seiner Schriften uns zeigen kann. Eine Mehrlust an den Ergänzungen der Differenzen in den Zwängen ist erkennbar. Wir können dies auch als das Begehren von Elias selbst deuten, seine eigene Theorie – in Beziehung zu uns, seinen Lesern – zu vervollkommnen;
  • zu groß A, zu jenem symbolischen Wissen von Anderen, die abzuprüfen, zu zitieren, zu kritisieren sind. In seinem „Prozess der Zivilisation“ macht Elias ausgiebig von diesen Methoden Gebrauch. Kein Wissenschaftler kann eine Theorie aufstellen, ohne sich anlehnend oder abwertend an große Andere zu wenden. Versachlicht er­scheinen sie als Quellen, persönlich als Freunde oder Gegner.

Aus dem Spannungsfeld, das sich zwischen Einem und Anderen ergibt, entspringt die Lösung am Platz der Konstruktion: Hier ist das Subjekt mächtig, etwas eigenes zu wagen: „Seht! Ich erkenne folgende Fremd- und Selbstzwänge.“ Es konstruiert. Als solch ein Konstrukteur gelingt es Elias, uns diese Theorie zu entwerfen. Wenn wir seinen Diskurs dann später durchgehen, dann müssen wir an diesem Platz diesen Entwurf nacherfinden, nachentdecken, was allemal ein Vor- und ggf. ein Herstellen erzeugt.
Hat Elias konstruiert, haben wir es rekonstruiert, dann sitzt am Platz der Wirklichkeit die Wahrheit: „Das haben wir jetzt begriffen! Fremd- und Selbstzwänge sind ...“ Und schon haben wir unsere Wahrheit, die in die Wahrnehmung als unsere neue Wirklichkeit zurückkehrt. Ja, jetzt sehen wir diese Zwänge in fast allen menschlichen Handlungen.
In dieser neuen Position sind wir viel sicherer als in der vorherigen. Dort war die Wirklichkeit zweifelhaft, die Fremd- und Selbstzwänge erschienen im (unbewussten) Erleben mehr oder minder zufällig nach den Aktionen der Subjekte aufzuscheinen; hier nun erscheinen sie sicher und wahr.
Gleichwohl muss unsere neue Position eingestehen, dass sie stets durch die vorherige gekränkt werden kann. Dies wäre nur zu verhindern, wenn der Diskurs mit der Wahrheit die Wirklichkeit zum Abschluss bringen könnte. Dies aber ist unmöglich. So kann es sein, dass wir meinen, eine vollständige Liste mit Fremd- und Selbstzwängen nach Elias gefunden zu haben, aber diese Vollständigkeit ist eine Illusion. Und als Illusion gilt sie mehrfach: Sie gilt für alle die Beobachter, die gar nicht in den Besitz des Diskurses der Universität gelangen können – diese wissen gar nicht, was sie tun; sie gilt auch für die Beobachter, die vermeintlich wissen, was sie tun, die aber nicht wissen können, was sie noch nicht wissen (Erscheinen des Realen).
Jetzt mögen wir neugierig geworden sein. Was geschieht in den verbleibenden zwei Diskurstypen? Gehen wir zunächst zum Diskurs des Herrn.
Der Diskurs des Herrn: Setzen wir auf den Platz des Einen anstelle des Wissens die Meisteraussage eines Selbstzwangs (z.B. als Aufforderung zu einem bestimmten Zwang), dann erscheint das Wissen (über Zwänge) als Anderes, als Differenz. Der bestimmte Zwang ordnet sich so z.B. ein in die Disziplin. Aus dieser Spannung heraus erzeugt sich am Platz der Konstruktion entweder eine Mehrlust an diesem Zwangsgeschehen (der erwünschte Regelfall in einer zwanghaften Erziehung = Wiederholung) oder es lauert ein Anderes an diesem Platz, das erst konstruktiv einverleibt werden muss (z.B. Transfer des Selbstzwangs auf unbekannte Umstände). Das selbstzwangorientierte Subjekt ist dann am Platz der Wirklichkeit situiert, wobei die erfolgreiche Bewältigung der vorhergehenden Plätze die Qualität und Quantität von Selbstzwang ausmachen.
Allerdings ist diese Interpretation Wunschdenken aus der Immanenz einer Wirkung, die sich die Herren erhoffen. Der Fremdzwang muss hier sehr kontinuierlich und effektiv wirken, um souverän das Subjekt am Platz der Wirklichkeit zu erzeugen. Für die Herren gilt, dass sie Selbstzwänge in übertriebenem Maße (Abstreifen von Todesfurcht) entwickeln müssen, um sich als Herren zu behaupten. Damit aber wird die Problematik ihres Scheiterns bereits angezeigt: Der Vorgang der Selbstbeherrschung wird brüchig bleiben, denn das Subjekt verinnerlicht am Platz der Konstruktion sehr von außen die Zwänge; es wird wenig selbst aktiv bei ihrer Fortentwicklung. Dies gilt für Herren wie für Knechte gleichermaßen. Ihr Erfindungsreichtum bleibt ungenutzt. Deshalb taugen eher klare Unterwerfungen, Tradierungen und Gewohnheitsbildungen, um nach diesem Diskurs zu verfahren. Gleichwohl ist er in der Erziehung bis heute wirksam, weil und insofern sich hier die Tradierung von Macht am klarsten und einfachsten stellt: „Wenn du erfolgreich deinen Selbstzwang entwickeln willst“, so spricht die Erziehung, „dann musst du …!“
Der Diskurs der Beziehungswirklichkeit: Im Diskurs der Beziehungswirklichkeit entdecken wir eine neue Bewertung. Hier sitzt am Platz des Einen klein a oder groß A. Was kann dies bezogen auf Zwänge sein?
Das Subjekt ist in diesem Diskurs auf dem Platz des Anderen situiert, es nimmt als Selbstbeobachter auf dem Platz des Einen zunächst immer den a/Anderen wahr:

  • als klein a seine Imaginationen von anderen, womit überhaupt eine Beziehung hergestellt wird; diese kann allerdings rein innerlicher Natur bleiben;
  • als groß A (die über a vermittelte) wahrzunehmende Aktion, das Ereignis, Symptom, Phänomen usw., das eine auch äußerlich sichtbare Beziehung konstituiert.

Über die eigenen Imaginationen von a haben sich nun auf diesem Platz schon alle Zwänge eingeschlichen, die unser Subjekt zu vertreten hat. Sie nehmen den a/An­deren sofort in die Gefangenschaft einer Zurechnung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden, Sympathien und Antipathien, denn das als „normal“ erkannte Verhalten (die sozialisierten Zwänge) entscheidet je nach seinem erreichten und ausgefeilten Stand über zugelassene oder abgelehnte, angenehme oder unangenehme, freundschaftliche oder feindliche Beziehungen an diesem Platz. Deshalb wird in der Nachfolge der höfischen Gesellschaft in der bürgerlichen Kultur auch so viel Wert auf die Etikette gelegt, die diese Gefangenschaft symbolvermittelt bearbeitet. Je stär­ker jedoch die Position des Subjekts emanzipiert wird, das am Platz des Anderen sitzt, um so mehr mag auch die Etikette zerfallen: Schließlich wird es mehr und mehr zu einer Frage subjektiven Empfindens, was in Beziehungen schicklich ist. Aber dies ist schon paradox formuliert: Denn schicklich bleibt es schließlich doch, was nur einen relativierten Ausdruck für Etikette darstellt.
Wir sehen hieraus, dass aus der Spannung von a/Anderen und Subjekt am Platz der Konstruktion offenbar Wahrheiten entstehen, die für den Moment der Beziehung ihre Geltung bekunden. Dies relativiert sehr stark die noch eben übermächtigen Zwänge aus der Sicht des Diskurses des Wissens. Im Diskurs der Beziehungswirklichkeit werden die Wahrheiten munter aus den Interaktionen der Subjekte konstruiert. So erzeugen sich diese Subjekte ein temporäres, mehr oder minder zufälliges, singuläres Wissen auf dem Platz der Wirklichkeit, das unzählige Abstufungen, Ausnahmen, in der Post/Moderne sogar direkte Widersprüche zulässt. Einseitig aus dieser Sicht ist alle Diskurstheorie der schlauen Gelehrten, die über Zwänge handeln, denn die Beziehungen sind ein lebendiger Vorgang.
So verwundert es nicht, dass in der Post/Moderne, in einer Kultur, die stärker auf Beziehungsdiskurse setzt, die Selbstzwänge sich verändern. Sie werden aufgeweicht und ausgehöhlt, wenngleich sie nicht an ihr Ende getrieben werden können, solange der gesellschaftliche Verkehr Umgangsformen, Regeln, Kodifizierungen usw. erzwingt. Aber die Variabilität der Zwänge steigt, wie der Wandel der Etikette, des Verhaltens, der Normierung von Image, Status, Prestige usw. im 20. und 21. Jahrhundert zeigt.

Betrachten wir nun nochmals zusammenfassend den Wechsel der Besetzungen auf den Plätzen. Diskurse drängen in ihrer Selbstwahrnehmung stets auf den Typus der Universität. Nur hier sind sie sicher zu führen. Aber genau ihre Dekonstruktion durch die anderen Diskurse zeigt uns eine Beobachtervielfalt, die die Ausschließlichkeit des universitären Diskurses kränkt. Wir sind damit erneut in die Kränkungsbewegungen eingetreten, nur dass wir sie diesmal idealtypisch als Diskurstypen und den Wechsel zwischen ihnen fassen. Im Blick auf Elias haben wir folgendes gelernt:
Der Diskurs des Unbewussten zeigt als erster Zugang, dass wir bei einer alltäglichen Betrachtung – ganz anders als im Diskurs der Universität – zunächst sehr subjektorientiert vorgehen. Die Spannung entsteht hier aus den Aktionen, Ereignissen, Wahrnehmungen des Subjekts im Blick auf das Eine, auf dem die Subjektivität gesetzt erscheint, und dem Anderen, das durch eine Wahrheitssetzung als Ausdruck dieser Subjektivität eingegrenzt wird. Dies verändert die Position gegenüber dem Wissens- bzw. Universitätsdiskurs erheblich: Nicht das Wissen wird zunächst genommen (es könnte vieldeutig sein), sondern die subjektive Setzung, die sich auf kulturell schon Bekanntes, Schickliches, Zwanghaftes bezieht. Aus dieser Sicht sehen wir, dass in dieser Spannung zunächst wenig Freiheit liegt. Diese kann sich im Diskurs des Unbewussten oder des noch nicht Gewussten und Durchschauten erst am Platz der Konstruktion herstellen, wenn Wissen erzeugt wird. Je mehr wir in unserem Leben in solcher Spannung gestanden haben und diese einer Lösung zuführten, um so stärker wächst das Wissen an, wie man sich situativ gegenüber Zwängen verhält. Hier trägt das Wissen eine eigene Mächtigkeit, aber weniger das Subjekt, das solches Wissen erst vor- und herstellt. Dies bleibt jenen vorbehalten, die uns überhaupt erst einen Diskurs des Wissens erzeugen (also z.B. Elias). Für den Alltag ist es mehr ein Nachentdecken, Nacherfinden der Wissenstatbestände, die schon erdacht und erfunden wurden. Das Unbewusste in diesem Diskurstyp erlaubt es kaum, über die Subjektivität der Setzungen hinauszugelangen, wenn auch das Wissen darüber verfeinert werden kann. Aber es bleibt am Ende eine entfremdete Wirklichkeit, in der das Ich sich als anderen oder Andere schaut, ohne sie als einfache Wahrheit vereinnahmen zu können.
Der Perspektivwechsel wird hier für den universitären Diskurs sehr interessant: Hat der Konstrukteur von Wissen bedacht, dass dieses als Disziplin(ierung) den  Alltag durchquert? Nimmt er die veränderte Position des Subjekts wahr? Was bedeutet dies für die Macht von Diskursen?
Dort aber, wo der Diskurs des Wissens sich seiner Wahrheit sicher ist – am Platz der Wirklichkeit – steht im Diskurs des Unbewussten entweder bloß die Mehrlust nach Zwängen und deren immanente Bewältigung oder eben das Andere, Fremde, nicht Zwing- und Zwängbare – also die größte Unsicherheit im Erleben einer zwanghaften Perspektive.
Gerade hier wird der Diskurs des Wissens kritisierbar: Ist es doch auf Dauer und in der Singularität der Ereignisse (im individuellen Erleben) sehr unwahrscheinlich, dass am Platz der Wirklichkeit eine Wahrheit von erfolgreichen Zwängen sitzen kann. Solch einen Erfolg sieht man nur in der Theorie, in der Abstraktion, die mit großem Abstand den Sinn fürs Detail verliert. Handelt hingegen das Subjekt subjektiv vom Platz des Einen aus, so wird es gerade an diesem Platz keine Wahrheit finden können, sondern nur sich selbst in seinen Imaginationen und Spiegelungen mit Zwängen erleben oder die Undurchdringlichkeit, Brüchigkeit, Löchrigkeit des Zwanghaften überhaupt erfahren. So mag es Elias wie uns allen ergangen sein: Sicher ist er in den Bestimmungen des Wissensdiskurses, unsicher in der Privatsphäre seines Unbewussten.
Wir benötigen diesen Perspektivwechsel, um uns vor der scheinbaren Übermacht unserer Wissensdiskurse zu schützen. Und gerade hier kann eine konstruktivistische Beobachtertheorie als Diskurstheorie uns helfen, indem sie jede Rekonstruktion von Wissen über Perspektivwechsel zu dekonstruieren versteht. Dies ist der wesentliche Sinn des Denk- und Sprachspiels, das wir hier unternehmen.
Im Diskurs des Herrn erkennen wir dabei eine Regression auf gewaltvolle Lösungen, die meistens dann einsetzen, wenn die Zwänge selbst agiert werden. Klassisch hierbei sind die Fremdzwänge, die auf den Platz des Einen gestellt werden. Dann verschwinden die vielfältigen Subjekte, und z.B. in der Gestalt des drohenden Vaters erscheint der Fremdzwang in Ausdruck und Geste: „Gehorche!“ Die Wahrheit selbst hat Platz genommen, wer sollte sie hinterfragen? So wird die Geschichte der Fremdzwänge gebildet, denen gegenüber das Wissen als zwar mögliche Differenz erscheint, aber doch nur als eine Differenz, die den Sinn des Gebotes noch einmal vergegenwärtigt. Das Wissen in diesem Diskurs erscheint in der Regel als Abgleich mit den schon vorhandenen und symbolisch kodifizierten Anpassungsleistungen. Die Wahrheit des Gebotes hat ihre Tradition im Wissen, das als Kontext für das Wahrheitsgebot bereitsteht. „Es war schon immer so, dass die Kinder dem Vater gehorchen mussten!“ Andererseits zeigt dieser Vater die Notwendigkeit einer Verinnerlichung in Selbstzwänge an, denn in der Generationenfolge der Herren kommt es nun gerade darauf an, dass sie Andere beherrschen, weil sie sich selbst beherrschen können.
Gerade dieser Diskurs zeigt, dass Fremdzwänge fast immer in Selbstzwänge übersetzt werden. Am Platz der Konstruktion sitzt zwar einerseits der große (drohende) Andere (also z.B. der Vater), aber andererseits eben auch die eigene Imagination a, die den Fremdzwang re/de/konstruktiv verwandelt: In Annahme (also Selbstzwang), in Trotz oder Boykott (der scheinbar einzige Weg des Entkommens), in positive Selbstbesetzung (Selbsteinsicht, die meist eine gesteigerte Form von reflektiertem Selbstzwang produziert).
Am Platz der Wirklichkeit sitzt hier das Subjekt. Es erscheint als eine Wirkung, ein Ergebnis der Wahrheit und des Wissens, einer Konstruktion schließlich, die immer durch die Kontrolle des Anderen und eigene Imaginationen begleitet wird.
Hier lernt der Diskurs des Wissens eine andere Begrenzung kennen. Er sieht, wie Wahrheit und Wissen sich in Gewalt verwandeln und über Subjekte verteilen. Er kann erkennen, dass das Subjekt nicht mehr Konstrukteur mit hoher Mächtigkeit (der Reflexion, der Herstellung) ist, sondern am Platz eines Wirkens, eines Geschehen-Werdens sitzt: Als ein in die Wirklichkeit geworfenes, existierendes, be­zwungenes.
Der Diskurs der Beziehungswirklichkeit ergibt ein verändertes Bild. Hier ist der Platz des Einen doppelt besetzt: a stellt ein subjektives Begehren dar, das durch das Erleben und Erfahren von Lebenswelt bereits durch Wissen beeinflusst ist. Auch ist dieses Wissen, wenn es aus Herrendiskursen erzeugt wurde (und keine Erziehung scheint mir frei hiervon sein zu können), bereits mit Wahrheitseinschlüssen besetzt, die a eine kulturell ermöglichte Freiheit zukommen lassen wollen. Doch kann eine Kultur – selbst unter Berücksichtigung großer individueller Vielfalt – das Begehren bezwingen? Die Imaginationen gehen vielfältige, sonderbare, unkalkulierbare Wege. Wird diese Vielfalt in Form z.B. eines Wunsches, eines Begehrens, einer Lust auf dem Platz des Einen zum Ausgangspunkt eines Diskurses, dann sehen wir in Hintergründe unserer symbolischen Handlungen. Hier vermuten wir verborgene Motivationen, sublimierte Handlungen, versteckte Interessen, verdrängte Muster. Selbstbeobachter müssen in der Regel hier nicht wissen, was sie warum tun; Fremdbeobachter versuchen zu re/dekonstruieren, was jene nicht wissen können oder wollen.
Als A stellt es den Anderen dar, dessen Bedeutung am Platz des Einen sehr schwankend sein kann. So hat im Diskurs des Herrn das Kind ja eine Beziehung zu seinem Vater, nur dass dieser in diesem Diskurs nicht die Beziehung lebt, sondern die Wahrheit auf dem Platz des Einen favorisiert. Aber ist die Beziehung dadurch ausgeschlossen? Gewiss nicht. Sie mag, wenn auch noch so verkümmert, stets erscheinen, wenn wir nur genauer hinsehen.
Hier ist das Subjekt selbst der Andere, der sich im a/Anderen spiegelt. Ohne die anderen Meta-Diskurse kann diese Spiegelung kaum geschehen, denn die anderen Dis­kurse schleifen die Inhalte in die Beziehungswirklichkeit. Aber ohne die Beziehungswirklichkeit bleiben die anderen Diskurse lebensfern und entrückt. Alle  Spannungen zwischen Einem und Anderen stellen sich hier über Subjekte her. Am Platz der Konstruktion werden sie durch Wahrheiten gereinigt, und dies bedeutet, dass gerade hier ein Wechsel in die Diskurse des Herrn und Wissens oft stattfindet. Dann wird die Beziehungswirklichkeit durch deren Inhalte und Besetzungsabläufe überschwemmt. Die Selbst- und auch Fremdbeobachter verkennen dann die Mechanismen dieses Diskurstyps, weil sie in andere Typisierungen zurückfallen. Warum geschieht dies so leicht?
Die Wahrheit in Beziehungen ist stets relativ, das wissen alle, die Beziehungen führen. Die Wirklichkeit der Beziehungen ist ein Wissen, das die eingeschränkte Wahrheit enthält: Beziehungswahrheiten als Konstrukte gelten so lange, wie die Bezie­hung ihre Wirklichkeit hat. Im Nach- und Nebeneinander der Beziehungen aber erfahren wir als Wissen, wie eingeschränkt diese Wahrheiten sind. Das aber ist für viele Menschen ein unerträglicher Zustand. Gerade Beziehungen werden deshalb rationalisiert und ritualisiert, wie wir diskutiert haben, um symbolische Ordnung in Verbindung mit Interessen und Macht zu erhalten.
Im Grunde ist dieser Diskurs zutiefst Ausdruck der konstruktivistischen Weltsicht, denn in ihm sitzt am Platz der Wirklichkeit ein plurales Wissen. Gleichwohl er­scheint in ihm das Problem der Wahrheit am Platz der Konstruktion, und in vielen Beziehungen scheint dies dann auch die Wirklichkeit zu betreffen: Denn solange die Wahrheiten dieser Beziehung gelten, scheint nichts unumstößlicher als sie (sowohl die Wahrheit als auch die Beziehung). Unter der Sicht solcher Unumstößlichkeit erscheinen dann besonders die Zwänge, von denen wir hier handeln, als Garanten einer unverbrüchlichen Beziehung (Liebe). Aber als generalisierte und universali­sierte Zwänge zerstören sie auch sehr schnell die Spannung in der Beziehung. Es findet eine Regression in den Diskurs des Herrn statt, wenn die Wahrheit nur dieser Beziehung in den Vordergrund tritt. Schwer hingegen ist das Wissen als plurales am Platz der Wirklichkeit auszuhalten: Beziehungen erzeugen zwar ein Wissen über uns, aber es gibt weder ein sicheres noch vollständiges Wissen. Hier macht sich zudem das Reale geltend, indem es das unvollständige Wissen auch noch durch unvorhersehbare (mitunter schreckliche) Ereignisse subvertiert.
Im Diskurs der Beziehungswirklichkeit zeigen sich Fremd- und Selbstzwänge als Konstrukte, denn als Wahrheitsaussagen gelten sie am Platz der Konstruktion. Je mehr wir ein Wissen hierüber erwerben können, desto stärker können wir sie in gewissen Grenzen auch verändern. Wir wissen dann, dass sie bloß Konstrukte sind, die in unseren Beziehungen zirkulieren. Aber, und dies zeigt die Mächtigkeit der Wissensdiskurse, dann müssen wir das Subjekt als Konstrukteur auf den Platz der Konstruktion einsetzen, damit diese Änderung auch symbolisch (reflektiert) erscheinen kann.

Beispiel 2: Foucaults Diskurs der Macht
Foucault hat ein großes Gespür für Perspektivwechsel gehabt, und seine Diskurs­analysen kommen meinen Vorstellungen sehr nah. Er erkennt, dass Diskurse – und hier meint er Wissensdiskurse – immer Beziehungen und komplexere Blickweisen auslöschen. Deshalb ist ihm eine Archäologie wichtig, die im Blick auf Diskurse uns die Vielfalt entbirgt, die wir dann allerdings in einer Genealogie – als „glücklichem Positivismus“ – wieder in die Einfalt treiben. Mit dieser Unterscheidung macht Foucault in anderer Argumentation auf das Dilemma aufmerksam, dass auf dem Platz der Wirklichkeit in den Wissensdiskursen die Wahrheit sitzt, die immer unter Ausschlussbedingungen steht und damit eigentlich (auf Dauer) unmöglich ist.
Der Diskurs der Universität: Er wird bei Foucault ganz nach meinen Stufen entwickelt. Allerdings hilft er, die Besetzungen zu differenzieren.
Wenn das Wissen auf dem Platz des Einen sitzt, dann ist bei Foucault dieses Wissen immer mit Macht verknüpft, die sich als Verknüpfung auch in die Wahrheit am Platz der Wirklichkeit einschreibt. Foucault differenziert die Positionen des Wissens und der Wahrheit und bezeichnet die Verbindung zwischen beiden mittels Strategien, die wir weiter oben konstruktivistisch gedeutet haben (vgl. Kap. IV.3.3.2.1). Dort haben wir zweierlei gesehen: Am Platz der Konstruktion sitzt z.B. für Foucault die Disziplin(ierung), wenn sich Wissen und Macht im Spannungsfeld mit Selbstansprüchen (a) und Fremdansprüchen (A als strukturelle Gewalt) vermitteln. Diese Position ist in unserer Diskurstheorie nun durch das Subjekt belegt. Und genau dies ist auch die Argumentation bei Foucault: Macht geschieht nicht vorwiegend gegen das Subjekt (dies wäre stärker, wenn auch nicht ausschließlich, im Herrendiskurs der Fall), sondern als Diskurs des Wissens in der Moderne gerade mit jedem Subjekt, das diskursiv vereinnahmt wird. Deshalb unterliegen alle Subjekte nicht nur der Macht, sondern konstruieren/produzieren sie ständig neu. Aus der Sicht meiner Diskurstheorie ist dies selbstverständlich. Aber andererseits sehen wir hier nun auch Foucault mit seinem Diskurs als Konstrukteur auf diesem Platz. Dies relativiert seine Argumente dadurch, dass wir seine Konstruktion und Wahrheitsfindung als eine neben anderen erkennen müssen. Gleiches gilt übrigens auch für meine Konstrukte, die ich hier äußere.
Nach meiner Sicht kann auch der Diskurs des Wissens nicht die Machtfrage lösen. Foucault hat folgerichtig herausgearbeitet, dass wir in Kontexten des Wissens Macht nie beseitigen können. Wohl aber können wir ihre Hegemonie, gesellschaftliche Übertreibungen, Unterdrückungsapparaturen, die immer wieder auf Herrendiskurse regredieren, vermeiden helfen. Aber dies bedingt auch, dass wir in den Diskurs der Beziehungswirklichkeit wechseln und diesen nicht übersehen.
Der Diskurs der Beziehungswirklichkeit: Dort steht auf dem Platz des Einen der Andere, den Foucault in seinen Analysen immer wieder hervortreten lässt: Der Wahnsinnige, der Gefangene, der Kranke, der Disziplinierte. Dieser ist bei Foucault nicht getrennt vom Be­gehren (a) gedacht, er spiegelt sich stets in uns. Und wir beziehen uns auf ihn, um am Platz der Konstruktion unsere Wahrheiten zu generieren. Am Ende bleibt ein Wissen, das unsere Wahrheiten dekonstruiert: Die Vernunft benötigt den Wahnsinn, um zu sich zu kommen; die Freiheit erzeugt die Unfreiheit, um sich auszusagen; die Gesundheit benötigt die Krankheit, um die Medizin in eine bevorrechtigte Sicht zu rücken; alle ausschließlich und selbstbezüglich gedachten gesellschaftlichen oder kulturellen Strukturen zeigen sich in einem Gewebe aus Wissen, Macht und Wahrheit verwoben. Situieren wir am Platz der Wirklichkeit ein Wissen hierüber, dann können wir uns in unseren Beziehungen realistischer erblicken, weil wir mittels dieses symbolischen Wissens die gefühlsmäßigen, imaginierten, spontanen usw. Ansprüche reinigen und versachlichen, ohne jedoch dabei einen universellen Wahrheitsanspruch erzielen zu können. Das Wissen in/über Beziehungen dekonstruiert die Wahrheitsansprüche in den Wirkungen (am Platz der Wirklichkeit). Zwar mag eine einzelne Konstruktion in den Beziehungen stets nach Wahrheit verlangen, aber sie kann – in den Beziehungen selbst – nie umfassend und auf Dauer für alle wahr sein.
Der Diskurs der Beziehungswirklichkeit subvertiert den Diskurs des Wissens. Zwar hat dies Foucault nicht in der hier vorgeschlagenen Begrifflichkeit ausgeführt, aber in seinen Analysen lässt es sich deutlich erkennen. Eine Erneuerung der Politik allein gegen Machtverhältnisse erscheint für Foucault im Diskurs des Wissens als unmöglich. Schließlich werden ja gerade in diesem Diskurs die Wahrheiten auf dem Platz der Wirklichkeit geschaffen. Von hier aus besteht auch stets die Gefahr einer Regression auf Herrendiskurse: Es ist nur ein kleiner Wechsel, die Wahrheit vom Platz der Wirklichkeit auf den Platz des Einen zu überführen und alle Subjekte auf diese Wahrheit zu verpflichten. Aus dieser Sicht ist die Macht ein Dispositiv. Und auch allein die Rede von der pluralen Gesellschaft wird dies nicht verhindern, wenn die Machtkonstellationen undurchschaut bleiben und sich mit Wissen und Wahrheit vermischen.
In der Schrift „Die Macht und die Norm“ setzt sich Foucault (1976, 114 ff.) kritisch mit den Grundbedingungen eines Machtdiskurses auseinander. Aus der Sicht des Herrendiskurses scheint es so, dass die Macht am Platz der Wahrnehmung so etwas wie ein Besitz sei: „Sie haben Macht“, so lautet dann die Aussage. Diese Macht be­zieht sich als Besitz dann auf Unterscheidungen, die alles weitere zu konstruieren scheinen, um am Ende das Subjekt zu besetzen. Doch dies ist eine Illusion dieses Diskurses, der in der Post/Moderne kaum noch taugt. Wie ist für uns Macht hingegen zu beschreiben?
„Die Macht wird nicht besessen, sie wirkt in der ganzen Dicke und auf der ganzen Oberfläche des sozialen Feldes gemäß einem System von Relais, Konnexionen, Transmissionen, Distributionen etc. Die Macht wirkt durch kleinste Elemente: die Familie, die sexuellen Beziehungen, aber auch: Wohnverhältnisse, Nachbarschaft etc. So weit man auch geht im sozialen Netz, immer findet man die Macht als etwas, das ‚durchläuft‘, das wirkt, das bewirkt.“ (Ebd., 114) Die Macht spielt in Augenblicken, in Wiederholungen. Und darin ist sie komplementär: Sie wird nie nur von einer Seite besessen.
Bereits seit dem 19. Jahrhundert, so versucht Foucault darzulegen, korrespondieren Macht und Wissen. Die Agenten der Macht sind nicht mehr selbstherrlich – wie im Diskurs des Herrn –, sondern müssen ihr Wissen entsprechend einer ausgeübten Macht zurückerstatten. Die Moderne drückt dieses Phänomen als ein Bedürfnis zur Legitimation von Handlungen aus. Dieses Bedürfnis wird institutionalisiert (in Disziplinen) und macht aus freischwebenden Gelehrten Professoren (Staatsbeamte), um symbolische und herrschaftliche Anschlussfähigkeit zu sichern. Hier entstehen eine Buchführung und eine Bürokratisierung, deren Undurchschaubarkeit für Außenstehende – sehr schön in Bilder bei Kafka überführt – scheinbar durch Wissen (und zunehmende Wissensspezialisierung) vermieden werden kann. Aber dieses Wissen verharmlost bloß die prekäre Situation am Platz der Wirklichkeit: Verallgemeinerungen, Schätzungen und Statistiken (ebd., 119) sollen helfen, solche Berichterstattungen und Legitimationen in eine wahre symbolische Ordnung zu überführen. Doch diese Wahrheit wird mit einer großen Illusion erkauft. Dekonstruieren wir mit Foucault diese Illusion, dann müssen wir erkennen, dass der Diskurs der Universität immer in der Gefahr eines Rückfalls in einen Herrendiskurs steht und auch als Diskurs des Wissens nie frei von Machtansprüchen ist. Foucault zeigt, „dass sich Macht immer an Wissen und Wissen immer an Macht anschließt. Es genügt nicht zu sagen, dass die Macht dieser oder jener Entdeckung, dieser oder jener Wissensform bedarf. Vielmehr bringt die Ausübung von Macht Wissensgegenstände hervor; sie sammelt und verwertet Informationen.“ Dabei ist die ökonomische Macht und das durch sie wechselseitig erzeugte Wissen immer bedeutsamer geworden. Deshalb ist es auch Unsinn, den Diskurs des Wissens noch an die Universität zu binden. „Die Ordinarienuniversität ist nur die sichtbarste, verkalkteste und ungefährlichste Form dieses Sachverhalts. Man muss schon sehr naiv sein, wenn man glaubt, dass die Verbindungen von Macht und Wissen im Universitätsmandarin gipfeln. Diese Verbindungen sind anderswo tiefer verankert, heimtückischer verbreitet und anders gefährlich.“ (Foucault 1976, 45) Nach Foucault müssen wir den Diskurs der Universität in einen Diskurs von Macht und Wissen überführen, wenn wir nicht den Illusionen des modernen Humanismus, der sich über solche Machtzusammenhänge täuscht, aufsitzen wollen.
Die „reine“ Wahrheit ist nie haltbar. Bei Foucault erscheint die Unhaltbarkeit durch die Verquickung mit Macht. Dies löscht einen Wahrheitsanspruch im idealisierten Sinne aus. In unserer konstruktivistischen Diskurstheorie kann die Wahrheit am Platz der Wirklichkeit in noch umfassenderer Weise nicht hinreichend sein, weil sie auch die Erscheinung des Realen nicht auszulöschen vermag: Die Wahrheit ist bloß endlich an einem unendlichen Platz. Dabei kann es die Macht sein, die ihre Unmöglichkeit zeigt, es können aber auch alle anderen Ergänzungen und Unterscheidungen sein, die das unmögliche Vorhaben dekonstruieren.
Foucault wechselt oft zugleich auf die Diskurse des Wissens und der Beziehungswirklichkeit, wenn er Erscheinungsweisen und Wirkungen der Macht beschreibt. Einerseits sitzt im Wissensdiskurs das Subjekt unter Begrenzung durch das Spannungsverhältnis eines Wissens über Macht und den mächtigen Gegenübern (a und A) am Platz der Konstruktion, um diese Mächtigkeiten in stets neuen Spielen zu entfalten und zu riskieren, in eine Wahrheit in der Wirklichkeit zu überführen; andererseits geht diese Wahrheit in den Beziehungen nie auf, weil die Beziehungen nie zu dieser Wahrheit wirklich gelangen können. Zwar mag sich die Macht mit Besitz, mit Reichtum und bestimmten Klassenverhältnissen, auch mit bestimmten Staatsapparaten verbinden, um als Herrendiskurs das Subjekt zu produzieren, was zu dieser Macht passt, aber dieses Subjekt erscheint als zu archaisch, als zu gebändigt, als dass es der Post/Moderne standhalten kann. Solange Herrschaftsverträge durch Gesellschaftsverträge abgelöst sind, kann der Herrendiskurs nicht durchgehend in einer Kultur mächtig werden, in der Wissensdiskurse in den Universitäten und Beziehungsdiskurse im Alltag (in der  post/modernen Kommunikation) dominieren. Denken wir aber Wissen und Alltag (Kommunikation) zusammen, dann wird das Bild der Macht als einer Kraft einseitigen Besitzes oder einer Zugehörigkeit zu bestimmten Personen dekonstruiert.
Insoweit wendet sich Foucault gegen Marx, der das Phänomen der Macht einerseits dramatisierte – als Machtfrage im Klassenkampf –, andererseits aber unterschätzte – als Machtfrage in allen Beziehungen. Allein Veränderungen der Produktionsweise und der kapitalbedingten Aneignungen reichen nicht hin, die über Arbeit hinausreichenden Erscheinungen wie Lust, Begierden, Bedürfnisse, Unstetigkeiten, Gewalttätigkeiten, Ablenkungen usw. abzulegen oder neu zu disziplinieren. Marxisten unterschätzen die Bedeutungen des Diskurses der Beziehungswirklichkeit.
Der Diskurs des Unbewussten: Das Subjekt, das auf dem Platz des Einen sitzt, um sich seinen Wahrheiten zu stellen und daraus sein Wissen zu konstruieren, ohne je zu einer subjektiven, klaren und nicht-entfremdeten Wirklichkeit zu kommen, dies scheint hingegen bei Foucault jene Leerstelle zu sein, die er selbst als typisch für den Übergang in die Moderne ansieht. Hier verschwindet eben das Subjekt. Wenn Fou­cault in „Sexualität und Wahrheit“ über die Konstruktion von Sexualität und Sex argumentiert, dann schließt er das Subjekt in seinem Diskurs des Unbewussten geradezu aus. Er fragt nach dem Wissen – also klassisch im Diskurs des Wissens – und sucht strukturelle Komponenten herauszustellen, die für ihn die „Wahrheit“ dieses Diskurses bestimmen helfen. Dies ist aber wohlgemerkt nicht mehr die Wahrheit traditioneller philosophischer Ansätze, sondern eine durch den Einbezug der Lebenswelt und ihrer Machtfallen bereicherte Ansicht. Und doch scheint ein eigenartiges Verkennen der Sexualität an den Tag zu treten, wenn man seine Studien liest. Die Sexualität als Diskurs des Wünschens, des Begehrens, der Lust, als Diskurs des Unbewussten, wo das Subjekt sich seinen subjektiven Wahrheiten konfrontiert, um hieraus ein Wissen zu konstruieren und es zugleich zu verfehlen, dies bleibt bei Fou­cault ausgeklammert. Es dominiert hingegen bei Lacan (vgl. dazu nochmals Band 1, Kap. II.3.5).

Beispiel 3: Der herrschaftsfreie Diskurs nach Habermas
Habermas schlägt uns einen herrschaftsfreien Diskurs vor, der die kontrafaktische Position der Wahrheit der Herrschaftsfreiheit am Platz der Wirklichkeit situiert. Es ist ein Diskurs des Wissens bzw. der Universität, der hier etabliert wird, und das ist seine Begrenztheit und Macht.
Auf dem Platz des Einen sitzt das Wissen, und Habermas hat hier sehr viel wahr- und aufgenommen, um uns seinen Diskurs differenziert zu begründen. Wir erfahren zwar weniger von seinem eigenen (subjektiven) Begehren und den damit verbundenen privaten Imaginationen, aber über die symbolisch Anderen, die in dieses Spiel um Wahrheit eingreifen, werden wir umfassend aufgeklärt. Und Habermas lässt auch keinen Zweifel, dass am Platz der Konstruktion das Subjekt selbst sitzt, um sich über sich und andere aufzuklären. Doch schon hier erscheint eine eigenartige Ambivalenz, die aus der Geschichte des Wissens selbst entspringt – damit auch aus der Geschichte der symbolisch Anderen, die wir hier zu Rate ziehen können: Die subjektive Re/De/Konstruktion, die immer in Verständigungsgemeinschaften eingebettet ist, hat den metaphysischen Anspruch und eine Geltung auf Universalität verloren. Wir sind im nachmetaphysischen Denken angekommen. Es gibt im Wissen und den Wahrheiten selbst kein Kriterium mehr, das uns auf den Plätzen der Konstruktion und der Wirklichkeit die Wahrheit in einer Substanz, einer starken Theorie, in inhalt­lich universaler Weise sichert. Dies ist auch Habermas gewiss.
Aber es gibt die Verständigungsgemeinschaft, die ich bisher als Selbstbeobachter der Diskurse herausgestellt habe. Wie sieht es dann um die Selbstbeobachtung dieser Gemeinschaft aus? Diese Selbstverständigung nimmt Habermas als einen Diskurs des Wissens sich vor, und es ist festzustellen, dass seine Argumentation dabei sehr schlüssig ist. Ein Teil solcher Verständigungsgemeinschaften erkennt nach und nach Kriterien, die die Bedingungen der Möglichkeit von Wahrheit markieren: Als Notwendigkeit eines herrschaftsfreien Diskurses am Platz der Wirklichkeit.
Nun ist die Wirklichkeit aber nicht vollständig im Sinne solcher Verständigung  beschaffen, wie es dieser universitäre Diskurs erstrebt. Dies verwundert uns aus der Sicht unserer Diskurstheorie nicht: Die Wahrheit am Platz der Wirklichkeit wird nie in striktem Sinne vollständig, universell oder stetig sein können. Dann müsste sie nämlich entweder Subjekte dort selbst herstellen (das wäre der Diskurs des Herrn) bzw. die Wirklichkeit so dogmatisieren, dass das Wissen, das sie begründet, vereinseitigt wird. Gerade dies aber will Habermas nicht.
Deshalb müssen wir das Argument vom herrschaftsfreien Diskurs also offensichtlich hin auf eine Idealsetzung verschieben. Aber dies eröffnet eine neue Willkür: Wird es als Meisteraussage auf den Platz des Einen gestellt, so wird es Herren, Autorität, Macht benötigen, damit es die Subjekte (und die Verständigungsgemeinschaft) so funktionieren lässt, wie sie in dieser Vision funktionieren sollten. Damit aber wird gerade Herrschaftsfreiheit unmöglich. In welchen Diskurs sollen wir dann dieses Ideal einsetzen?
Wenn man auf das Ideal der Herrschaftsfreiheit rekurriert, so scheint es sich noch am leichtesten in den Diskurs der Beziehungswirklichkeit einsetzen zu lassen. Dort sitzt die Wahrheit im Nach- und Nebeneinander des Re/De/Konstruktiven selbst und erzeugt für den Platz der Wirklichkeit Wissen. Die höchste Form von Herrschaftsfrei­heit erscheint in Beziehungen wohl dann, wenn wir allen und jeden erlauben, das zu re/de/konstruieren, was uns am Ende die Unübersichtlichkeit eines gegensätzlichen, widersprüchlichen Wissens beschert, das aus unserer Toleranz entstehen kann. Aber nun stehen auf einmal verschiedene Verständigungsgemeinschaften mit gegensätzli­chen Interessen auf, und das wollte Habermas in der Reflexion auf die strukturellen Gegebenheiten des Kapitalismus ja nun gerade nicht. Er wollte Herrschaftsfreiheit als eine Maxime der Begrenzung solcher Interessen, die gegen Verständigung in dem von ihm ausgewiesenen Sinne stehen.
Will man nicht in den Diskurs des Herrn zurück, der eine solche Sicht allein über Macht und Gewalt sinnvoll (auf Zeit) realisieren kann, will man auch nicht im dogmatischen Schlummer der Wahrheit auf dem Platz der Wirklichkeit verharren, dann bleibt der Diskurs der Beziehungen, um im Wissen miteinander zu erkennen, wie die Wahrheiten am Platz der Konstruktion sich in ein Nach- und Nebeneinander auflösen. Auch wenn die Habermassche Lösung aufgrund ihrer Intention noch der beste theoretische Fall zu sein scheint, so sieht dies in der Praxis ganz anders aus, weil es dann Agenten der Kontrolle und damit Machthaber des Ausschließens geben wird. Schon oft ist unter dem Mantel eines Ideals die reine Unterdrückung praktiziert worden. Das Habermassche Ideal mag Kompromissbereitschaft und Toleranz fördern – keine Beziehung kommt ohne sie aus. Und es mag die Herrschaftsbezogenheit in Beziehungen diskutieren helfen, um ihre rohesten Formen zu begrenzen. Aber es zeigt die Unmöglichkeit des Vorhabens selbst, diese Begrenzung als universelles Schema einzuführen: Müssten wir dann doch auch Personen (Subjekte und Andere) namhaft machen, die solche Kontrolle durchführen. Geschieht dies außerhalb des Diskurses der Beziehungswirklichkeit, dann werden wir in die Probleme der anderen Diskurse zurückfallen und am Platz der Wirklichkeit die Wahrheit als Dogma oder das Subjekt als dogmatisiertes oder die Selbstvergewisserung des bloß Subjektiven und Entfremdeten erhalten. Realisieren wir das Ideal der Herrschaftsfreiheit aber in den Beziehungen, dann müssen wir leider erkennen, dass es nur ein Ideal neben anderen ist – zudem ein sehr unwahrscheinliches, so wie wir Beziehungen führen. Schließlich dekonstruiert gerade der Diskurs des Unbewussten unsere kognitiven Konstruktionen, unsere Kopfgeburten, die die Subjektivität ausschließen, um sich abstrakt an ihren Verallgemeinerungen befriedigen zu können. Doch die Pointe unserer Wechsel der vier Diskurse ist es, dass solche Befriedigungen unbefriedigend bleiben.
Wer immer sich angeregt über Habermas mit den Bedingungen der Herrschaftsfreiheit beschäftigen will, der scheint nicht ohne eine sehr viel genauere, konkretere Analyse der Beziehungen, die Menschen führen, weiterzukommen, wenn er überhaupt präzisieren will, was Herrschaft (und diese ist zu rekonstruieren, wenn wir von Freiheit sprechen wollen) ist. Ansätze dazu finden sich schon bei Habermas, aber leider bleiben sie meist zu entfernt vom Subjekt, seinem Begehren und seinem Erleben, so wie es konkret entäußert wird.

Beispiel 4: Der entsubjektivierte Diskurs nach Luhmann
Darin nun gleichen sich Habermas und Luhmann in eigenartiger Weise: Das Subjekt ist nach und nach verschwunden, die Bedeutung der Wahrheit erscheint immer mehr als ein Spiel der Zeichen, als eine Regie eigener Art.
Luhmanns Version des Diskursspiels ist nicht nur bedeutend konservativer als die von Habermas, sie ist auch einseitiger. Luhmanns Stärke im Diskurs des Wissens, den er allein praktiziert (und das ist schon seine Schwäche: die Eindimensionalität seines Weltbildes), basiert auf dem Ausspielen aller vier Plätze.
Die Wahrnehmung wird von ihm stets über die Beobachterposition betont. Er differenziert die Blickweisen, indem er sie jeweils direkt ins Spannungsfeld mit der Differenz stellt, ohne allerdings die Beziehungswelt konstruktiv zu entfalten. Ihm fehlt – auch im Gegensatz zu Habermas – jegliche Psychologik, die das Subjekt konkret berührt. Bei Luhmann ist alles versachlicht und entsubjektiviert. Das Wissen agiert vom Platz des Einen aus und trifft auf Differenzen, die Beobachter feststellen (soweit zählt auch noch das Subjekt), aber deren subjektive Bedeutung diesem Wissen nichts anhaben kann. Am Platz des Anderen steht Luhmanns Begehren (a) nach immer mehr Wissen, nach Unterschieden, Unterschieden, Unterschieden. Alles ist am Ende nur noch sich Unterscheidendes. Und dies ist die kognitive, strukturelle, autopoietische Macht des Subjekts selbst, das sich aus dem generiert, was es generiert. Ein gigantisches Sprachspiel mit unendlichen Unterschieden.
Am Platz der Wirklichkeit sitzt bei Luhmann die Wahrheit. Aber es ist keine einfache Wahrheit mehr, keine Meisteraussage, die inhaltlich vertreten wird, sondern nur noch eine prozedurale Wahrheit, eine formale Wahrheit, ein Funktionalismus, der für alle und keinen gilt. Das muss man nicht einmal mehr Wahrheit nennen. Das erscheint als Autopoiese, als Kommunikation, als Codierungsnotwendigkeit (binärer Code). Die Meisteraussage sucht sich Meistersignifikanten, Kunstworte, eine Kunstsprache, bis hin zur Unverständlichkeit. Diese Wahrheit muss auch keiner mehr verstehen, denn sie sitzt ausschließlich am Platz der Wirklichkeit eines speziellen Diskurses einer speziellen Verständigungsgemeinschaft, die für die eigene Selbstkonstruktion produziert. Vielleicht ist dies die beste Form der Karriere im Diskurs des Wissens und der Universität: Gut scheint, was keiner mehr verstehen kann.
Dennoch mag man sich mit Mühen auch bei Luhmann für den Diskurs des Wissens interessante Sprachspiele absuchen, denn das Spiel von Eins und Differenz wird hier beherrscht, das Spiel der Konstruktionen wird in einer Metasprache als Erscheinungsform belegt – und dies kann immer wieder überraschen. Aber es steht unter dem Mangel der Eindimensionalität: Alles, was nicht in die binären Schematisierungen in immer neuen funktionell differenzierten Wortpaaren passt, wird eliminiert. Diese Eliminierung erscheint dem Leser aber erst aus der Fremdbeobachtung: Luhmanns zu große Auslassungen sind es, die sein Werk als eindimensional zeigen. In dieser Eindimensionalität kann er zum Diskurs des Herrn noch kommen, denn in dem Wechselspiel von Wissen und Wahrheit lernen wir nach Luhmann eine Beobachtung erster und zweiter Ordnung zu unterscheiden. Doch bleibt, wie ich ausgeführt habe, diese Ordnungssuche zu einfach, weil sie die Beziehungen in ihrer lebendigen Komplexität ebenso ausklammert wie das Unbewusste. Wir können diese Diskurse daher auf Luhmann nur als Abgrenzungen gegenüber seinen Auslassungen anwenden.

 

4.5.2. Dekonstruktion des Diskurses der Beziehungswirklichkeit: das Simultane nach Baudrillard

Die symbolische Welt, ausgedrückt im Wissen über die Welt, richtet sich gegen das Imaginäre, begrenzt es, indem sie Ordnung schafft, uns eine Realität konstruieren hilft, in der wir uns – mehr kritisch oder meist eher unkritisch – orientieren und zurechtfinden können. Symbolisch muss alles passen, was der Ausdruck der Viabilität (auch bei Konstruktivisten) sehr schön versinnbildlicht: Die Realität muss immer passen, denn dies ist das wahrscheinlichste Kriterium, das bei ihrer Konstruktion taugt.
Für Baudrillard erscheint – auch wenn er sich nicht direkt auf den Konstruktivismus bezieht – in solchen Gedankengängen ein perfektes Verbrechen: „Die Perfektion des Verbrechens liegt in der Tatsache, dass es immer bereits vollendet ist – perfectum. Schon bevor es sich ereignet, ändert es den Lauf der Welt, wie sie ist. Also wird es niemals aufgedeckt werden. Es wird kein Jüngstes Gericht geben, das über Strafe oder Vergebung befindet. Es wird kein Ende geben, weil die Dinge immer bereits geschehen sind. Weder Resolution noch Absolution, sondern unbeirrbaren Vollzug der Konsequenzen.“ Der Konstruktivismus gehört zu jener Bewegung, die uns die geordnete symbolische Welt zerstört hat. Für die Viabilität zählt alles, was passt, d.h. zugleich nichts, denn nichts passt nicht wirklich immer. „Die große Frage der Philosophie war: ‚Warum gibt es etwas und nicht nichts?‘ Heute lautet die richtige Frage: ‚Warum gibt es nichts und nicht etwas?‘ “ (Baudrillard 1996, 12)
Die Wahrheit im Sinne eines Etwas scheint entschwunden. Dies eröffnet Unschärfen, aber auch Freiheiten: So sitzt das Wissen am Platz der Wirklichkeit in den Diskursen über Beziehungen und eröffnet uns stets neue (un)passende Formen des Zusammenlebens.
Als scharfer und kritischer Denker dekonstruiert uns Baudrillard allerdings gerade unser schönes Bild der freien Kommunikation in Beziehungen. Er nimmt den Diskurs der Beziehungswirklichkeit in eine kritische Analyse und zeigt seine Kehrseite auf, weil und insofern er die Besetzungen ein klein wenig verschiebt.
Was sitzt denn in heutiger Kommunikation – zugespitzt formuliert – auf dem Platz des Einen? Mit meinem Modell sage ich immer der a/Andere. Wenn ich kommuniziere nehme ich meine Vorstellungen über imaginäre andere (a) oder symbolische Andere wahr. Damit scheinen Ausgangspunkte definiert. Aber was bedeutet dies näher?
Im Diskurs des Herrn haben wir die Wahrheit, im Diskurs des Wissens das Wissen, die auf dem Platz des Einen sitzen, im Diskurs der Beziehungen aber können wir keine Gegenstände, keine Objekte, kein eindeutiges Wissen und schon gar nicht mehr eine Wahrheit eintragen. Hier regiert das Nichts, insofern nichts unmöglich ist, was diesen Platz als eigene Imagination oder Angebot des Marktes (der Anderen) nutzt.
An dieser Stelle passen Baudrillards Analysen treffend in meine Diskurstheorie. Auf dem Platz des Einen eröffnet sich heute aus seiner Sicht ein projektives Universum, das imaginärer (a) und symbolischer (A) Natur ist: Und darin steigert sich eine Dramatisierung der Projektionen in bisher unbekannter Weise. Hier findet das eigentliche Ende der Metaphysik und die Erschaffung der Hyperrealität statt (vgl. Baudrillard 1994, 14). Was ist geschehen?
In der bürgerlichen Gesellschaft nahm man sich in einem privaten und öffentlichen Raum zur Kenntnis. Darin war stets eine Entfremdung eingeschlossen, die durch a/A auf dem Platz des Einen für uns auch symbolisiert ist: In den eigenen Imaginationen (a) sind wir von der übrigen Welt abgeschlossen, durch das Imaginäre geschützt, aber auch durch den Empfang des Anderen entfremdet. In unseren Reduktionen auf das, was für uns wichtig ist, entsteht so ein symbolischer „Gewinn der Entfremdung, der darin besteht, dass das Andere existiert, und darin, dass sich die Andersheit sowohl zum Besten als auch zum Schlimmsten wenden kann.“ (Ebd., 18) Die Konsumgesellschaft, so argumentiert Baudrillard weiter, wird unter dem Zeichen solcher Entfremdung als Schauspiel erlebt, das, so setze ich hinzu, die Spannung von a/A systematisch entfaltet: Das Imaginäre treibt an und das Symbolische begrenzt, ein unendliches Spiel mit Variationen und Gewinnen und Verlusten. Die Lebens- und Beziehungswelt nimmt hier am Platz des Einen dramatische Formen an: Hier erscheint das „ich will“, „ich setze fest“, „ich unterdrücke“, „ich entfremde“ usw. Diese Dramatisierung des Egoismus und Ausschlusses bedeutet aber auch Verführung und Genuss.
Doch dieses Bild trügt mittlerweile. Das Drama der Entfremdung wird durch die „Ekstase der Kommunikation“ abgelöst, und deren Erscheinungsform ist nicht mehr das Schauspiel, sondern die Obszönität. Obszöne Szenen gab es auch früher, wenn Verborgenes, Dunkles, Verdrängtes an das Licht des Schauspiels gebracht wurde, aber die neue Obszönität ist anders: Sie zielt auf Sichtbares, auf eine Obszönität, die das Geheimnis selbst zerstört, die vollständig Information und Kommunikation verkörpern will.
Solche kalte Obszönität finden wir in den virtuellen Wirklichkeiten unserer Informations- und Datennetze, im Fernsehen, Radio, in den multimedialen Einschlüssen und Vernetzungen unserer Lebenswelt. Diese Obszönität korrespondiert mit dem Tauschcharakter der Waren im Kapitalismus, die die freie Beweglichkeit, die Austauschbarkeit vor jeden Sinn eines Gebrauchs stellen, „die Warenform ist das erste große Medium der modernen Welt“ (ebd., 19). Die Botschaft dieser Medienform ist allein Zirkulation, sie ist immer die gleiche: Realisierung des Tauschwerts. Und dies ist nach Baudrillard eine Form der Ekstase: „Der Markt ist eine ekstatische Form des Güterverkehrs, so wie Prostitution und Pornografie ekstatische Formen von sexuellem Verkehr (circulation) sind.“ (Ebd., 19 f.)
In der Kommunikation entfaltet sich nun ein Universum, das die Ware noch hinter sich lässt. Die Information drängt dazu, alle Ereignisse – nicht nur Waren –, alle Räu­me, alles Erinnern, ja, ständig den Platz des Einen nur für sich zu vereinnahmen. Werten wir dies als äußerer Beobachter, so wie es Baudrillard tut, dann erscheint dieser Vorgang als obszön. In dieser obszönen Vereinnahmung erscheint die Kommunikation als einzige Funktion: Das ist Ekstase.
Information und Kommunikation, die Baudrillard anspricht, sind verändert; sie sind aus der Lebenswelt der dramatischen, entfremdeten, persönlichen Beziehungswirklichkeit in eine Virtualität verschoben, die durch radikale Veränderungen dieser Lebenswelt selbst bezeichnet ist. Beispiele dafür treten immer deutlicher hervor:

  • an die Stelle der heißen Sexualität mit ihrer Promiskuität, ihren im Privaten angesammelten Imaginationen, Verdrängungen, Geheimnissen und akkumulierten Objekten der Liebe und Perversion tritt die kalte Obszönität einer unablässigen Reizung, einer Serialität von Mustern in Seifen-Opern und Talk-Shows, einer erbarmungslosen Übersättigung, die alles zerredet, bezeichnet und bespricht;
  • sie wird begleitet durch Digitalisierung, Reduzierung auf elementare binäre Codierungen, die das Lebendige zum Verschwinden bringen und alles in die Trivialisierung nach einfachsten Wahlmöglichkeiten verschieben: Frage/Antwort, Reiz/Re­aktion, trial/error; dies sind Erscheinungsformen einer unangreifbar erscheinenden Codierung von Lebenswelt, die sich einer künstlichen Ekstase ausliefert: Hier werden die Fotos über die Realität „realer“ gestaltet und erlebt als das, was sie abbilden wollten;
  • die Informations- und Nachrichtennetze sollen Freiheit (der Information) erhöhen, Bewegungsräume schaffen, aber in der Wahrnehmung übersättigen sie die Räume, versperren sie dadurch; ich erfahre nur noch, was man mir gibt, nicht mehr das, was ich will; oder anders gesprochen: Das, was ich will, wird immer mehr zu dem, was man mir gibt;
  • Zufalls- und Rauschformen nehmen als Wettkampf ekstatisch zu und lassen Ausdrucks- und Wettkampfspiele immer mehr verschwinden, d.h. die szenischen Spiele des Spiegels, der Herausforderung oder Andersheit nehmen ab, und die sinnliche Verführung wird mehr und mehr durch Faszination ersetzt; diese tötet das Imaginäre und bevorzugt die Körperlosigkeit, die Blicke ohne Objekte, die Bevorzugung der Aktion vor dem Sinn, der Oberfläche vor der Tiefe und Schwierigkeit; da mögen im Fernsehen auch noch so viele Körper gezeigt werden, das virtuelle Zeigen allein dokumentiert ja schon die Körperlosigkeit des Betrachters; der eigene Körper geht so im Sehen gleich mit verloren; Begehren, Leidenschaft, Verführung werden durch Zufall, Glück und Rausch verdrängt (ebd., 22);
  • Innerlichkeit wird ausgetrieben und durch Fixierung auf die äußerlichen Ekstasen der Kommunikation ersetzt: Alles wird nah und kommt nah, Schutzzonen des Privaten verschwinden, selbst der eigene Körper wird in seinen Abschirmungen überstiegen (virtuelle Realität als Erfahrung im Schonraum reiner Künstlichkeit), größte Offenheit für alle Informationen erzeugt größte Verwirrung; dies ist kein Realitätsverlust, sondern eine Übermacht von Realitätsnähe und der darin verkehrenden Objekte, eine totale Unmittelbarkeit und damit Transparenz von Welt; darin wird der Mensch Beute der Obszönität von Welt;
  • so wie die Satelliten die Erdumlaufbahn besetzen und ständig Kommunikation abstrahlen, so führt die Verräumlichung des häuslichen Universums zu einer Satellitisierung der Lebensräume und des Empfangs von Kommunikation, der das Private, das Intime, das zugleich das Andere und Fremde benötigt, um sich als menschliches Miteinander, als reale Beziehung zu erleben, in den Bereich des Virtuellen stellt, wo alles bloß noch im Simultanen erlebt werden kann (vgl. ebd., 14);
  • das Obszöne korrespondiert mit dem Gleichgültigen: Alles kann erscheinen, solange es viabel ist; wo aber soll ein Kriterium in der Post/Moderne für die Begrenzung des Viablen noch eindeutig abgeleitet werden? Das Obszöne vernichtet auch keineswegs die Menschheit oder das Sehen oder Denken; es wird zu einer neuen kollektiven Werthaltung, es fördert „Rituale der Transparenz“ (ebd., 28), in der Bil­der sich mit unserem Begehren (a), unseren Imaginationen auf dem Platz des Einen vermischen, den Anderen in einer virtuellen Ausstattung in unsere Imaginationen (a) zurückkehren lassen und hier alle Wahrnehmung überschwemmen, übersättigen. Damit wird die Differenz zwischen a und A verwischt, das Andere in Form von Bildern, Klischees, Reizen der Information und deren Allgegenwart nimmt den privaten, intimen Imaginationen die Räume, die Freiheit, die individuelle Vielfalt, und führt in die simultane Welt unendlicher Promiskuität von Bildern. Disneyland ist nicht mehr nur ein Ort, an dem man die Realität des Scheinhaften nach langer Reise erfährt (diese reale Erfahrung der virtuellen Einbildung kostet uns extra etwas), son­dern ein Regelfall des täglichen Medienkonsums ohne Extrareise in die Allgegenwart der Disney-Klischees bei der Bedienung des Fernsehers;
  • das Simultane regiert: „Vor kurzem war man von der Angst beherrscht, den anderen zu gleichen und sich in der Menge zu verlieren. Angst vor der Konformität, Besessenheit von der Differenz. Wir brauchen eine Lösung, die uns davor bewahrt, den anderen zu gleichen. Heute geht es darum, lediglich sich selbst zu gleichen. Sich überall wiederzufinden, vervielfältigt ... – überall der gleiche Schlag, und er flimmert über alle Bildschirme zugleich.“ (Ebd., 33) Die Differenz zwischen den Subjekten scheint auf eine innere Differenzierung verschoben, an die Stelle der Verwandlung in ein anderes und fremdes Wesen (etwa Mensch zu Tier) tritt nunmehr die Bevorzugung des Bildes eines geklonten Wesens: Ganz mit sich selbst gleich. So wird die neue Lösung zu einer Scheindifferenz, die das Simultane aufgrund der Isolation des Individuums in seinen Metaphern einer schönen Wohnung (einsam und behaglich, anonym und differenziert) begräbt; das ist wirkliche Vermassung, ohne noch eine Masse zu benötigen;
  • die Simulation trägt keinen Wert mehr in sich, der Zwecke, Sinn, Ziele, Normen und Bezugsgrößen herleiten kann; nur das Ereignis selbst in seinem nicht zu sättigenden Drang erscheint; alles ist auf dem Platz des Einen möglich, jeder kann hier erscheinen, alle Wahrnehmung ist überschwemmt und bezieht sich auf alle und keinen. Darin bleiben Zwecke, Sinn, Normen usw. durchaus erhalten, aber sie werden durch das Nebeneinander und die seriellen Reihungen neutralisiert; sie scheinen alles kontrollieren und ersetzen zu können. Doch der Schein trügt, denn im Diskurs des Simultanen, der sich als kommunikative Beziehungswirklichkeit anbietet, sitzt die Simulation auf dem Platz des Einen, sie agiert gegen alle Subjekte und mit ihnen, sie konstruiert Wahrheiten in unendlicher Fülle der Augen-Blicke, um als wirkliches Wissen akkumuliert zu werden. Es ist dies nur jener gelebte Teil einer virtuellen Beziehungswirklichkeit, die sich nicht dem realen Anderen in direkter Begegnung, sondern dem virtuell vermittelten a/Anderen im Simultanen stellt; beide Ebenen müssen als Beobachterpositionen deutlich unterschieden werden, um auch noch zu erkennen, wie z.B. der virtuelle Andere immer mehr unser tatsächlich gelebtes Bild vom anderen und sein Verhalten als Anderer bestimmen. Aus dieser Differenz entspringt aber auch Freiheit als Verweigerung des Simultanen und Rückkehr zum Privaten und Entfremdeten. Aber dieses Wissen ist unmöglich. Diese Unmöglichkeit mag uns verführen, das Simultane als unbefriedigend zu bekämpfen. Baudrillard argumentiert anders als ich. Für ihn ist die Verführung durch das Scheinhafte (Wie tarnt und maskiert man sich? Wie verstellt man sich? Wie wird man selbst zum Schein?) die Chance, den Erfassungs- und Ermittlungsmethoden der Informations- und Kommunikationsgesellschaft zu entgehen (ebd., 59 f.). Den Schein gegen das System des Scheins einsetzen, so könnte man diese Sicht nennen.
  • Im Simultanen wird das Ziel der Moderne, die Subjektivität zur Geltung zu bringen, als unmöglich entlarvt. Das Subjekt sitzt den Wahrnehmungen bloß noch gegen­über, seine Aktivität in dem Spannungsverhältnis ist beschränkt, weil es bereits mit Reizen überschwemmt und mit Konstruktionen in bunter Vielfalt zirkulär in eine simultane Wirklichkeit eingebunden ist. Der Diskurs des Wissens will solche Subjektivität am Platz der Konstruktion dazu bringen, die Objekte seines Wissens in subjektive Wahrheit zu überführen. Aber so wie das Objekt-Werden des Subjekts absurd ist, ebenso inkonsequent ist es, „vom Subjekt-Werden des Objekts zu träumen“ (ebd., 71). Die Wissenschaften vermögen es nicht, die kommunikative Struktur des Simultanen durch ihren Wunsch nach Wahrheit auf dem Platz der Wirklichkeit zu besänftigen, sondern sie verschärfen – besonders als Konstruktivismus – noch das Problem, indem sie die Unmöglichkeit solcher Wünsche selbst begründen. Baudrillard sieht zwei Seelenregungen, die in solcher Welt noch übrigbleiben:
  • die Gleichgültigkeit kehrt aus der Kälte der simultanen Welten zu den Subjekten zurück und überschwemmt diese, indem die Welt selbst als gleichgültig erscheint;
  • die Ungeduld kommt ebenfalls aus der Welt, in der sich alles überstürzt, eilt, wo die zu langsamen Dinge die Geduld verlieren lassen (ebd., 74 f.).
    Aber neben diese, so möchte ich kritisch einwenden, treten eben auch alle anderen möglichen Regungen, denn im Diskurs der simultanen Kommunikation sind die Grenzen aufgelöst, ist der Sinn neutralisiert, und die Bevorzugung der Wahrheit auf dem Platz der Konstruktion führt zu unendlichen Verdünnungen von Wahrheiten, zu Klischees und Aktionen, die Bild neben Bild stellen, Bild nach Bild produzieren, bis die Wirklichkeit von solchem Wissen so überreizt und überschwemmt ist, dass als Resultat ihre Verkehrung erzeugt wird: die Unwissenheit.

Die Obszönität lässt das Sehen selbst verschwinden, es gibt nichts mehr zu sehen außer das Sehen selbst. Dies mag das Zappen durch die Fernsehprogramme erklären, wo Ablenkung, Zufall, Rausch und Glück einer Auswahl an die Stelle eines Begehrens nach vertiefendem Sinn und Auseinandersetzung rücken. Die Wirklichkeit, die mit Obszönität übersättigt wird, hat in solcher Übersättigung noch nicht einmal mehr das Reale, dass den übersättigten Platz, auf dem das (Un)Wissen sich tummelt, durch hintergründige und nicht vorhergesehene Ereignisse relativiert: In den Relativierungen gibt es kaum noch Relativierendes; das Reale selbst scheint in einer Identität mit dem relativen Wissen aufzugehen.
Hier unterscheidet sich meine Sicht von Baudrillard. Für ihn ist das Reale die Obszönität selbst (ebd., 26), für mich ist die Obszönität mit der Analyse schon ein Wis­sen. Es wird vorübergehend sein. Der Platz des Realen kann nicht bemächtigt werden. Bei Baudrillard heißt es ganz in diesem Sinne: Wenn die Obszönität wirklich in vollständigem Maße wahr würde, „dann wäre es nicht zu ertragen. Wenn dies alles wahr würde, hätten wir wirk­lich die Obszönität, das heißt die nackte Wahrheit, die wahnsinnige Anmaßung der Dinge, ihre Wahrheit zum Ausdruck zu bringen. Ihr Schicksal bewahrt uns glücklicherweise davor, denn auf dem Gipfelpunkt angekommen, beim Versuch, sich zu verifizieren, kehren sich die Dinge um und fallen ins Geheimnis zurück.“ (Ebd., 28) Hier allerdings wechselt Baudrillard in den Diskurs des Wissens und setzt die Wahrheit auf den Platz der Wirklichkeit als Unmögliche. Ich setze im Diskurs der Kommunikation (Beziehungen) das Wissen auf den Platz der Wirklichkeit – und zwar als unmöglich vollständig Obszönes. Aber es hat in unseren Wirklichkeiten heute zunehmend den Anschein, als könnte die Obszönität den Sieg davontragen. Baudrillards Weg drängt darauf, die Theorie – Diskurstheorie – zur Verführung zu benutzen, um die Welt mit ihren eigenen Waffen zu schlagen: Regiert das Simultane, so muss auch die Theorie simultan werden; verliert die Welt die Wahrheit, so muss auch die Theorie die Wahrheit verlieren; spricht sie von Exzess und Opfer, muss sie selbst als solche vorgestellt sein (ebd., 76 f.). Die Position der Theorie fordert die Wirklichkeit heraus. Hier sitzt das Wissen auf einem unmöglichen Platz, hier ist die Theorie ungehorsam: Hier sollte sie es sein. Diesen Platz dekonstruktiv zu besetzen und die Besetzung zu steigern, dies scheint mir die Perspektive zu sein, die uns Baudrillard besonders anrät (vgl. bes. ebd., 80 f.).
Mit Baudrillard habe ich den Diskurs der Beziehungswirklichkeit dekonstruiert. Sehr schön wäre die Hoffnung, dass sich Subjekte a/Anderen stellen, Wahrheiten im Nach- und Nebeneinander konstruieren, um dann in der Wirklichkeit ein Wissen über sich zu entfalten, das sie antreibt, kritischer mit ihren Wahrnehmungen umzugehen. Die Gegenwart der Kommunikation ist aber nur teilweise beziehungsmäßig selbstaufklärend, sie ist in großen Teilen obszön besetzt: Das Wissen agiert als eine Zurschaustellung der dümmsten Einfälle und der blödesten Verflachungen menschlichen Geistes. Am Reißbrett des illusionären Schwachsinns erfundene Beziehungsmuster werden zum Vorbild einer Obszönität der eigenen, gelebten Beziehungen: Da möchte man so sein wie, das empfindet man so tief wie, da ist man so einsam wie, oder so verliebt wie, immer nur noch wie. Die Diskurse des schwachen Sinns eröffnen sich. Die Zirkulation des Schwachsinns fordert nach der Ekstase des Schwachen: Leicht lesbar, leicht verdaubar, leicht sehbar, leicht genießbar. Angesichts der Lichtgeschwindigkeit der Wellen, die die Faszination in die Häuser tragen, verliert der Langsame, der Reflektierte, der, der in die Tiefe sehen will, an Bedeutung und Einfluss. Die individualisierte Differenzierung führt als simultane Re/Konstruktion zur Schnell-Lebigkeit und zum Mangel an Nachdenken. Ein Ende der Diskurstheorie deutet sich an. Was sollen wir auch mit diesen gedankenschweren Klötzen einer Selbstreflexion, die kaum lesbar, schwer verdaubar, unsichtbar und nur mit Lustaufschub genießbar sind?

 

4.6. Zur Dekonstruktion der interaktionistisch-konstruktivistischen Diskurstheorie

Der Beobachter, der bis hierher durchgehalten hat, bemerkt, dass ich ein „unheimliches“ Sprachspiel aufziehe, das mit Beobachtungen, mit Vermutungen über Verbindungen von Perspektiven, mit Wechselspielen in den Diskursen und mit bestimmten Konstruktionen arbeitet, die man am besten dann durchschaut, wenn man sie eigenständig anwendet. Dies ist das Spiel der Diskurse überhaupt, die sich ein Konstrukt bilden, das wir uns als Wirklichkeiten einbilden können, um es dann als Bedingung der Möglichkeit von Wirklichkeiten in unseren Köpfen zirkulieren zu lassen.
Also spielen wir dieses Spiel. Überlegen Sie sich als Leser irgendeinen Diskurs und beweisen Sie, dass es nicht möglich wäre, ihn in die Tafel der vier Diskurse einzutragen. Sie können das nicht beweisen, wenn Sie nicht gänzlich andere Plätze und Besetzungen finden. Sollten Sie aber so die Voraussetzungen für Diskurse ändern wollen, dann müssten Sie Ihre Plätze und Besetzungen einführen, was dieses Spiel von neuem in Gang setzt. Wir könnten dann streiten, ob Ihre Plätze und Besetzungen geeigneter, interessanter, kultur- und gesellschaftsbezogener als die hier gewählten sind. Aber dazu müssten Sie erst einmal die hier gewählten Plätze und Besetzungen kritisieren. Und dies könnten Sie dann am besten tun, wenn Sie Diskurse fänden, die nicht in die vier Diskurse passen. Aber gibt es solche? Hier wissen wir, dass jeder Diskurs sich gegen Kritik dadurch immunisiert, dass er auf der Bühne des Argumentierens bereits als Diskurs erscheint.
Manche Konstruktivisten entlasten sich an dieser Stelle, indem sie zu sozialen Fragen gar nicht Stellung beziehen, was dieses Beobachtungsfeld dann nur schlicht Anderen überlässt. Andere bestreiten aus dekonstruktivistischer Absicht  jedes Modell. Aber in jeder Dekonstruktion schlummert eine konstruktive Herausforderung: Sie müssten nachweisen, dass das hier vorgestellte Modell nicht passend für diese oder jene Orientierung, Perspektive, Handlung usw. ist, was Sie in den Zugzwang setzt, sich selbst ein anderes Modell zu bilden. Und diese Herausforderung benötigt der Konstruktivismus, da er sich zugibt, dass eine Musterlösung für alles nicht mehr taugt.
Die Positionen, Rollen, Orte und Zeiten sowie soziale Einstellungen von Beobachtern helfen uns, das Phänomen Diskurse näher zu erfassen. Dabei unterstellte ich bisher, dass der Beobachter keinesfalls ohne einen Platz der Beobachtung auskommt, was zugleich die Perspektive seiner Beobachtungen ausdrückt, dass er zudem in solcher Perspektive den einen oder anderen Fokus wählt, was den Inhalt, das Thema, den Gegenstand oder die mehr oder minder zielgerichtete Suche in seinen Beobachtungen als vorausgesetzte Teilnahmebedingung charakterisiert. Insoweit scheint meine Unterstellung gültig zu sein: Beobachter benötigen Plätze, von denen aus sie schauen, und Besetzungen, nach denen sie sich orientieren, wenn es um Diskurse geht. Denn wenn Diskurse, wie ich eingangs herausstellte, jene Regeln enthalten, nach denen etwas überhaupt gesagt werden kann, dann setzt dies eben Plätze und Besetzungen voraus, von denen aus etwas gesagt wird.
Nun habe ich allerdings in diese Betrachtung bereits etwas eingeschmuggelt, was der universitäre Diskurs als eine Möglichkeit aufzeigt: Ich habe in der symbolischen Weise, die auf dem Platz des Einen das Wissen benutzt, um am Ende zu Meisteraussagen zu kommen, in der hier vorgelegten Darstellung selbst zu dieser Möglichkeit gegriffen, um aus solcher Ableitung andere Möglichkeiten aus dieser schon vorher gewählten Perspektive aufzuzeigen. Damit aber ist dieses Aufzeigen selbst schon einseitig (ein Diskurstyp), denn es zeigt ja alles aus der symbolischen Perspektive des Diskurses des Wissens auf, obwohl wir gleichwohl z.B. im Blick auf das Subjekt und die anderen/Anderen die symbolische Seite zu übersteigen versuchen.
Was bedeutet dies? Es bedeutet, dass symbolische Theorie- und Diskursbildung keinesfalls mit anderen Beobachterebenen zusammenfällt. Es gibt keine imaginären oder realen Diskurse. Diskurse sind Versuche einer symbolischen Re/De/Konstruktion von Wirklichkeiten, deren Plätze und Besetzungen immer schon feststehen, wenn sie entlarvt werden. Dies kann nur durch Beobachter geschehen,

  • die die Plätze in bestimmter eindeutiger Konstruktion als Perspektiven behaupten,
  • die nur eine gewisse Anzahl von Plätzen vergeben, damit die Diskursanalyse selbst nicht in Unübersichtlichkeit, in Komplexität und mangelnde Durchsichtigkeit zerfällt,
  • die die Plätze dann inhaltlich besetzen, um so Abfolgen von Argumenten und Zusammenhängen sich zu bilden, die damit auch Statthalter und Stellvertreter auf diesen Plätzen für Vorgänge sich konstruieren, die sie anderen Ortes (z.B. imaginär oder real) beobachten,
  • die auch die Anzahl der möglichen Besetzungen begrenzen, um nicht in Verwirrung oder Verrücktheit zu enden (eine Doktrin des universitären Diskurses besagt, dass die einfachsten Lösungen auch die besten seien),
  • die eine Zirkularität im Wechselspiel der Plätze und Besetzungen konstruieren, um so Ursachen und Folgen, Wirkungen und Wirkungsweisen überhaupt unterscheiden zu können, die dabei aber immer nur eine gewisse beschränkte Beschreibung des zirkulären und systemischen Wechselspiels vornehmen, weil sonst keine Über-Sicht (was ein Über-Sehen einschließt) erreicht werden kann,
  • die aber insgesamt nie abschließend sagen können, welche Plätze und Besetzungen für immer und alle Fälle relevant sein werden, weil sie solche Relevanz nur aus der zeit-, raum- und interessebezogenen Verständigung über ein Problem selbst erst ableiten und gewinnen können.

Diese von mir geforderte Offenheit nun erscheint im universitären Diskurs vielen Selbstbeobachtern als unerträglich. Also nehmen sie die anderen Diskurse und suchen Argumente, um diese aus dem Diskursgeschehen auszuschließen. Als Selbstbeobachter können sie nun ihrer Positionen gewiss werden und behaupten, dass es diese ausschließliche Sicht sei, die richtig sei, die zu etwas führe, die sich lohne usw. Nehmen wir ihre Beweise für sich, so werden wir oft gar nichts entgegnen können, denn ihre Konstruktionen mögen völlig schlüssig sein. Anders sieht es erst aus, wenn wir ihre Ausschließungen und Auslassungen bemerken. Als Fremdbeobachter werden wir sie darin stets entlarven können, weil und insofern bereits unsere vier begrenzten Plätze und Besetzungen sehr vielfältige Möglichkeiten der Relativierung anbieten. In die Überlegungen des konstruktivistischen Modells zur Lebensweltanalyse haben wir die Offenheit weiterer Plätze von vornherein eingebaut. Und diese Vielfalt wird zur Unendlichkeit, je mehr wir differenzierende Positionen und Perspektiven einführen; sie wird nie ausgeschöpft, schon gar nicht durch unsere endliche Bestimmung von ausgerechnet vier Diskurstypen oder einem konstruktivistischen Lebensweltmodell, die damit der Unendlichkeit ein Schnippchen schlagen wollen und sich in den möglichen Variationen scheinbar nur ins Unübersichtliche auflösen (unübersichtlich für den, der sie schon in ihrer Übersichtlichkeit schwierig findet). Unsere beschränkte Möglichkeit zeigt, dass Unterschiede Unterschiede machen, aber Beobachter ertragen nicht unendliche Unterschiede. Dabei hatten wir nur vier Plätze und fünf Besetzungen. Und wo wird sich das Leben auf nur vier Plätze und fünf Besetzungsmöglichkeiten reduzieren lassen? Dabei haben wir ein klar erscheinendes Lebensweltmodell. Aber wo wird diese Strukturierung schon mit den Ereignissen immer passend zusammengehen?
In solcher Auf-Lösung bevorzugen Konstruktivisten ähnlich wie Pragmatisten die Lösung. Für Menschen gibt es nun einmal nur endliche Lösungen. Manche sprechen – insbesondere angesichts erfolgreicher Erfahrungen in der systemischen Therapie – auch davon, dass deshalb der Konstruktivismus eher lösungs- als problemorientiert sei, Zirkularität statt Linearität oder Kausalität bevorzuge. Aber von welchem Platz und mit welcher Besetzung wird gesprochen? Welchen Diskurs können wir hier entlarven?
Eine nähere Beschäftigung mit Diskurstheorien wird den Konstruktivisten darüber belehren, dass die Lösungen, die über den Platz der Wirklichkeit zirkulieren, immer wieder Probleme hervorbringen. Er wird auch darüber belehrt, dass es durchaus lineares und kausales Denken geben muss, bevor wir überhaupt die Zirkularität bemerken können. Wir sitzen zu oft in den Fallen einer Ursache-Wirkungs-Beschreibung, um uns eine Übersicht, eine Ordnung, klare Feststellungen und mit Anderen koordinierte Handlungen zu ermöglichen.
Setzen wir also den konstruktivistischen Diskurs in unsere Diskurse ein. Was ist bei ihm am Platz des Einen? Und schon befällt uns eine gewisse Verzweiflung, weil eine Konstruktion von Wirklichkeit aus konstruktivistischer Sicht vielfältige Ausgangspunkte haben kann: Die Subjekte, die Subjekte als andere, fremde Andere, das Wissen, die Wahrheit (als Wahrscheinlichkeit). Und wie soll die Wahl einer Besetzung auf dem Platz des Einen gerechtfertigt werden? Ist der Konstruktivismus nun eine Meisteraussage, die er vorgeblich nicht sein will? Ist er ein Wissen, was aber von Anderen als Wissen bestritten wird? Ist er ein Subjekt, nur weil er von Subjekten vertreten wird? Ist er beim jeweils Anderen, weil er nie nur bei einem Subjekt bleiben kann? Ist er ein Teil meines anderen, meiner Wünsche etwa, Andere zu belehren?
So wie ich den Konstruktivismus darstelle, muss er seine Naivität überwinden. Er ist immer schon in Interaktionen gefangen, wo er eben noch autonom zu sein meinte. Es ist sinnlos, ihn vorwiegend aus biologischer oder naturwissenschaftlicher Klarheit ableiten zu wollen, weil diese auch nur bestimmte Diskurstypen generieren und seine Chancen auf weitreichende kulturelle Perspektiven eher behindern als fördern. Und er ist diskursiv in sich selbst gefangen, weil seine Diskurse sich nicht eindeutig begrenzen lassen. Wird er damit Opfer der von ihm behaupteten Zirkularität? Was bleibt?
Konstruktivist: Nenne mir deine Plätze! Du wirst um eine zu begründende Auswahl nicht herumkommen. Aber dies schmälert eine Fantasie auf weltumspannenden Erfolg, denn die Wahl von Plätzen, dies ist seit jeher das Leid der Erkenntnistheorie, wird nie vollständig passend sein, weil jede Wahl die Erkenntniskritik auf den Plan ruft.
Konstruktivist: Nenne mir deine Besetzungen solcher Plätze! Du wirst um eine reduzierende Einfalt nicht herumkommen. Und dies führt in deine Lösungen alle Probleme wieder ein, vor denen du dich zuvor in naiver Selbstüberschätzung so sicher fühltest.
Und doch mag sich der Konstruktivist von anderen Theorien, dadurch diese herausfordernd, insoweit unterscheiden, dass er nunmehr seine Wahl kritisch zu reflektieren und für andere offenzulegen weiß: Der Diskurs des Konstruktivismus kann nicht anders operieren, als die Plätze und Besetzungen selbst für Beobachter zur Beobachtung freizugeben, die Positionen durch vielfachen Wechsel der Perspektiven zu verunsichern, auch wenn gewiss ist, dass Re/De/Konstruktionen nur von einem Platz mit sicherer Besetzung aus diskursiv geschehen können.
Sein darin sich begründender Antidogmatismus mag für viele Hoffnung sein, die zuvor sich in einer Sicht festgefahren hatten, die immer nur mehr desselben sehen und herstellen konnten und damit Lösungen für eine andere Zukunft sich und Anderen blockierten. Sie erleben nun eine neue Freiheit jenseits der Dogmen. Solch Antidogmatismus aber mag auch dazu verführen, dass Konstruktivisten apolitisch und weltfremd werden, wenn sie nicht Vorlieben dafür entwickeln, auch gezielt nach jenen heiklen Stellen in der sozialen Entwicklung der Post/Moderne Ausschau zu halten, die über eine momentane Hilfe zur Selbsthilfe in der Therapie oder in bewusst bearbeiteten Lebenskrisen hinausreichen. Dies bedingt das systemische Zusammenwirken von Diskursen und allen Wirklichkeiten der Lebenswelt: Sie lassen sich nur je ausgegrenzt betrachten und wirken hinter unserem Rücken doch stets zusammen. Kleine, lösungsorientierte Hilfen mögen zu großen Veränderungen zusammenwirken, aber oft helfen auch nur größere Veränderungen, um kleine Hilfen nicht zu ersticken. Diskursanalysen aber können, wie wir weiter oben z.B. mit Foucault und anderen gesehen haben, durch ihre Problemorientierung Beobachtern helfen, Bedingungen von Lösungen transparenter werden zu lassen. Sie sind damit Voraussetzungen für Entscheidungen von Ver­ständigungsgemeinschaften im kleinen und im großen, sofern es überhaupt noch gelingt, sie in der Verständigung zur Zirkulation zu bringen.


 

1 Dies Phänomen beschäftigte Elias in seiner Theorie zum Prozess der Zivilisation. Vgl. dazu z.B. seinen Beitrag über den Königsmechanismus, Elias (1976, 2, 222 ff).

2 Nach Nietzsche erscheint gerade hier eine Maximierung des Schuldgefühls, die verhindert, dass die Wissenden die Last abschütteln, die sie sich bei ihrem Gang in die Wüste des Wissens als Kamele aufgeladen haben. Sie müssen zum Löwen werden, der sich brüllend von der Last befreit, und sie sollen erst wieder „Kinder“ werden, um spielerisch mit dem Wissen umgehen zu können. Vgl. Reich (1988, 263 ff.).

3 Warum diese Position gerade für Lehrer/Pädagogen gefährlich ist, habe ich anderen Ortes zu zeigen versucht, vgl. Reich (2005, Kapitel 2 und 11).


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