Kersten Reich: Die Ordnung der Blicke. Band 2: Kapitel V

   

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V. Der Zirkel von Beobachtungen – Beziehungen – Lebenswelt: Fragen an den interaktionistischen Konstruktivismus


Von Leserinnen meiner Texte und Seminarteilnehmern sind mir zahlreiche Fragen gestellt worden, von denen ich einige in diesem Kapitel aufnehmen möchte, um ansatzweise einen Dialog zu ermöglichen. Aus dieser neuen Perspektive werden vor allem Klärungsversuche und Illustrationen unternommen, die wesentliche Anliegen der interaktionistisch-konstruktiven Theorie verdeutlichen helfen sollen. Damit will ich nicht den Gang der Argumentation im einzelnen wiederholen und zusammenfassen, sondern nochmals neu auf das Thema konzentrieren.
Die Fragen wurden von mir in eine argumentative Reihe gebracht, die sich auf wesentliche Punkte meiner Argumentation bezieht. Vier Thematiken stehen dabei im Vordergrund:
(1) Zur Rekonstruktion der Argumentation: Welches sind die wesentlichen Argumentationsschritte in „Die Ordnung der Blicke“ und worin liegen Probleme, Auslassungen, offene Fragen?
(2) Zur Topik der interaktionistisch-konstruktiven Beobachtertheorie: Hier soll –  unter Voraussetzung der differenzierteren Analysen in den vorhergehenden Kapiteln – vereinfacht beschrieben werden, welche Beobachterbereiche der interaktionistische Konstruktivismus unterscheidet und mit welchen möglichen Vor- und Nachteilen dies verbunden ist.
(3) Abgrenzung von anderen konstruktivistischen Ansätzen: Welche Unterschiede lassen sich gegenüber anderen konstruktivistischen Ansätzen in erster Linie hervorheben?
(4) Subjektivismus oder Objektivismus?: Soll dem Beobachter oder der Beobachtung der Vorrang gegeben werden? Je nachdem, wie diese Frage beantwortet wird, erscheinen entweder ein allmächtiger, subjektiver Beobachter oder eine strukturelle, vorgegebene Lebenswelt. Als Kulturtheorie will der interaktionistische Konstruktivismus beide Seiten in einem Konzept vertreten, ohne in reinen Subjektivismus oder Objektivismus zurückzufallen. Hieraus erwachsen auch ethische Ansprüche.
                          

1. Zur Rekonstruktion der Argumentation

Wenn man Ihre Texte liest, dann muss man sich oft auf Argumentationen einlassen, die man erst hinterher durchschaut. Können Sie uns bei der Rekonstruktion des Grundaufbaus Ihrer Argumentationen helfen? Genauer gefragt, warum haben Sie Ihren Text in die vorliegenden vier Kapitel gegliedert?

Das erste Kapitel dient einer Einführung in den Themenkreis, die allerdings dadurch in ihrer Hinleitung schwierig ist, weil sie die nächsten drei Kapitel schon voraussetzt. Ich habe mich bemüht, diese Vorausgesetztheit nur wenig anzusprechen, um die Argumentation nicht zu verwirren. Aber rückblickend sehen die Leser/innen sicher deutlicher, weshalb die Position des Beobachters heute so wichtig geworden ist. Sie ist selbst ein Produkt der Kränkungen, die insbesondere im zweiten Kapitel herausgearbeitet werden.
Das zweite Kapitel ist sehr komplex, weil es auf unterschiedliche Theorieströmungen Bezug nimmt und drei umfangreiche Kränkungsbewegungen unterscheidet, die jede für sich sehr umfassend, schwierig, teilweise auch widersprüchlich ist. Ich versuche, diese Schwierigkeiten zu bündeln, um mir wesentlich erscheinende Aussagen zu den einzelnen Kränkungen zusammenzutragen. Hier kam es mir vor allem darauf an, bisherige konstruktivistische Theorien, die ich überwiegend in der ersten Kränkungsbewegung situiert sehe, in Hinsicht auf die Folgen aus der zweiten und dritten Bewegung zu diskutieren und dadurch die konstruktivistische Theorie zu erweitern. Ich glaube, dass der Konstruktivismus nicht ohne eine Interaktionstheorie und einen Blick auf das Unbewusste auskommen sollte. Das Verharren in der ersten Kränkungsbewegung wäre für mich immer ein zu bescheidener, verkürzter und nicht weitsichtig genug blickender Konstruktivismus. Sofern wir wissenschaftliche Argumentationen in ihren Veränderungen insbesondere im 20. Jahrhundert betrachten, scheinen mir mindestens diese drei Kränkungen beachtenswert. Aus der Sicht meines Ansatzes sollten wir sie in dieser Breite als Mindestanforderungen für re/de/konstruktive Arbeit ernst nehmen.
Sofern wir dies nicht wollen, weil wir uns vielleicht gar nicht für die Wissenschaft und die Begründung einer Erkenntniskritik interessieren, sondern vorrangig an Beziehungen interessiert sind – wie es für viele Konstruktivisten typisch ist –, landen wir direkt im dritten Kapitel. Mir ist wichtig, dass wir auch in solcher Deutung nie bloß Beobachter, sondern bereits auf Erkenntnisse festgelegte Teilnehmer und Akteure sind. Im dritten Kapitel wird die Argumentation des zweiten Kapitels gleichsam umgedreht: Aus der Sicht der Beziehungen erweisen sich die Unschärfen auch der wissenschaftlichen Blicke. Deshalb bemühe ich mich, die Psycho-Logik (als eine andere Logik) der Logik der Wissenschaften entgegenzustellen. Hier kehrt das Problem der Unschärfe des Erkennens aus der Sicht praktischer Beziehungen zu allen Versuchen zurück, die wissenschaftlich eindeutig über Menschen sprechen wollen. Aber auch umgekehrt: Diejenigen Konstruktivisten, die z.B. als Erzieher und Therapeutinnen sich eigentlich weniger für erkenntniskritische Fragen interessieren, sind schon vielfach mehr in diesen verstrickt, als sie es vielleicht bisher als vermeintlich freie Beobachter wahrgenommen haben.
Dabei ist nun folgender Umstand bemerkenswert. Sowohl im zweiten Kapitel als auch im dritten Kapitel werden aus jeweils unterschiedlicher Sicht Kränkungen und Unschärfen aufgewiesen, die wir meistens isoliert voneinander betrachten. In Kapitel II kommen die wissenschaftlichen Kränkungen zur Sprache, die schon auf der Inhaltsseite eine Überforderung der Wissenschaften darstellen. Dies wird argumentativ aus der Sicht verschiedener Theorien belegt. In Kapitel III kommen die Kränkungen auf der Beziehungsseite zur Sprache, die aber im Resultat noch größere Unschärfen aufweisen. Denken wir beides zusammen, dann erkennen wir rückblickend auch Berührungspunkte, Schnittmengen, Überschneidungen – oder wie immer wir diese gemeinsamen Perspektiven der Inhalts- und Beziehungsseite nennen wollen –, die bereits im ersten Kapitel als Wechselspiel zwischen Beobachter und Beobachtung angedeutet wurden. Jede wissenschaftliche Beobachtung benötigt subjektive Beobachter, die in Beziehungen stehen; jeder, der subjektiv in einer Beziehung steht, kann von äußeren, wissenschaftlichen Beobachtern verobjektiviert werden. Jeder Beobachter ist immer schon Teilnehmer in bestimmten Vorverständigungen. Jede Beobachtung und Teilnahme drückt eine Handlung aus, in der wir zugleich Akteure sind, auch wenn wir sehr unterschiedlich agieren können. Die Spannungen zwischen diesen Positionen und Perspektiven erfahren wir gegenwärtig in unserer Lebenswelt. Und sie ist als Konstrukt selbstverständlich auch in diesem Buch immer vorausgesetzt.
Die Lebenswelt ist eine notwendige Perspektive, wenn wir aus naiven, einseitigen Betrachtungen herauskommen wollen, die entweder nur reduktiv verobjektivierte Inhalte oder vorrangig subjektivierte Beziehungen kommentieren. Die Lebenswelt ist eine Beobachterperspektive, in der wir die beiden Momente – Inhalte und Beziehungen – stets vermittelt denken müssen. Das aber bedeutet, dass uns kein überwiegend bloß sprachreflexiv operierender „methodischer Konstruktivismus“ und kein solipsistisch begründeter „radikaler Konstruktivismus“ mehr genügen können. Konstruktivismus findet in einer Lebenswelt, dabei in einer Kultur und in sozialen Verhältnissen statt, ist also immer sozialer Konstruktivismus. Dies drückt mein Ansatz durch den Begriff der Interaktion aus: In jeder Interaktion ist ein soziales Moment eingeschlossen. Die interaktive Begründung ist dabei sehr weitreichend: Sie schließt alle drei Kränkungsbewegungen ein. In unseren Beobachtungen gebrauchen wir deshalb relativierte Perspektiven, ohne uns ganz der Absolutheit von verobjektivierten Zeichen und Aussagen entheben zu können; zu uns Selbst kommen wir immer nur zirkulär vermittelt mit Anderen; unsere Bewusstheit von Ordnungssuche findet ihre Grenzen an dem, was wir nicht gewusst haben, ebenso wie an dem, was uns unbewusst geblieben ist. Und diese drei Sichtweisen sind ihrerseits zirkulär aufzufassen: Unsere Subjektivität setzen wir z.B. als Absolutheit, um sie als relativ in Beziehungen und der Lebenswelt zu erfahren; unsere eigenen Probleme können uns unbewusst verborgen bleiben; der Andere kann uns als Verkünder wahrer Beobachtungen erscheinen. Hier herrscht eine ungeheure Perspektivenvielfalt, die wir in der Lebenswelt beobachten können.

Warum haben Sie dann Ihren Text nicht direkt aus der Perspektive der Lebenswelt geschrieben, in der sich die zuvor genannten Seiten vermitteln?

Ich habe das Buch „Die Ordnung der Blicke“ genannt, weil mir hiermit das Primat der Perspektivität deutlich bezeichnet scheint. Wir sind kaum in der Lage, aus einer vorrangigen Perspektive – etwa der Lebenswelt – durchgängig zu schauen. Mir scheint die gegenwärtige Erkenntnissituation der Menschen eher darin zu wurzeln, dass wir sehr unterschiedliche Perspektiven je nach Lage der Dinge, je nach Situation und Interesse bevorzugen. Diese Bevorzugungen scheinen mir im wesentlichen auf drei Seiten hinauszulaufen:

  • eine objektivierte Welt, die durch Beobachtungen legitimiert ist und vorrangig dem wissenschaftlichen Denken zuzukommen scheint;
  • eine Beziehungswelt, für die wir zugegebenermaßen in großen Teilen die Erkenntnislegitimationen und -schärfen der Objektivation aufgeben müssen;
  • eine Lebenswelt, in der wir uns in Mischformen zwischen den Ansprüchen engerer Beobachtung und offenerer Beziehungen verhalten.

Meist intuitiv bewegen wir uns mehr oder minder sicher zwischen diesen Welten, was heißt, dass wir als Beobachter, Teilnehmer oder Akteure durchaus zwischen ihnen zu unterscheiden wissen. Ich habe versucht, meine Intuition und mein implizites Wissen diesen Beobachtungsfeldern gegenüber explizit darzustellen.

Ich möchte noch einmal auf das zweite Kapitel zurückkommen. Ist die erste Kränkung nicht zu allgemein beschrieben? Haben Sie nicht viele Ansätze ausgelassen, die solche Kränkungen noch konkreter beschreiben?

Im Rahmen der ersten Kränkungsbewegung gibt es mittlerweile sehr viele Darstellungen, die einzelne Aspekte differenziert entfalten. Dies gilt für die sprachpragmatische Wende im besonderen, da diese sowohl z.B. bei Apel als auch bei Habermas eine sehr breite Analyse erfahren hat. Aber diese beiden Autoren stehen auch nur für ein bestimmtes Rekonstrukt; es gibt sehr viele andere im Rahmen der Sprachphilosophie oder Sprachwissenschaft. Hier ist vor allem Richard Rorty zu nennen, der zahlreiche zusammenfassende Interpretationen geliefert hat, die sehr hilfreich für das Verständnis der ersten Kränkungsbewegung sind. Zudem habe ich als erste Kränkungsbewegung sehr stark auf das Verhältnis von absolut und relativ abgehoben, weil dies für den Konstruktivismus eine sehr wesentliche und oft vereinfachte Problematik ist. Damit treten andere Problemlagen notwendigerweise in den Hintergrund. Was die grundlegende Dekonstruktion der Metaphysik betrifft, so haben insbesondere französische Autoren, auf die ich mich oft beziehe, eine grundlegende Arbeit geleistet. Auf eine genauere Analyse z.B. von weiteren Autoren wie Lyotard, Glucksmann oder auch Vattimo, um nur einige zu nennen, habe ich verzichtet (vgl. dazu z.B. Welsch 1995), obgleich ich so die erste Kränkung noch stärker hätte erweitern können. Ich musste mich ohnehin in der Darstellung beschränken und viele Autoren übergehen, die auch für mich beim Verständnis der Kränkungen persönlich sehr wichtig waren. Hier ist z.B. John Dewey mit seinem pragmatischen Ansatz für den Konstruktivismus sehr bedeutsam, wie aus unserer Sicht Neubert (1998) analysiert hat. Im interaktionistischen Konstruktivismus gibt es sehr enge Verbindungen zum Pragmatismus, wie mittlerweile zahlreiche Arbeiten belegen (vgl. dazu Werke online). Es bleibt daher unbenommen, die erste Kränkungsbewegung noch sehr viel konkreter an weiteren Autoren nachzuvollziehen oder durch andere Arbeiten zu erweitern. Mir kam es nur auf eine Darlegung wichtiger Grundüberlegungen an. Dabei versuche ich durch das Anknüpfen an Hegel zu zeigen, dass sich auch eher traditionelle Fragen aus der Erkenntniskritik keineswegs für den Konstruktivismus erledigt haben. Er muss seine neuen Antworten auch auf alte Fragen begründen. Das ist bei den vorliegenden konstruktivistischen Ansätzen, die ich – teilweise in kritischer Distanz – dargestellt habe, noch kaum hinreichend geschehen.

Die Kränkungen, die Sie anführen, scheinen nicht typisch konstruktivistisch zu sein. Der Konstruktivismus wird ja auch von Ihnen vorrangig als Teil der ersten Kränkung erfasst. Welche Bedeutung hat dies?

In der ersten Kränkungsbewegung sind sich Konstruktivisten im allgemeinen noch schnell einig. Gleichwohl gibt es auch hier Differenzen, wie wir gesehen haben. Aber vor allem mit der Einbeziehung der Interaktion tun sie sich schwer. Dies liegt für den methodischen Konstruktivismus an einer bevorzugten Beschäftigung mit sprachlich-logischen Problemen, beim radikalen Konstruktivismus an einer zu kulturabgewandten Sicht. Auch wenn Schmidt (1994) immerhin auf kulturelle Fragen abhebt, so geschieht dies gerade nicht auf dem Hintergrund eines reflektierten Interaktionismus. Luhmann verfügt zwar über einen prinzipiell interaktiven Ansatz, aber er hat diesen so weit entsubjektiviert und funktionalisiert, dass ihm die Beziehungswirklichkeit und Lebenswelt zu stark verloren gehen. Ein Interaktionismus, der nicht nur symbolische (kognitive) Leistungen der Subjekte, sondern immer auch imaginäre Aspekte und das Begehren der Subjekte in ihren zwischenmenschlichen Spiegelungen und Anerkennungen umfasst, das ist nun ja auch die besondere Sicht, die ich auf den Konstruktivismus beziehe. Die Interaktion ist für mich ähnlich bedeutsam wie die Position Meads für die Human- und Sozialwissenschaften, wie es insbesondere Habermas herausgearbeitet und für sich genutzt hat. Die Interaktion, so versuche ich zu begründen, stellt eine wesentliche Kränkung unserer naiven Beobachterauffassungen von Subjekt und Objekt dar. Sie ist als symbolische und imaginäre zu reflektieren und dies hat immer weitreichende Konsequenzen für die Begründung einer wissenschaftlichen Sicht. Im Grunde können wir nur über die Einführung einer Interaktionstheorie hinreichend die Beziehungswirklichkeit und die Perspektiven der Lebenswelt neben die Objektivierungsversuche der Wissenschaft stellen, die alles aus einem scheinbar neutralen Beobachter heraus fundiert. Die Interaktionen belegen die Subversion dieser Neutralität. Sie eröffnen uns aber auch erst Zugänge z.B. zur Kreativität, zur Ermöglichung eines tieferen Verständnisses von Inhalten und Beziehungen.
Die interaktionistische Seite ist für einen Teil der Konstruktivisten allerdings durchaus noch verständlich und einleuchtend, sofern sie an kommunikativen Aspekten interessiert sind. In die zweite Kränkungsbewegung fallen die Arbeiten von Bateson, Watzlawick und anderen, die sich mit der Unterscheidung von inhaltlicher und beziehungsmäßiger Kommunikation beschäftigt haben. Eine Analyse dieser Arbeiten könnte die Analyse der zweiten Kränkungsbewegung noch ergänzen, und ich habe sie anderen Ortes vorgenommen (vgl. auch Reich 2005, 18 ff., 51 ff.). Die dritte Kränkungsbewegung hingegen werden mir etliche Konstruktivisten vielleicht übel nehmen. Im Bereich der Therapie hat ja z.B. eine konstruktivistische Einstellung oft eine psychoanalytische abgelöst. Aber hierbei ist immer zu reflektieren, warum und inwieweit diese Ablösung erfolgte. Mir scheint dies in behutsamer Weise geschehen zu müssen, denn die Kränkung selbst ist uns auch als Konstruktivisten erhalten geblieben. Wir müssen damit zwar nicht Psychoanalytiker werden, aber wir sollten ebenso wie aus den anderen Kränkungen von den Problemlagen, die durch die Kränkung aufgeworfen sind, lernen. Dabei können wir, wie ich es herausarbeite, das Unbewusste durchaus weiter und offener als die Psychoanalyse fassen. Andererseits müssen wir uns aber dem Imaginären in besonderer Weise stellen, und dies können wir nicht, wenn wir nicht eine interaktive Theorie der Anerkennung von wechselseitigen Wünschen und Ansprüchen in den Beziehungen zugestehen. Ich denke, dies sehen die systemisch arbeitenden Konstruktivisten in der Praxis, z.B. Therapeuten, auch deutlicher ein als Theoretiker, die nur in ihrer akademischen Beobachtungswelt kognitiver Eindeutigkeitssuche verharren.
Insgesamt, so möchte ich nochmals betonen, haben alle Kränkungen für die Entwicklung einer interaktionistisch-konstruktiven Beobachtertheorie eine große Bedeutung.

Die Kränkungsbewegungen scheinen mir dann aber auch in ihrem Zusammenhang sehr wichtig zu sein. Setzen sie sich wechselseitig voraus?

Die Kränkungen sind ein Beobachterkonstrukt, das für mich sehr einleuchtend war und ist, um theoretische Bewegungen des letzten Jahrhunderts rückblickend nachzuzeichnen. Je nach Beobachterperspektive sind die anderen Kränkungen immer füreinander wichtig. Mitunter bewegen sich die einer Kränkungsbewegung zugeordneten Autoren auch durchaus teilweise in den Feldern der anderen. Aber sehr oft bleiben sie auch einseitig. Der Interaktionismus lässt die erste Kränkungsbewegung in einem neuen Licht erscheinen. Ebenso das Unbewusste. Aber auch umgekehrt können die einzelnen Kränkungen der Wahrheitssuche den Interaktionismus und Theorien des Unbewussten kränken. Für mich ist es wichtig, aus allen diesen Perspektiven – also durchaus einseitig und im Vergleich weitsichtig –  zu schauen, um eine möglichst breite, kritische Ausgangsbasis für den Konstruktivismus zu reflektieren.

Selbst wenn die erste Kränkungsbewegung einleuchtet, gibt es nicht dennoch die Möglichkeit eines relativ sicheren Wissens, wenn wir möglichst vollständig alles erarbeitete Wissen aufbewahren, um nichts zu vergessen? Wäre das Vergessen von Wissen – also mangelnde Rekonstruktion – nicht das schlimmste, was der Wissenschaft geschehen kann?

Je mehr wir beobachten, desto mehr scheinen wir zu wissen. Aber was bedeutet dieses Wissen? Nehmen wir einmal an, dass das Wissen sich alle paar Jahre (oder sind es nur Monate?) verdoppelt. Dabei, dies ist kaum umstritten, ist diese Verdopplung voller Wiederholungen und Neuentdeckungen schon anderswo bekannter Sachverhalte. Irgendwann aber wird die Datenmenge so unübersehbar, dass es dem Zufall gleichkommen könnte, diese Beobachtungsvorräte noch nach bestimmten Perspektiven durchzusehen. Was aber könnte die Menschheit tun? Sie könnte sich gegen das Wissen wenden. Es zunehmend aussperren und verdammen, so wie es der Faschismus mit seinen Bücherverbrennungen und der Zurückweisung des Geistigen bereits als ein Ausdruck der Moderne unternommen hatte. Differenzierungen belasten, also weg mit ihnen. Die Welt und der Sinn an Welt wird so einfacher. Das Zeitalter, in dem wir leben, die Postmoderne oder flüssige Moderne, wie sie Bauman nennt, ist ja kein Zeitalter, das nach den hohen Erwartungen und Illusionen der Moderne kommt, sondern ein modernes Zeitalter, in dem die Illusionen der Moderne nach umfassender Letztbegründung, Universalisierung, nach Sicherheit und Lebensglück für alle, nach Gleichheit und Gerechtigkeit, nach Auflösung von Widersprüchen bei gleichzeitiger Erhöhung freier, individueller Lebenschancen, in Frage gestellt werden. So wollen wir noch die Werte einer Moderne, obwohl wir wissen, dass sie widersprüchlich und ambivalent geworden sind. Dies schreibt sich als Post/Moderne, wie es das folgende Zitat von Zygmunt Bauman besonders klar ausdrückt: “No jobs are guaranteed, no positions are foolproof, no skills are of lasting utility, experience and know-how turn into liability as soon as they become assets, seductive careers all too often prove to be suicide tracks. In their present rendering, human rights do not entail the acquisition of a right to a job, however well performed, or – more generally – the right to care and consideration for the sake of past merits. Livelihood, social position, acknowledgement of usefulness and the entitlement to self-dignity may all vanish together, overnight and without notice.” (Bauman 1997, 22) Angesichts der Zunahme solcher Unsicherheiten, werden auch die wissenschaftlichen Übersichten hierzu nicht mehr eindeutig sein können. Das Vertrauen in jegliche Expertise ist erschüttert. Können wir der Diagnose nach Bauman trauen? Ist der Konstruktivismus als Erkenntniskritik geeignet? Die Akteure müssen ihre je eigenen Antworten finden. Und dabei stehen sie unter dem Druck, dass sie es sich dabei nicht schwer machen wollen, denn die Unübersichtlichkeit ist schon schwierig genug. Die Folge ist deutlich: Akteure sehnen sich nach einfachen Lösungen. Und in diesen wird der Mensch in seinen Möglichkeiten notwendig vereinfacht. Wollen wir solche Vereinfachungen nicht und eine Offenheit von Möglichkeiten bewahren und ausschöpfen, so könnten wir uns ein Selektionsinstrument überlegen, das die Datenmenge nach Prinzipien des vielfältigen Beobachtens zusammenfasst. Diese Prinzipien aber wären Perspektiven, die aus dem Fluss des Singulären als Verallgemeinerungen heraustreten müssten. Nur so könnten wir eine vollständige symbolische Lösung anstreben. Aber wie könnte ein vollständiges Wissen aussehen? Wir sind längst im Besitz solcher Maßstäbe. Die ganze Philosophiegeschichte ist voll von Lösungsvorschlägen. Aber genau diese erweisen sich als gekränkt. Das versuchte ich in Kapitel II herauszustellen. Wollen wir hier unsere Möglichkeiten ausschöpfen, dann müssen wir diese Kränkung von vornherein mitdenken, was bedeutet, die gestellte Frage zu negieren. Damit aber, und dies ist die Paradoxie, säge ich am eigenen Ast, denn diejenigen, die sich hierfür interessieren, erhalten eben keine einfachen Lösungen, die sie angesichts der Umstände aber wohl gerne hätten.

Dann verlieren wir die Hoffnung auf Vollständigkeit. Gewinnen wir auch etwas dadurch?

Gegen Ende des 20. Jahrhunderts ist zunehmend von Theorien die Rede, die Vielheiten und Differenzen anerkennen, die weg von den einheitsstiftenden Konzepten ganzheitlicher Welterklärungen, reiner Vernunft oder auch nur spezifischer Vernunftsorte mit Allgemeinheitsanspruch sich mindestens auf „Tausend Plateaus“ (Deleuze/Guatarri 1992) bewegen. Dies habe ich in der ersten Kränkungsbewegung ausführlich dargelegt. Und dieses Motiv erscheint in der Argumentation dieses Buches dann immer wieder. Ich setze hier nur eine weitere Beschreibung hinzu. Im Vorwort zum „Anti-Ödipus“ von Deleuze und Guatarri schreibt Foucault: „Verweigere den alten Kategorien des Negativen (Gesetz, Grenze, Kastration, Mangel, Lücke), die das westliche Denken so lange als eine Form der Macht und einen Zugang zur Realität geheiligt hat, jede Gefolgschaft! Gib dem den Vorzug, was positiv ist und multipel, der Differenz vor der Uniformität, den Strömen vor den Einheiten, den mobilen Anordnungen vor den Systemen! Glaube daran, dass das Produktive nicht sesshaft ist, sondern nomadisch!“ (Foucault 1978,  229) Für Foucault bedeutet diese Arbeit, etwas anderes zu denken, als man zuvor dachte. Für jedermann steht ein Lebenskunstwerk offen, es ist ein Aufruf an die autonomen Kräfte des Subjekts gegen die Machtbarrieren, denn die leeren Gewohnheiten und abstrakten Wahrheiten verhüllen eigene Erfahrungen von Sinn und verschleiern die Dezentrierung des Subjekts, sie verniedlichen männlich-abstrakte Rationalität und akademische Ignoranz, die den Aufstieg der Wissenschaften begleit(et)en. Die französischen Autoren radikalisierten in den letzten Jahrzehnten mehr als andere die Vielfalt, die Differenz, die Unmöglichkeit, noch einmal mit jener Einheit anzufangen, die von der Aufklärung als Stachel der Moderne eingepflanzt worden war, wobei die Wunde bis heute schmerzt. Die konstruktiven Bauwerke der Moderne werden aus dieser Sicht dekonstruiert. Lyotard erfand sich die Postmoderne, um solcher Dekonstruktion einen Namen zu geben. Es ist ein Name, der in sich den Widerspruch der Moderne weiterträgt: Sie zerfällt in die Unterschiedlichkeit von Beobachtungen, von eigenen und fremden Blicken, aus der einen Welt sind Welten entstanden, statt der reinen Wirklichkeit unterscheiden sich vielfältige und sogar widersprüchliche oder ambivalent gedachte Wirklichkeiten, denn der Plural ist das Lebensgefühl eines beginnenden 21. Jahrhunderts und neuen Jahrtausends, das sich nicht mehr auf das Eine, auf ein Absolutum oder ein Regelwerk des Absoluten einlassen kann noch will. Das gewinnen wir. Aber dieser Gewinn ist ein Verlust: Widersprüchlich ist dies Zerfallen des Einen in die vielen Auchs dadurch, dass so Probleme erst richtig erscheinen und heraufbeschworen werden: Wer gibt die Richtung an? Wo sind angesichts der Vielfalt der Möglichkeiten die hegemonialen Kräfte, die bestimmte Interessen ausdrücken? Wem nutzen sie? Wo geht es hin? Wie finde ich in dem Unterschiedlichen und Vielfältigen zu mir? Was kann ich wollen? Was darf ich hoffen? Was müssen wir tun? Aber dann eben auch: Wo ist das Wir geblieben, wenn denn noch etwas Gemeinsames getan werden soll und das neue Jahrhundert zugleich mit der Forderung nach immer mehr Ich-Autonomie beginnt?

Verlieren wir mit dieser Kränkung nicht einen notwendigen Maßstab, den wir immer schon voraussetzen müssen, um uns wissenschaftlich oder menschlich zu verständigen?

Unser Bewusstsein verfügt über die eigenartige Kraft, aus einer Vielzahl von einzelnen Daten sich das herauszugreifen, was es Anderen übermitteln möchte, wobei die Motive, das Interesse für solcherlei Mitteilungen sehr unterschiedlich bestimmt sein können. Das gegenwärtige Zeitalter neigt dazu, insbesondere die Frage nach der Quantität des Wissens zu stellen, und auch die Suche nach einem vollständigen Wissen ist bereits in dieser Wissensfalle eingeklammert: Es geht immer wieder um das Problem, inwieweit der einzelne Beobachter zu einer Beobachtung gelangen kann, die für alle gilt und wie dies angesichts der ungeheuren und zunehmenden Mengen an Wissen noch gelingen kann. Beobachter und Beobachtung sind im Widerstreit wegen der Menge dessen, was in Raum und Zeit von einem Beobachter überhaupt beobachtet werden kann, gegenüber dem, was kulturell und sozial als Beobachtung anerkannt ist. Wissen hat sich in Wissenschaften multipliziert. Wissen hat sich quantifiziert. Und wenn wir den Beobachter in seinem Wissen betrachten, das er sich aus Beobachtungen gewonnen hat, dann beobachten wir als Beobachter dieses Beobachters neben den Mengen auch noch die besonderen Qualitäten, mit denen die Mengen geordnet, gefühlt, gesprochen, sichtbar gemacht werden. Aber Beobachter und Beobachtung gehen nicht ineinander auf. Der Beobachter ist die singuläre, diskontinuierliche Seite, die sich hin auf Beobachtungen transformiert, die z.B. als geronnene Diskurse Voraussetzungen für Beobachter in ihrer Teilnahme und Aktion werden können. Wir schwanken zwischen diesen beiden Positionen, indem wir einerseits zugestehen müssen, dass es immer noch weitere und andere Beobachter geben wird, indem wir andererseits aber auch auf der scheinbar unanfechtbaren Beobachtung, die wir gemacht haben, beharren. Wir müssen die Suche nach Vollständigkeit eines symbolischen Wissens aufgeben und uns dem viablen, dem „passenden“ Wissen einer Verständigungsgemeinschaft (mit ihren begrenzenden Macht- und Interessenansprüchen) stellen. Doch auch, wenn wir uns diesen Ansprüchen stellen, ärgern wir uns zugleich immer wieder darüber, dass in der Geschichte der symbolischen Lösungen ständig etwas wiederholt wird, abgeschrieben und nicht zitiert oder ignoriert wird, weil die Bildung fehlt. Da könnte eine Bibliothek des gesammelten Wissens, die man vorher konsultieren muss, Wunder bewirken. Aber mehr noch würden wir uns über die Folgen eines solchen Vollständigkeitswahns, wenn wir ihn als Studiengang einrichten würden – und Bachelor- und Masterstudiengänge stehen in dieser Gefahr – wundern: Abnahme unserer imaginären Projekte und symbolischen Wagnisse, konservative Orientierung an Musterlösungen, Verewigung und Verstetigung des Lernens als Rekonstruktion. Modellhaft hierfür stand früher im alten China der Konfuzianismus, der sich als Bücherzentrismus entwickelte, um die Vielfalt interaktiver Beziehungen zu regulieren (vgl. Reich/Wei 1997). Heute scheint die Welt der studienbezogenen Zertifizierungen den gleichen Fehler zu wiederholen, indem ein standardisiertes Wissen abgeprüft wird, um so eine Wissensviabilität jenseits der handlungsbezogenen, aktuellen Problemlösungen zu suchen, die allein auf Wissenstraditionen vertraut. Aber solche Vollständigkeit des Wissens ist, selbst wenn wir eine ausgezeichnete Bibliothek mit allen Wissensvorräten konstruieren könnten, ein Verhängnis. Es ist heute zugleich die Illusion, die disparaten Interessen und Machtkämpfe verschiedener Verständigungsgemeinschaften unter einen Ausgleich zu bringen.
Aber das Verhängnis gilt noch in anderer Hinsicht. Nehmen wir an, es wäre tatsächlich möglich, das Leben in Beziehungen virtuell in dieser Bibliothek unter dem Anspruch einer Vollständigkeit oder eines hinlänglichen Verständnisses zu archivieren. Gewiss, wir sind technisch auf dem besten Weg dazu, wenn wir daran denken, dass wir heute fast alles audio-visuell aufbereiten können, dass wir alles im Internet zu dokumentieren in der Lage sind. Was aber soll dies für ein Leben sein? Es erscheint ja immer nur das virtuelle Bild des Rekonstrukteurs, das dieser über das Leben z.B. einer Handlung, eines Problems, eines Autors gewinnt. Dies ist aber nicht eine „reine“ Wirklichkeit. Es erscheint nur ein bereits geklärtes Problem, eine Wissensaufgabe, eine vordergründige Erklärung und meist ein banales Verstehen. Wir wissen ja noch nicht einmal, ob dieser Ausgangspunkt heute noch mit Handlungen derjenigen, die es lernen sollen, zusammengeht, sofern diese Lerner nicht dieses Problem selbst erleben und lösen. Jetzt lösen sie unser gedachtes und gemachtes Problem, sie lösen es wie ihre Aufgaben in der Schule, die auch schon immer von anderen gelöst waren. Und unser Verhängnis wird es, dass wir nun vielleicht illusionär denken, dass die genug Herausforderung sein wird, Studierende zu bilden und neue Wissenschaftler zu fördern.
Das kann so nicht gelingen (auch schon auf Schulebene nicht, vgl. Reich 2008). Eine auf Vollständigkeit hin orientierte Bibliothek zeigt einen bloß rekonstruktiven Gebrauch eines symbolischen Wissens. Sie verobjektiviert unsere Beziehungen, besonders wenn sie als objektive Instanz auch für ein Wissen eintritt, das unsere Beziehungen beurteilt. Sie macht aus Konstruktivisten bloß Rekonstruktivisten, aus möglichen Erfindern reine Entdecker, aus aktiven Teilnehmern kontemplative Beobachter.
Nehmen wir die Argumentation des interaktionistischen Konstruktivismus ernst, wie sie hier entfaltet wurde, dann zeigt sich die Notwendigkeit eines De/Konstruktivismus, der uns solche vollständigen symbolischen Lösungen gar nicht erst suchen lässt. Dies gilt nicht nur für wissenschaftliche Theorien, sondern auch für solche, die meinen, sie wüssten, wie sich Menschlichkeit oder demokratisches Zusammenleben auf Dauer definieren lasse. Meine Argumentation hat plausibel zu machen versucht, warum es so wichtig geworden ist, das Wechselspiel zwischen Beobachter und Beobachtung zu beachten. Sie hat erklärt, warum nicht alles in Beobachtung aufgeht und inwieweit Beobachtung mit sozialen, interaktiven Tätigkeiten ebenso verbunden ist wie mit vergegenständlichenden, machtvollen, teilweise unbewussten Tätigkeiten und Teilnahmen, obwohl diese Perspektiven auch wiederum Ausdruck eine Beobachters und darin bestimmter Beobachtung sind. Sie hat die Zirkularität von Beobachten, Handeln und Produzieren, wenn man traditionelle Begriffe benutzen will, verdeutlicht, obwohl sie dies nur als Entwicklung einer Beobachtertheorie mit unscharfen Ansprüchen konnte. Sie hat dabei den Hintergrund einer konstruktivistischen Tätigkeit betont. Ich werfe ein Konstrukt, ich entwerfe es, so wie der Architekt einen Bauplan entwirft, um zu sehen, was sich daraus umsetzen lässt. Zunächst versuche ich die Umrisse zu definieren, Maßstäbe anzugeben, so dass möglichst alle, die am Bau beteiligt sein werden, meinen Entwurf nachvollziehen können. Mein erster Entwurf aber ist sehr grob. Erst später, nach und nach, wird er sich präzisieren lassen. Und noch später erst werden wir vielleicht etwas nach der Vorlage tatsächlich bauen können. Aber kein Bau ist frei von sehr subjektiven Interessen, kein Bau interessant ohne Beziehungen, und keiner ist für die Ewigkeit gemacht.

Aber Wissenschaft benötigt doch einen Vollständigkeitsanspruch. Selbst im Gegeneinander müsste man sich zumindest darüber einig sein, woran man den wissenschaftlichen Fortschritt erkennt.

Wenn wir, wie es in der Wissenschaft bis heute noch oft üblich ist, nach einer möglichst vollständigen Lösung suchen, dann leben wir in einer Paradoxie: Der Aufbau der Vollständigkeit wird von selektiven, damit reduzierenden Interessen geleitet, denn wenn wir alles aufnehmen wollten, was je Relevanz beanspruchen könnte, dann müsste das die ganze Welt sein. Wenn wir aber nur, wie es in menschlichen Handlungen, die sich auf bestimmte Probleme und Lösungen beziehen, einen symbolisch ausgewählten Teil aufnehmen – und dies ist die Grundlage jeder lernenden Sozialisation –, dann ist nicht nur jede Vollständigkeit verloren, sondern wir sind zudem auch noch den wechselnden Interessen von Anderen ausgesetzt, die wir in einer komplexen, diversen Welt gar nicht hinreichend durchschauen können. Genau dies meint Bauman mit flüssiger Moderne.

Was bleibt dann aber überhaupt als Maßstab unseres Wissens?

Bevor wir einen universellen Maßstab errichten, müssen wir diskutieren, was wir tun, wenn wir solche Maßstäbe gewinnen wollen. Dazu setzen wir Verständigungsgemeinschaften ein. Früher, in der Aufklärung, dachte man noch, nur auf eine wirkliche und bestimmende Verständigungsgemeinschaft, die Aufgeklärten, zurückgreifen zu können, um für alle verbindliche Maßstäbe zu finden. Als Wunsch auf Ordnung ist dies bis heute so geblieben. Aber die Wirklichkeiten zeigen, dass auch in den Wissenschaften der Plural zu bilden ist: Verständigungsgemeinschaften. Dies ist die Falle jeder Verständigungsgemeinschaft. Erst wenn eine Verständigungsgemeinschaft sich soweit mit anderen nach Regeln und Interessen vereinigt hat, dass sie eine Art von Vollständigkeit – oder sagen wir besser: ein relativ sicheres Wissen – als ihren Zuweisungsgrund erlaubt, dann ist das symbolische Wissen hinreichend beruhigt. Aber beunruhigend hieran ist, dass es dann auch zur Ruhe kommt. Die Teilnehmer an dieser Ruhe haben kaum noch die Chance, etwas Neues zu erfinden. Ihre Kreativität nimmt ab, sie sind von der Vollständigkeit erschlagen. Will man mehr als Sicherheit, will man wirklich Vollständigkeit – und sei es auch nur in gewissen Hinsichten –, dann ist eine solche Vollständigkeit nur in einer Diktatur des Verständigens möglich. Die Wahrscheinlichkeit einer solchen Vollständigkeit hängt von dem Druck auf die Vereinheitlichung des Verständigens ab. Ein Zeitalter der Ödnis und der gedanklichen Leere bricht dann an. Nehmen wir die Demokratie hinzu, dann müssen wir erkennen, dass die Pluralität nicht hintergehbar ist, aber zugleich auch sehen, dass dies nicht in Beliebigkeit oder bloße Mehrheitsentscheidungen führen kann.

Also müsste dann nicht jeder Maßstab einer jeden Verständigungsgemeinschaft erlaubt sein?

Das ist ein zu vereinfachender Schluss. Es gibt ja bereits bestehende Verständigungsgemeinschaften, in die wir strukturell eintreten. Hier ist längst nicht mehr alles möglich und zugelassen. Daher gibt es auch stets schon Maßstäbe. Will ich mich zwischen ihnen entscheiden, sofern ich dies vermag, dann wird es aber entscheidend sein, die verbindenden und ausschließenden Normen solcher Verständigung zu re/de/konstruieren. Dies ist in der Regel ein langer Weg, weil man ihn immer erst aus einer vereinseitigenden Verständigungsgemeinschaft, in die man hineingeboren und/oder erzogen wurde, herausgehen kann. Dazu benötigt man eine distanzierende Reflexion. Und dabei hilft, so denke ich, eine Beobachtertheorie, weil sie es gestattet, eine Situierung der beobachtenden und begründenden Positionen vorzunehmen. Am wichtigsten aber ist, dass man, wenn man schon in einem Denkansatz zur Ruhe gekommen ist, alles fördert, was diese Ruhe verstört. Zugleich benötigen wir aber auch Wahrheitssetzungen, um der Beliebigkeit zu entgehen. John Dewey hat hierfür vorgeschlagen, von gerechtfertigten Behauptungen zu sprechen, wenn wir Gründe in Erfahrungen und Experimenten finden, die etwas als wahrscheinlich, eintreffend, gemeinsamer Beobachtung zugänglich, wiederholbar und zumindest auf Zeit geltend nachweisen können. Mitunter sind es kleine Gruppen von Menschen, die hier gegen die Gewohnheit von vielen etwas Neues entdecken, weshalb Mehrheitsentscheidungen nicht unbedingt in ihren Behauptungen hinreichend gerechtfertigt sind. Aber auch Mehrheiten können sich einer gerechtfertigten Behauptung dann nicht verschließen, wenn sie (oder Stellvertreter) nachprüfen können, ob die Rechtfertigung tatsächlich nachweisbar ist. Hier gibt es allerdings dann Grenzen, wenn das Untersuchungsdesign selbst so komplex ist, dass es von außen kaum mehr nachgeprüft werden kann. Hier gibt es insbesondere dann Probleme, wenn die Forschung mit Interessen nach Profit oder Vermarktung zusammengeht, wie es mittlerweile in vielen Studien schon beschrieben wurde.

Man hat den Eindruck, für den interaktionistischen Konstruktivismus gibt es Wahrheit, und doch gibt es sie nicht; was ist denn nun „wahr“?

Die erste Kränkungsbewegung lässt uns hier auch als Konstruktivisten keine Chance. Es gibt sie noch – diese Wahrheit. Aber sie ist aus dem Stadium ihrer Absolutheit herausgetreten und in einem Reich der Bescheidenheit angelangt. Sie ist Ausdruck der konventionellen Festlegungen einer Verständigungsgemeinschaft (z.B. von Konstruktivisten) und hat jeglichen universellen Status verloren. Ihre Generalisierung ist bescheiden, weil wir zugestehen, dass Verständigungsgemeinschaften plural, widerstreitend, im Kampf gegeneinander auftreten. Bei den einfachen technischen und konventionellen Fragen, d.h. wenn wir unsere Forschung auf sehr elementare Fragen richten (wie z.B. bei Messungen in der Physik), dann können wir noch schnell zu einer Einigung kommen. Dann schmilzt ein bestimmter Stoff bei einer bestimmten Temperatur usw. Aber bei komplexeren Fragen – übrigens auch in den Naturwissenschaften – ist die Einigung oft schneller dahin als uns lieb ist.

Wie sollen wir dann noch Fortschritte festhalten? Oder verzichtet Ihr Konstruktivismus auf jeglichen Fortschritt im Denken? Wieso aber sollten wir dann ausgerechnet Ihre Texte lesen?

Fortschritt lässt sich zunehmend weniger aus der Sicht bestimmter Verständigungsgemeinschaften begreifen. Das wird sehr deutlich, wenn ein überlegener Partner mit einem unterlegenen verhandelt: Was für ihn ein Fortschritt ist, das stellt für den anderen eine Unterdrückung dar. Der Kapitalismus als Kolonialismus ist reich an Beispielen hierfür. Fortschritt ist also eine Beobachterkonstruktion, die in unserer Zeit möglichst verschiedene Verständigungsgemeinschaften und deren Dissens mit umfassen sollte. Damit aber wird Fortschritt selbst ein durchaus vieldeutiges und spannungsgeladenes Konstrukt. Es ist möglich, dass unterschiedliche Verständigungsgemeinschaften mit gegensätzlichen Interessen und Macht sich durchaus auf Zeit für eine gemeinsame Verständigung im Blick auf übergreifende Gesichtspunkte einigen. Dies ist z.B. bei den Menschenrechten der Fall. Aber diese Einigung trägt immer den Keim des Unterschieds in den Auslegungen und Auswirkungen in sich. Und gerade deshalb sollten sich Konstruktivisten mit sozialen, ökonomischen, politischen usw. Konstruktionen von Wirklichkeit auseinandersetzen, um uns dekonstruktive Beobachterperspektiven zu eröffnen und nicht in naiver Fortschrittsgläubigkeit zu verharren. Ich hoffe, dass ich gerade diesen Punkt in meiner Argumentation über die Kapitel hinweg hinreichend entfaltet habe. Ähnlich wie im Pragmatismus immer auch auf die kulturellen Entwicklungen Bezug genommen wurde, so müsste auch der Konstruktivismus sich ein weiten Bezügen und Perspektiven entfalten, um nicht als ein zu reduktiver oder naiver Ansatz im Blick auf seine Kontexte zu enden.

 

2. Zur Topik der interaktionistisch-konstruktiven Beobachtertheorie

Die Beobachterbereiche werden über drei umfassende Kapitel sehr differenziert dargelegt, so dass ein Überblick schwer fällt. Gibt es eine alltagsbezogene, biografische bzw. lebensnahe Veranschaulichung, um die grundsätzlichen Beobachterperspektiven Ihres Ansatzes zu verdeutlichen?

Dazu benötige ich etwas Raum der Darstellung. Ich will versuchen, dies Ihnen am Beispiel einiger exemplarischer Beobachterpositionen zu verdeutlichen. Im Alltag gibt es mehrere Begriffe von Wirklichkeit. Wir sprechen von Natur, Realität, Ordnung der Dinge, Außenwelt, Dasein, um nur einige zu nennen. Gleichwohl verfügen wir intuitiv über Konstrukte der Bedeutsamkeit, die uns diese Begriffe inhaltlich unterschiedlich füllen lassen, die uns zugleich etwas über die Eindeutigkeit von Aussagen in unseren Beobachtungen und über die Gültigkeit des  Beobachteten verraten. Ich habe zu Ihnen vorhin von einem Bau gesprochen, um diese konstruktive Arbeit zu betonen. Die von mir vorgestellte Topik ist so ein konstruktiver Bau. Er trägt drei Fenster, von denen aus man die Welt betrachten kann. So ergeben sich drei vorrangige Perspektiven. Aber die Metapher trügt, denn dieser Bau ist schon eine dieser Perspektiven. Es ist ja eine wissenschaftliche Arbeit. Dennoch versuche ich, auch die anderen Perspektiven in den Blick zu bekommen. Diese Verflüssigung zu denken, das fällt schwer. Ich will dennoch versuchen, Ihre Frage aufzunehmen und eine vereinfachende Veranschaulichung zu finden. Wenden wir uns also den drei Perspektiven näher zu, die ich in den Kapiteln II, III und IV umfassend behandelt habe. Sie sollen uns nun aus dem Blickwinkel alltäglicher Biografien interessieren, um eine neue Sicht zu wagen. Ich will dies an vier – hier illustrativ und exemplarisch gemeinten – biografischen Skizzen (aus meiner und Ihrer Lebenswelt) verdeutlichen. Dabei geht es mir nicht darum, diese Biografien umfassend zu analysieren, sondern nur darum zu zeigen, inwieweit die drei hauptsächlichen Perspektiven in ihnen überhaupt erscheinen und welch unterschiedliches Licht dies auf die Biografien werfen kann.

Sibylle ist Ärztin in einer Großstadt. Sie ist im Krankenhaus beschäftigt und will Fachärztin für Orthopädie werden. Wann immer sie von ihrem Beruf spricht, so verfällt sie in eine besondere Sprache, die mitunter nur Eingeweihte verstehen. Es ist eine Medizinersprache, die sie in ihrer Ausbildung verinnerlichte, die einerseits zur Absetzung von anderen Berufsgruppen und insbesondere von Patienten dient, die andererseits möglichst schnelle Eindeutigkeit im Diskurs mit Kollegen schaffen soll. Um Eindeutigkeit geht es bei ihr ohnehin, denn die Eingriffe in die Körper, die sie durchführt, sind handwerkliche Millimeterarbeit. Sie erfährt bei ihrer Arbeit eine hohe Spezialisierung der Tätigkeiten bei der Diagnose, den Operationen, der Vorbereitung der Operationen und in der ambulanten Betreuung der Patienten. Obwohl sie mit Menschen umgeht, so dominiert doch der sachliche Inhaltsbezug, und ihr Chef sagte einmal, dass es gar nicht gut wäre, sich zu sehr auf das Leid der Patienten einzulassen. Hier atmet die Unschärfe. In ihrem beruflichen Alltag hingegen haben die Gegenstände und Dinge, mit denen sie zu tun hat, klare Namen, sie sind begrifflich eindeutig kategorisiert und allen Ärzten verfügbar. Gewiss hat sie sich hier erst einmal einfinden müssen, aber nun fühlt sie sich sicher. Sie beobachtet sehr viel, wobei ihre Beobachtungen eigentlich Messungen von Standardnormen sind. Sie vergleicht etwa ein Röntgenbild mit der Konstruktion eines Idealbildes, z.B. wie eine Bruchstelle günstigstenfalls gerichtet werden könnte. Sie geht von Idealnormen einer geformten Wirbelsäule aus, um Patienten Verschleiß oder Missbildung zu erklären. Ihre Beobachtertheorien sind niedergeschrieben und durch ärztliche Ausbildung oder Forschung abgesichert. Zwar gibt es auch hierin Unschärfen, aber diese erscheinen ihr nicht als dominant oder bedrohlich, denn sie weiß, was sie zu beobachten hat und was dies eingegrenzt bedeutet. So weiß sie auch, was sie konkret als Hilfe leisten kann. Drücken wir dies einmal theoretisch aus, so gilt die Eindeutigkeit ihres Handelns und Denkens dem System Orthopädie, das sie vertritt, d.h. in diesem beruflichen Spezialgebiet weiß sie – systemimmanent – eindeutig, was sie tun kann und muss. Zwar erweitert sich auch dieses System ständig, aber sie ist guter Dinge, dies zu erfassen, da es zur Eigenart ihres Krankenhauses gehört, sich ständig fortzubilden. Auch erfährt sie eine hohe Wiederholung ihrer Tätigkeiten, so dass eine Objektpermanenz erscheint, die sie nach strukturell gleichen Mustern – Handlungsabläufen – erledigt. Anders wäre eine Operation oder ein Krankenhaus allgemein gar nicht zu betreiben. Schließlich weiß sie sich hier dem Konsens, der Konvention ihrer Standeskollegen, sicher, die sich in ihrem Tätigkeitsfeld gegenüber den Angriffen von außerhalb schützen, indem sie einen Berufsstand und eine Berufsethik mit klarer Abgrenzung nach außen eingerichtet haben. Es war zum Teil gerade dieser Status, der Sibylle dazu veranlasste, Medizin zu studieren. Und noch etwas ist in ihrem System geregelt – ihre Bezahlung. Was für sie also letzten Endes zählt, das ist die strikt an Beobachtungen ausgelegte Arbeit, die sich eindeutig messen lässt, die zu wiederholbaren Ergebnissen führt, die intersubjektiv – unter den Kollegen – zu Vergleichen kommt, deren Qualität und Quantität sich relativ klar bewerten lässt.
Da Sibylle im Vergleich der Kollegen zu den besten gehört, hofft sie auf eine gute Karriere. Dieser entspricht ein klarer Status, der sich in einem vergleichsweise hohen Einkommen dokumentiert.

Hier scheint es als müsste Sibylle gar nicht die erste Kränkungsbewegung durchlaufen? Also gibt es, praktisch gesehen, doch noch eine ungekränkte wissenschaftliche Welt?

Nein, auch diese Welt bleibt nicht ganz verschont, denn es gibt auch in dieser scheinbar sicheren Welt Unschärfen, Widersprüche, Ambivalenzen. Die Weiterentwicklung des Faches ist schwer vorhersehbar und auch nicht so eindeutig, wie es von außen scheint. Auch hier konkurrieren verschiedene Sichtweisen um die beste Diagnose und Behandlungsstrategien. Hinzu kommt, dass auch die durchgehende Wissenschaftlichkeit der Arbeit ein Problem ist. Wenn Sibylle einmal niedergelassene Ärztin werden will, dann weiß sie nicht, wie sie dann hinreichend ihre Fortbildung organisieren kann, also auf dem aktuellen Stand bleiben wird. Zudem verändert sich der Gesundheitsmarkt erheblich, indem der Staat regulierend eingreift und Gehälter und Leistungen beschränkt, um die Gesundheitskosten zu dämpfen. Sibylle fühlt sich hier mehr und mehr einem System ausgeliefert, das den engen Berufsnormen als Ärztin ganz und gar nicht entspricht, aber dieses grundlegend verändert. Sie sieht sich vor dem Problem, dass sie nicht mehr das tun kann, was sie aus objektiven Gründen müsste, aber durch Dämpfung von Kosten nun nicht mehr für alle Personen gleich darf.

Und die zweite Kränkungsbewegung? Die erscheint hier noch nicht.

Hier könnte ich das Verhältnis der Ärztin zu ihren Patienten thematisieren. Ich will es aber noch anschaulicher machen, und beschreibe ihre Beziehungswelt. Sibylles erster Versuch, eine Familie zu gründen, ging schief. In einer Therapie konnte sie aufklären, dass sie versucht hatte, ihre Partnerschaft so zu organisieren wie ihren Beruf. Sie suchte nach logischen Lösungen, wo psychologische angemessener gewesen wären. Wann immer ihr Freund nicht auf ihre sachlichen Vorschläge einging, war sie betroffen, weil sie dachte, dass er sie nicht liebe. Dabei wollte sie nur alles so regeln, wie es ihr richtig schien, was sie für richtig hielt. Offenbar aber handelte sie so, als sei ausschließlich richtig, was sie dachte. Sie suchte die Beziehung so zu bestimmen, als wüsste sie genau, was eine Beziehung ist. Nach der Therapie ist Sibylle vorsichtiger geworden. Aber sie ist zugleich auch verunsichert. In dem System Partnerschaft nimmt sie als Subjekt stärker teil als in dem System Beruf. Zwar kann sie auch im Beruf durch Forschung oder gute Operationsleistungen das System selbst teilnehmend beeinflussen, aber dieser Einfluss verändert die Beobachtungsleistungen auf inhaltlicher Ebene in diesem Kreis nur sehr bedingt. Hingegen ist jede Handlung in der Beziehung schon eine Beeinflussung dieser Beziehung selbst, ein Punkt im Zirkel des Mit- und Gegeneinander, der in der Summe aller Punkte zu einer gelungenen oder misslingenden Partnerschaft führt. Und hier gibt es keinen End- oder Anfangspunkt, der wie die beruflichen Beobachtungen eine grundständige Sicherheit gibt. Vielleicht war dies früher für einige die Ehe aus Vernunftgründen, so denkt Sibylle öfter, aber ihr Anspruch ist eine Partnerschaft aus Liebe und Zuneigung, nicht aber ein Versorgungswerk mit statischen Rollen. Sibylle bemerkt, dass eine Beziehung ungleich unschärfer sich beobachten lässt als ihr berufliches Konstrukt. Sie war aber auch immer wieder erstaunt über ihre Freundin, die bei ihr so schnell diagnostizieren konnte, woran ihre Beziehung gescheitert war, es bei der eigenen Beziehung jedoch nicht schaffte, sich aus einer Umklammerung zu lösen, die sie, Sibylle, mit ihrem Abstand zu dem Paar als unglücklich ansah. Warum merkt man in Beziehungen so wenig, was man durch Beobachtungen, durch direkte Teilnahme eigentlich doch scharf erfassen müsste? Ihre Therapie hat sie hier noch mehr verunsichert, denn ihre Therapeutin hatte sie gefragt, inwieweit sie denn in sich selbst so eindeutig klar sehe, was sie angeblich so eindeutig empfinde, dass sie danach ihre Partnerschaft gestalten möchte. Sibylle fiel es schwer, sich zuzugeben, dass sie eigentlich gar nicht wusste, was sie hier will. Es waren letztlich widersprüchliche Regungen in ihr, die sie, vielleicht nach dem Muster ihres Elternhauses, zu einem schnellen Ende führen wollte. Dies hatte sie sehr nachdenklich werden lassen, obgleich sie eine gewisse Sehnsucht nach einer Ehe mit einem Traummann immer noch verspürte.

Die zweite Kränkungsbewegung im privaten Bereich, das ist sicherlich anschaulich nachvollziehbar. Aber reicht dies nicht auch in die berufliche Welt hinein?

Das ist richtig. Auch in die scheinbar sichere wissenschaftlich begründete Welt des ärztlichen Handelns gerät über die Interaktionen die Unschärfe. Hier ist es für den Berufsstand bisher oft symptomatisch, dass es gerade an einer sensiblen Interaktion mit den Patienten mangelt. Dies war zumindest früher auch viel zu wenig Gegenstand der Ausbildung. Aus der Sicht der Patienten aber ist dies ein sehr entscheidendes Beobachtungsfeld, denn sie wollen Verständnis für ihre sehr persönlichen Belange und subjektiven Empfindungen und nicht ein überwiegend technisches Verständnis ihrer Krankheiten. Vielleicht kann Sibylle hier über ihre Therapieerfahrungen aus ihrer persönlichen Welt einige Einsichten in den Beruf mit hinübernehmen.

Dann bleibt die Lebenswelt, die Welt- und Produktionswirklichkeit, als dritte Perspektive?

Das Studium hatte Sibylle kaum Zeit gelassen, sich um politische oder ökologische Fragen zu kümmern. Der Kontakt mit Studenten anderer Fächer war in der Massenuniversität begrenzt. Gleichwohl ist sie an solchen Fragen interessiert, denn ihre naturwissenschaftlichen und insbesondere biologischen Neigungen sagen ihr, dass es mit der Menschheit keinesfalls so weitergehen kann. Sie hat auch Angst vor Krisen, die ihre Zukunft bedrohen. Auch gesellschaftliche Veränderungen machen ihr Angst, insbesondere sexuelle Gewalt gegen Frauen. Doch solche Krisen nimmt sie eher passiv hin: Sie rezipiert sie durch Fernsehen, Tageszeitung und Bücher. Im Gespräch mit Freunden treten die Bilder und Aussagen oft wie Fragmente zusammen, um in ängstlichen Prognosen eine ganzheitliche Gestalt anzunehmen, aber es sind dies Gestalten, deren Schärfe niemals an die Beobachtungen auf ihrer Arbeit heranreichen. Vielleicht macht gerade dies die Angst aus. Sibylle ist sich bewusst, dass sie letztlich diese weite Beobachtungswelt oft aus ihren Gedanken verdrängt oder einfach abwehrt, denn sie will sich den Spaß am Leben nicht verderben lassen. Und es gibt neben ihrem Beruf noch viele schöne Dinge in der Welt zu entdecken, die auch nicht unbedingt mit gezielter Schärfe zu beobachten, sondern einfach nur zu erfahren und zu erleben sind.

Sie gehen also von der These aus, dass wir nebeneinander drei Perspektiven einnehmen, zwischen denen wir ständig wechseln?

Wir können sehr verschiedene Perspektiven einnehmen. Sibylle unterscheidet intuitiv drei Beobachtungsbereiche: Eine engere gegenständliche, auf Dinge und Patienten gerichtete Beobachtung, die möglichst scharf, d.h. nach intersubjektiv eindeutigen, wiederholbaren, kontrollierbaren Mustern zu erfolgen hatte. Eine Beobachtung von Beziehungen mit Menschen, die ungleich unschärfer wird, weil sie einen zirkulären Kreis von Aktionen und Reaktionen bedeutet, in dem Gefühle und Bedeutungen verwoben sind, die längst nicht so viel Klarheit haben wie ihre berufliche Rolle. Schließlich eine Art Weltbeobachtung, die zwar im Einzelfall auf Beobachtungen anderer beruflicher Rollen zurückgreift, auf sogenanntes Expertenwissen, deren Unschärfe jedoch für sie insbesondere durch die passive Haltung ihres Ichs verstärkt wird, denn sie kann Weltstrukturen nur dann direkt erleben, wenn sie Teil ihres Alltags und ihrer Handlungen werden. Wenn Sibylle so vorgeht, dann kann dieser Wechsel der Perspektiven in einem Augenblick geschehen. Ihr Vorgehen zeigt diese drei hauptsächlichen Richtungen an, und wenn wir viele Menschen beobachten, dann erkennen wir, dass sie ganz ähnlich vorgehen. Es mag immer weitere Perspektiven geben, aber diese drei treten sehr wahrscheinlich als wesentliche Richtungen oder Tendenzen fast immer auf.

Dann hätte ich jetzt gerne ein Beispiel aus einem eher handwerklichen Beruf, um zu sehen, ob es da ähnlich ist.

Franz ist KFZ-Mechaniker. Für ihn ist sein berufliches Leben auch nach strikten Beobachtungsrollen geregelt; wie Sibylle misst und bestimmt er nach standardisierten Normen, auch wenn sich seine Sprache und einzelne Handlungen von der Arzt-Tätigkeit erheblich unterscheiden. Franz hat stärker in der Praxis gelernt, war schon als Auszubildender ganz schön ausgebeutet worden, wie er fand, und er sah seit dieser Zeit darauf, seine Sache zwar gut zu machen, seine Beobachtungen genau auszuführen und darüber seine Handlungen zu kontrollieren, aber nicht unbedingt die Quantität so zu erhöhen, wie der Chef es wollte. Für Franz war diese Beobachtungswelt immer stark von seiner Beziehungswelt geschieden, denn dass seine Frau nicht wie ein Auto handhabbar sein konnte, war ihm von vornherein klar. Das eine ist der Job, das andere die Familie. Wenn du beides miteinander verwechselst, so hatte ihm schon sein Vater gesagt, hast du bald keine Familie oder keinen Job mehr. Dies war ihm gar nicht leicht gefallen, denn vor seiner Heirat hatte er immer an Autos rumgebastelt und darin all sein Geld investiert. Jetzt bleibt ihm nichts übrig, denn seine Frau kann zur Zeit bei zwei kleinen Kindern nichts dazuverdienen. Für die Weltpolitik bleibt Franz wenig Raum. Er ist mit seiner Frau ganz damit beschäftigt, einen bezahlbaren Kindergartenplatz in einer Elterngemeinschaft zu erkämpfen. Da ärgert er sich schon genügend über Politiker. Und er hat auch Angst: Was ist, wenn er seinen Job verliert?
Auch Franz unterscheidet intuitiv die Beobachtungsbereiche, die uns Sibylles Beispiel schon verdeutlicht hat. Auch in seiner beruflichen Rolle kommt es auf engeres Beobachten an, um die Handlungsregulationen angemessen zu kontrollieren. Seine Trennung dieser Beobachtungswelt von seiner Beziehungswelt ist schroffer, aber dies ist mehr durch biografische als durch logische Gründe gegeben. Überhaupt scheint es für den Bezug der ersten auf diese zweite Beobachtungswelt keine eindeutigen Regeln zu geben, denn der Zusammenhang von Beruf und Familie, von Blickweisen in diesem Wechselspiel, wird von Mensch zu Mensch variieren, seine je subjektiven Lösungen finden. Weltbeobachtung ist für Franz sehr stark von seinen persönlichen, von den Interessen seiner Familie geleitet. Hier eine Grenze anzugeben, ist aber schwer, denn die Welt kann in allen möglichen Formen und Krisen in sein Leben eindringen. Franz ist kein Theoretiker, der sich dies im Vorfeld ausmalt, sondern jemand, der sich dann engagiert, wenn er betroffen ist.

Diese zwei Biografien sind nun eher typisch für bestimmte Berufsbilder. Nehmen wir das „verworfene Leben“ der flüssigen Moderne, wie es Zygmunt Bauman (2004) beschreibt, dann müssten sich die Perspektiven doch ändern, oder nicht?

Tanja arbeitet als Aushilfskraft in der Verwaltung. Sie entwirft Vordrucke für Verwaltungsabläufe, und diese Arbeit macht ihr Spaß. Zwar ist die Bezahlung schlecht, aber nach einem langen Philosophiestudium hatte sie nicht damit gerechnet, überhaupt eine Stelle zu finden. Sie muss derzeit nehmen, was sie gerade bekommt. Gegenüber den Diskursen ihres Studiums sind die Vordrucke geradezu banal, aber im Blick auf ihre Beobachtungsleistungen eindeutig kontrollierbar. Sie hat Freude daran, etwas zu tun, was eindeutig ist. Das Ergebnis wird zwar dadurch vornormiert, dass sie enge Vorgaben umsetzen muss, doch der gestalterische Rahmen erlaubt ihr immerhin eine Anordnung, die logisch und optisch gelungen genannt werden kann. Damit erhält sie viel Lob. Aber auf Dauer kann dies nicht sein, das weiß sie. An ihr Studium denkt sie oft zurück. Sie hatte Philosophie studiert, weil einer ihrer Lehrer sie mit der Aussage konfrontiert hatte, dass die Philosophie der höchste Ausdruck menschlichen Wissens sei. Das war ihr dann zur Suche im Studium geworden, wobei sie am Ende erkennen musste, dass die höchste Form immer nur relativ zu anderen erscheint. Im Gegensatz zu Sibylle und Franz war sie so schnell darauf gekommen, dass sich die Beobachtungswirklichkeiten in der Qualität der Beobachtung, d.h. insbesondere in der Eindeutigkeit, Wiederholbarkeit, Intersubjektivität deutlich unterscheiden, aber sie brauchte lange, bis sie erkennen konnte, dass etliche ihrer Dozenten immer noch an jener höchsten Form des Wissens hingen, die längst verloren war. Jedenfalls schloss sie sich jenen Dozenten an, die diesen Verlust thematisierten.
Tanja erfuhr an der Universität oft, dass diejenigen, die ganz logisch denken konnten, in ihren Beziehungen unlogisch handelten. Es war geradezu ein Spaß, dies zu beobachten. Aber Beziehung war für sie nicht das Hauptthema, jedenfalls nicht zu Beginn des Studiums, sondern erst am Ende, als sie einen festen Partner fand. Das konnte, darüber war sie sich klar geworden, nur jemand sein, mit dem sie reden konnte, der sich für das interessierte, was auch sie beschäftigte.
Zunächst engagierte sie sich politisch und ökologisch, denn dieses Interesse stand in engem Zusammenhang mit ihrem Studium. Sie erlebte die Naturwirklichkeit nicht als von sich getrennt, nicht als verdrängt oder abgewehrt, sondern als so nah,  dass sie sich direkt angegriffen und bedroht fühlte, wenn die Gesellschaft diese zerstörte. Der Kampf gegen die Flughafenerweiterung, gegen Atomtransporte, gegen die Verschmutzung der Flüsse gehörte zu ihrem Alltag ebenso wie Hausbesetzungen. Eine eindeutige Beobachtertheorie konnten weder sie noch ihre Mitstreiter hierzu entwickeln, vielmehr stritten sie oft über Theorie und Praxis, über die legitimierte Struktur des Kampfes, und sie hatte hierzu mehrfach die Meinung gewechselt. Aber an der grundsätzlichen Eindeutigkeit, Richtigkeit ihrer Beobachtung über die Entwicklung von Natur und Umwelt konnte sie nicht zweifeln. Sie fühlte dies und konnte es differenziert ausdrücken, von vielen Seiten her beschreiben und moralisch bewerten. Aus ihrer heutigen Sicht ist sie erstaunt, wie groß dennoch – gegenüber diesem gemeinsamen Gefühl und Kampf – die Unterschiede der Meinungen und Auslegungstheorien waren. Dies hatte einheitliche Aktionen oft verhindert. Und es hatte ihre Skepsis gegenüber jener Welt verstärkt, die nicht eindeutig beschrieben werden kann, die aber doch im Einzelfall mit jeweils klarer Eindeutigkeit das Leben der Menschen beeinflusst. Wenn wir die Luft verschmutzen, so ist dies zwar eindeutig messbar, aber die Verursachung solcher Verschmutzung führt auf so viele vernetzte, verflochtene Beziehungsgewebe menschlicher Profit- und Arbeitsinteressen zurück, auf Abhängigkeiten und Wechselwirkungen von Abhängigkeiten, dass die Bedeutung der Messung selbst durch die Unschärfe eines weitreichenden Beobachtungskreises verunmöglicht wird. Tanja meint, dass damit die Güte von beobachtender Messung in der Post/Moderne sich selbst in Frage stellt, denn was naturwissenschaftlich sich eindeutig messen lässt, das zerfällt im Kontext der Lebensformen in die Unschärfe menschlicher Beziehungen. Mitunter denkt sie, dass nur ein Aufsprengen solcher Beziehungen helfen könnte, die Wahrheiten durchzusetzen, aber sie weiß nicht, wie dies geschehen soll. Sie sieht auch durchaus die Gefahr, dass dann Dogmatiker nur noch eine Wahrheit verkünden könnten, aber manchmal wünscht sie sich auch Dogmatiker, um die Welt noch zu retten.
Tanja weiß nicht, wie lange sie mit ihren Formularen zufrieden bleiben wird. Aber wir leben eben auch nicht mehr in der Antike, wo die Philosophen nachgefragte Prototypen der Reflexion waren. Als Frau hätte sie auch dort keine Chance gehabt. Viele ihrer Exkommilitonen fahren Taxi, und dies erscheint ihr als noch paradoxer als ihre Tätigkeit, denn es zerstört die Umwelt eindeutig mehr.
Auch Tanja unterscheidet Beobachtungsbereiche, aber bei ihr sind sie durch das Studium vermittelt, sie orientieren sich an Strukturen der Geisteswissenschaft. Sie hat gelernt, dass solche gedanklichen Konstrukte als Unterscheidungen nicht bedeuten, die Welt in absolut getrennte Bereiche aufzuteilen, sondern dass Unterscheidungen dazu dienen, sich in unterschiedlichen Sphären solcher Konstruktion klarer zu bewegen. Eine Philosophie lässt sich nicht ausschließlich aus der Beziehungswirklichkeit des Philosophen ableiten, aber ebenso dumm wäre es, sie als reinen Inhalt ohne Beziehungswirklichkeit aufzufassen. Die Weltbeobachtung jedoch bleibt für Tanja eine unklare Stelle: Wenn doch die Philosophie gerade diese Beobachtung in ihren allgemeinsten Grundlagen sich zum Gegenstand macht, wie kann sie dies folgerichtig tun, wenn sie dabei notwendig unschärfer verfahren muss, als es die Gebote der engeren Beobachtungswirklichkeit erfordern? Wenn Wissenschaft auf Eindeutigkeit, Wiederholbarkeit und dabei Intersubjektivität drängt – oder hierzu gedrängt wird –, wie soll sie dann die Welt noch erfassen können, wo sie vernetzt, komplex, kompliziert und von Beziehungen vielfältigster Art durchdrungen ist? Tanja träumt mitunter davon, hierfür eine theoretische Lösung zu finden.

Und was ist mit jenen Biografien, in denen selbst die Unschärfe angekommen ist, die nicht mehr auf Eindeutigkeit gebaut sind, die irgendein Beruf oder ein Studium geben könnte? Wird hier alles unscharf?

Peter ist arbeitslos. Er ist schon über 40 und da heißt es, man sei zu alt. Gelernt hat er nichts, sondern sich immer mit ungelernten Tätigkeiten rumgeschlagen. Hier aber entspricht er dem kapitalistischen Flexibilitätsmodell: Er ist vielseitig einsetzbar. Auf dem Bau, in der Autowerkstatt, als Bote, als Versicherungsvertreter, als Security-Mann, als Aushilfsbriefträger, als Fahrer mit Führerschein Klasse III, aber die meiste Zeit hat er als Kellner gearbeitet. Das macht er heute noch, um neben den Sozialleistungen etwas dazuzuverdienen. Das läuft zur Zeit schwarz, aber ohne Schwarzarbeit wäre er völlig am Ende. In den Jahren nach seiner Scheidung ist Peter einsam geworden. Er sieht seine zwei Kinder nie, und seine Frau ist in eine andere Stadt verzogen. Unterhalt war von ihm ohnehin nicht zu erwarten gewesen. Dabei hatte er früher immer noch eine Arbeit gefunden. Dann kam sein Abstieg in Stufen: Entlassung als Fahrer, weil er wegen Alkohol ein Fahrverbot hatte. Meldung beim Arbeitsamt. Nicht vermittelbar, weil er nichts gelernt hatte; wenig Hoffnung, dass eine Umschulung etwas bringt. Ständige Rückstufung der Leistungen. Am Ende ein Fall für die Statistik. Seine Eltern sind zwischenzeitlich verstorben. Sein Bruder sitzt im Knast. Weitere Familienkontakte fehlen. Der kleine Freundeskreis wurde durch die Scheidung zerschlagen. Und die Arbeitslosigkeit machte ihn ungesellig. Wer will schon mit so jemand Kontakt haben? Peter ist einsam geworden. Er vermeidet wie ein Aussätziger Kontakte, denn was hat er schon zu bieten? Er hat sich zurückgezogen und ist voll in die virtuelle Welt geflüchtet. Peter hat in seinem engen Zuhause mehrere Fernseher, die meist parallel laufen. Er hat fürchterliche Angst, etwas in der Welt zu verpassen. Er ist ein Außenseiter, aber durch seine virtuelle Teilnahme an der Welt fühlt er sich wie einer, der überall dabei ist. Peters engere Beobachtungswelt hat sich aufgelöst. Es hat keinen Nutzen für ihn, noch irgendwie scharf und exakt in die Welt zu sehen. Allenfalls die Sozialleistung muss stimmen und der Kellnerjob, den er gelegentlich ausübt. Die Beziehungen sind verkümmert. Die Lebenswelt ist begrenzt. Aber das Leben ist voller virtueller Hoffnungen.

Ich vermute, wir könnten die Aufzählungen unendlich fortsetzen und auch unsere eigenen Biografien hier eintragen. Könnten Sie noch einmal die Bedeutung der Perspektiven allgemein zusammenfassen?

In dieser Konstruktion von Biografien sind drei Beobachtungsbereiche unterschieden, die intuitiv ein jeder von uns zu unterscheiden weiß. Die hier geschilderten biografischen Skizzen sind subjektiv, singulär und dennoch in diesem Punkt verallgemeinerbar, wenn ein Beobachter diese Verallgemeinerung zu seiner Perspektive erheben will. Es ist eine durchweg pragmatische Unterscheidung, deren Nutzen dann offenbar werden kann, wenn wir biografisch über uns oder andere nachdenken. Die Unterscheidung scheint mir besonders zielführend für die arbeitsteilige Gesellschaft der Gegenwart zu sein. Dabei ist die Unterscheidung  ein Konstrukt für alle, die es aufnehmen wollen, und keinen, wobei letztere schon dadurch in der Mehrheit sein werden, da die Mehrheit erst gar nicht in die Versuchung kommt, sich wissenschaftlich reflektiert für oder gegen solche Konstrukte zu entscheiden.
Bezeichnen wir das Konstrukt ein wenig näher: In einer Beobachtungswirklichkeit, die sich Dingen (Gegenständen, Personen) in sachlicher Art nähert, die Beobachtungen möglichst eindeutig, wiederkehrend, nach bestimmten überprüfbaren, intersubjektiven Rollen durchführen möchte, erwarten wir einen Beobachter, der wie ein außenstehender Geist, wie ein wertneutrales Subjekt, möglichst frei von Emotionen und eigener Berührtheit, etwas misst, bestimmt, durchführt und dabei beobachtend kontrolliert, Input oder Output regelt, rechnet oder zeichnet, fixiert oder addiert, buchhalterisch genau notiert und in allem berechenbar bleibt. Es geschieht dies qualitativ und quantitativ. Die Ausbildung soll dafür sorgen, dass es vergleichbar zu gesetzten Normen bleibt; Prüfungen regeln den selektiven Zugang zu solchen Beobachtungsleistungen. Hinter jedem Beobachter stehen also schon andere Beobachter, die wissen, worum es geht.
Für Sibylle war dies ein langer Ausbildungsgang, der als medizinisches Weltbild sie dazu verleitet hat, auch andere beobachtbare Wirklichkeiten wie ihre Beziehungswelt nach dem erlernten Muster zu betrachten. Aber es gibt Abstufungen der Schärfe von Beobachtungen, eine Grenze der Eindeutigkeit, die von dem jeweiligen beobachteten System abhängt, das zum Ausgangsbereich meiner Beobachtungen gemacht wird. Hätte Sibylle z.B. Foucault gelesen, dann hätte sie vielleicht leichter begreifen können, dass ihre ausschließende und verobjektivierende Denkweise selbst nur einen Diskurs darstellt, der über ein unterstelltes Wissen eine allgemeine Wahrheit formuliert, die aus der Sicht anderer Perspektiven sich bloß als eine Praktik zeigt. Ohne den von ihr unhinterfragt gesetzten Wahrheitsanspruch wird die Medizinerin wieder Mensch wie andere auch, ihre Bestimmungen von krank und gesund werden relativer. Insbesondere im Blick auf die Geisteskrankheiten konnte Foucault in „Wahnsinn und Gesellschaft“ zeigen, dass hinter der Formation von Wahrheit und Wissen vieles verschleiert bleibt. Wenn Sibylle über ihre beruflichen Tätigkeiten nachdenkt, dann bemerkt sie, dass all ihr Tun ständig der Zensur durch ihr medizinisches Beobachtungswissen unterliegt. Diese Normierung war schließlich Ziel ihrer Ausbildung: Medizinisch tätig zu sein unter ständiger Selbstbeobachtung jener Normen, die im Berufsstand anerkannt sind. Deshalb war das Wechselspiel von Selbst- und Fremdbeobachtung, was hier zugrunde liegt, ihr selbstverständlich und vertraut. Gleichwohl wäre es für die Entwicklung ihrer Lebensperspektiven günstiger gewesen, wenn sie erfahren hätte, wie Beobachter und Beobachtungen zusammenwirken, wenn sie die Unterschiedlichkeit der Diskurse und ihre Bedeutungen näher hätte erlernen können. Dies hätte ihr auch als Ärztin, insbesondere aber in der Lebenswelt geholfen.
Bei Franz mag ein Fehler in den Beobachtungsleistungen nicht immer so direkt schmerzhaft spürbar sein wie bei Sibylle, aber auch er arbeitet nach strikten Normen, in die die Kunden ihr Vertrauen setzen, insbesondere wenn die Verkehrssicherheit ihres Fahrzeuges betroffen ist. Jeder einzelne Handgriff unterliegt daher der Steuerung durch eine normierende Beobachtung. Dies ist bei Tanja weniger greifbar, denn ein Formular in der Verwaltung entscheidet weniger über mögliche Schmerzen, sondern über Handlungsabläufe und ihre organisatorische Güte. Doch auch sie schätzt immer wieder ab, inwieweit ihr Tun Wirkungen provoziert, die sie sich beobachtend ausmalt und damit kontrolliert. Weniger relevant mag gegenüber solchen Beobachtungen, die eindeutig Verhalten kontrollieren, die Philosophie erscheinen, obwohl gerade in ihr grundsätzlich darüber nachgedacht wird, wie wir wahrhaft die Kontrolle von Verhalten erkenntnismäßig umschreiben, bewerten und kritisieren können. Die daraus ableitbaren, gegensätzlichen und vielfältigen Theoriebildungen setzte Tanja in ihre eigene politisch-ökologische Praxis um, ohne dass wir hier jedoch von einer Zwangsläufigkeit wie in den Ausbildungsberufen von Sibylle oder Franz sprechen können. Aber auch bei Tanja gab es jenes strikte Beobachtungswissen, das ihr in den Prüfungen der Philosophie aus der Sicht des Ansatzes ihrer jeweiligen Dozenten abverlangt wurde.
Peter allerdings fällt aus dem Rahmen. Seine engeren Beobachtungsleistungen sind entwertet, besser sollten wir sagen, niemals bewertet worden. Solche Leute bezeichnet man als „drop-outs“, denn sie fallen aus üblichen Beobachtungsregistern heraus. Neben Peter gibt es hier viele, zunehmende Varianten des Herausfallens. Und wem es schon in der engeren Beobachtungswelt, in deren Registern Leistungen bemessen und verteilt werden, schlecht geht, der erlebt oft auch in seinen Beziehungen nichts Gutes. Peters Beziehungswelt ist verkümmert, aber zugleich durch Virtualisierung aufgefangen. Welche Droge, welche Illusion sollte sonst noch zu Halluzinationen eines Lebenssinnes beitragen? Vielleicht genießt Peter auch nur konsequenter die Berieselungschance als Andere, wenn er die Simultaneität der Übertragungen durch mehrere angeschaltete Geräte ernst nimmt. Andere zappen dafür umständlich durch die Programme. Peter geht immer weniger in die Lebenswelt hinaus, die Lebenswelt wird zu ihm übertragen. Dies ist bei Sybille, Franz oder Tanja auch immer mehr der Fall, denn der Zeitaufwand, die Lebenswelt in direkter Teilnahme zu genießen, scheint zu groß geworden zu sein. Bei Peter wird dies konsequent genutzt, seine konkreten Beziehungen zu Anderen zu zerstören, gar nicht erst aufzubauen, sondern möglichst gänzlich in eine virtuelle Welt zu fliehen. Hier ist er mit seinen Selbstgesprächen allein, und dennoch sitzt er unter Millionen.

Diese Beschreibung klingt nach der alten philosophischen Forderung, dass alle Menschen mehr Philosophie betreiben müssten, um sich in der Welt zurechtzufinden.

Was die Massen betrifft, so ist diese Forderung nie eingelöst worden und der Trend geht heute eher auf Abschaffung nicht nur der Philosophie, sondern auch anderer Bereiche der kritischen Grundlagenforschung. Wir denken arbeitsteilig sehr stark in Disziplinen, die sich als Fächer, auch als Schulfächer, organisieren, aber die übergreifenden Perspektiven auf das Gesamtgebilde, die werden gerne durchweg vernachlässigt. Das geht übrigens auch dem Konstruktivismus so, der in seinen praktischen Anwendungen deutlich stärker nachgefragt und rezipiert wird als in seinen Grundlagenreflexionen.

Gleichwohl hat zumindest die Reflexion für die psychologischen Bereiche in letzter Zeit außerordentlich stark zugenommen. Das müsste doch in ihrem Sinne sein, oder?

Das stimmt. In der Beziehungswirklichkeit nützen solche Beobachtertheorien, die sich um Wissen und Wahrheit gruppieren, nicht unbedingt. Sie können, wie Sibylle gelernt hat, sogar schaden, denn die Psychologie einer Beziehung folgt Gefühlen meist mehr oder zumindest heftiger als sachlichen Inhalten. Und solche Gefühlswelten sind unschärfer als die Messung von Blutdruck oder das richtige Anlegen eines Verbandes. Wollte man nach einer verdinglichenden Beobachtungslogik seine Beziehung führen, so scheitern wir daran, dass Gefühle heute zu den Beziehungen notwendig dazugehören und nicht mehr verdrängt, sondern gelebt werden sollen. Dennoch wird auch der Beziehungsbereich scheinbar exakt beobachtet, wobei die direkte Beteiligung in diesen Beobachtungen entscheidend ist. Gehört es in der Beobachtungswirklichkeit gegenüber Dingen (Gegenständen, Personen) besonders im Rahmen beruflicher oder studienmäßiger Rollen noch zum Ideal, möglichst neutral oder wenig eingreifend bei dem zu bleiben, was Gefühle, innere Unruhe oder Verletzung der standardisierten Beobachtungsnorm bedeuten könnte, so kehrt sich das in der Beziehungswirklichkeit ins gerade Gegenteil. Insbesondere wer Pädagogik, Psychologie oder irgendein Lehrfach studiert, steht damit vor dem Dilemma, für seinen Beruf eine zweite Beobachtungstheorie zu erlernen, die durch die erste nicht abgedeckt wird. Neuere Kommunikationstheorien sprechen zurecht von einer Beziehungsebene, die anderen Gesetzmäßigkeiten als die Inhaltsebene folgt. Aber es gehört zu den wissenschaftlichen Einseitigkeiten, dass man bis heute meist eine Reduktion auf die Beobachtungswirklichkeit in einem sehr engen Sinne wünscht und sich wenig der Beziehungswirklichkeit stellen möchte. Dies wurzelt ganz klar in dem Umstand, dass in der Beziehungswelt ein jeder in all seinen Voraussetzungen als teilnehmender Beobachter schnell ein gleichberechtigter Kritiker wird, gegen den man sich nicht hinter einer Logik von externen Beobachtungen, die eindeutig messbar sind, verschanzen kann. Hier taucht ein Riss in unserer Kultur auf: Wir verwalten Inhalte nach Territorien der Technik, der Machbarkeit, der Wahrscheinlichkeit und konkurrieren um die exaktere Beobachtung von Dingen. Die Konstrukte von Beobachtung, die sich hieraus eindeutig in die Praxis einer Idee und mehr noch einer in Vergegenständlichung umgesetzten Idee transformieren lassen, scheinen den Sinn der Moderne überhaupt auszumachen. Es sind die praktischen Siegertheorien des Machbaren. In ihnen manifestiert sich Fortschritt, Innovation, Verbesserung des materiellen Wohlstands. In ihnen wird die Beobachtung aus der Auffassung in das variantenreich Sagbare und vielfältig hergestellte Sichtbare überführt, so dass es in den Zirkel der Beobachtungen als Tatsache zurückkehren kann. Dieser produktiven Form von Beobachtung, Handlung und Produktion steht die eher unproduktive Form einer wechselseitigen Begegnung zur Seite, die ungleich unschärfer operiert. Menschen begegnen sich in Interaktionen, sie beeinflussen sich, aber die Komplexität der Beobachtungsmöglichkeiten ist so groß, dass nicht mehr eindeutig gesagt werden kann, wie der Kreis sich zu schließen hat: War es nun mehr die Erbanlage, waren es die spezifischen Einwirkungen der Mutter, des Kindergartens, der Freundesgruppe usw., oder war es gar eine Mischung aus all den Fäden, die ein unsichtbares interaktives Netz spannen, die dazu führten, dass ein Mensch das und das ist oder nicht ist? Die Humanwissenschaft versagte bisher, hier eindeutige Antworten zu finden. Die Aufgabe erweist sich als zu komplex. Sie ist mehr als in der Technik und den Naturwissenschaften gespalten durch den Riss, der die Schärfe der Beobachtung selbst durchzieht: Eingefangen von der Komplexität, die sich nur mit Willkür reduzieren lässt. Solche Willkür mag Dingen und Sachen gegenüber geübt werden, aber Menschen und Personen gegenüber erscheint sie als unangemessen, sofern die Unversehrtheit des Subjekts, die Heraufkunft einer Autonomie- und Freiheitsstellung, die eben auch Voraussetzung für den Erfindergeist der Techniker und Naturwissenschaftler ist, mit der Moderne zugleich auftritt. Dadurch ist die Moderne eine Beziehungsfalle, die es verbietet, Menschen wie Gegenstände zu behandeln. Daher ist es naiv, wenn es immer noch Humanwissenschaftler gibt, die mit technischer Eindeutigkeit oder dem Instrument von Laborreduktionen versuchen, besser die menschlichen Beziehungsstrukturen verstehen zu wollen. Sie haben den Riss in ihren Beobachtungen noch nicht bemerkt.  Aus diesem Riss entspringt ein wesentlicher Gegensatz der Moderne: Dort, wo reduziert wird und das Machbare dominiert, wird tatsächlich die Welt im Sinne der Vergegenständlichung verändert. Solche Veränderung auf der Basis reduktiver Blicke erzeugt sich kurzlebig und kurzfristig, aber zeitigt langfristige Folgen, denn die Höhe der Reduktion erzwingt die Unkalkulierbarkeit der späteren Wirkungen. Die Kehrseite des Fortschritts der Moderne erscheint daher als notwendige Krise in der Ökologie usw. In der Reduktion wird die Tätigkeit in Praktiken gefangen genommen, die sich ein wahres Konstrukt von richtig und einwandfrei – vor allem moralisch – bilden, ohne die Wahrheitsbedingungen jedoch auf eindeutige Beobachtungen gründen zu können. So konnte Foucault auf dem Gebiet der Zuschreibung des Wahnsinns, des Bestrafens, des Krankseins aufzeigen, dass das Wahrheitskonstrukt wie ein Selbstmechanismus die Beobachtungen steuert und erst die Schleier der Machtpraktiken, die sich in dem Konstrukt verbergen, beiseite gerissen werden müssen, um neu zu sehen. Dies wäre ihm schwerer als für die Geschichte der Psychiatrie mit der Geschichte der Chemie oder Technik gelungen. Der Unterschied ist dabei ein doppelter: Einerseits ist die Beobachtung im ersten Bereich unschärfer, denn menschliche, interaktive Beziehungen lassen sich bei zunehmenden Autonomiebedürfnissen von Menschen immer weniger auf die Beobachtungsbedürfnisse weniger, anerkannter Beobachter reduzieren; andererseits verändert die unschärfere Beobachtung den Zirkel von Beobachtung, Handlung und Produktion, so dass alle Beobachtungen als empirische Bestandsaufnahmen und statistische Beweise frag-würdig werden. Dieser Riss, der durch das Verhältnis von Beobachtung und Tätigkeit geht, wird daher zu einer Voraussetzung der Bestimmung einer Beobachtertheorie, wenn sie nicht bloß einer der beiden Seiten – der objektivierten Beobachtungswelt oder der Beziehungswirklichkeit – aufsitzen will. Der Riss durchzieht Beobachtungen und Handlungen. Und er erscheint auf der dritten Ebene, die wir als Lebenswelt bezeichnet haben. Diese Ebene ist auch der Ort der Produktion, aber die Lebenswelt ist mehr als Vergegenständlichung. Sie erscheint z.B. bei Sibylle, Franz, Tanja und Peter als Ebene der Politik, der Ökologie, wir könnten sie auch Welt, Umwelt, Lebensform im weiteren Sinne nennen. Es ist das, was die engere beobachtende Wirklichkeit gegenüber Dingen und Sachverhalten (Gegenständen, Personen) im Beruf oder in der Ausbildung oder im engeren Alltag übersteigt und auch nicht durch die Beziehungsgeflechte, die ein Subjekt eingehen kann, abgedeckt wird. Es ist das große Andere der Gesellschaft, des „da draußen“, der Anderen, die irgendwie situiert sind, der nicht direkt gekannten, aber doch indirekt erfahrbaren Anderen, das hier ausgedrückt wird. Jede Nachrichtensendung ist angefüllt mit solchem Stoff in virtueller Form: Es sind Statistiken und Berichte von Arbeitslosen, Erfolgreichen oder Erfolglosen, von Unglück oder Glück, von Personen auf Bühnen der Macht oder Ohnmacht, von Ereignissen und Zuständen einer zwar konstruierten, aber doch wirkenden Wirklichkeit, die zugleich immer bedrohlich, verängstigend, gewalttätig oder sinnstiftend, behütend, helfend in das eigene Leben hineinragt. Es ist ein irgendwie Vergegenständlichtes, Produziertes, das ideelle und materielle Seiten erscheinen lässt. Wir sind hier als Beobachter zugleich Teilnehmer im Fluss, im Prozess des Ganzen, aber doch nur ein Teilchen im Strom, ein Sandkorn im Strand, ein Moment im Prozess. Unsere Psyche geht mit diesem Umstand in vielfältiger Form um. Wir können ihn annehmen, uns als ein solcher Teil fühlen, uns als bestimmende Macht sehen, aktiv werden und in den Prozess selbst verändernd eingreifen. Aber es wäre Größenwahn, wollten wir vermuten, dass dies die Welt in Vollständigkeit verändern könnte. Nicht dass solcher Größenwahn nicht gerade die Welt verändern könnte, wenn er Zuspruch durch Massen erfährt. Aber eine vollständige Erneuerung der Welt bleibt immer eine utopische Grenze. Dennoch verändert sie sich nur durch solches Tun.
Hier gibt es eine eigentümliche Sicht der Post/Moderne, die sich selbst als konstruierend versteht. So gehen wir zur Wahl unserer Parlamente und beklagen zugleich die Distanz von Entscheidungen zu unseren persönlichen Erfahrungen. Es ist ein Riss durch die Beobachtungswelt, der Sibylle eher ihren persönlichen Erfolg als das politisch-ökologisch sinnvolle Zusammenleben sehen lässt; zumindest bemisst sie hiernach die von ihr ins Leben investierte Aktionszeit; es ist ein Riss, der Franz immer dann aktiv werden lässt, wenn seine direkten Interessen betroffen sind, zumal seine ökonomische Lage ihm großen Zwang auferlegt; es ist ein Riss, den Tanja zum Studienobjekt sich aussuchte, den sie durch politisches Handeln zu überbrücken suchte, um zwischen der Konstruktion von Welt und sich zu vermitteln; es ist ein Riss, den Peter hin ins Virtuelle verschoben hat, der auch im virtuellen Kitt verborgen wird, wobei dies die hauptsächliche Welt geworden ist, die er sieht, für die er mitfühlt, an die er denkt. Wie aber sollen wir solche Wirklichkeit im Unterschied zu den anderen Wirklichkeiten nennen?
Nehmen wir ein anderes Bild, das uns den Vergleich erleichtern soll. Ein kleines Kind lebt voll und ganz in seiner Beziehungswirklichkeit, die ihm geborgener Ort, Zuhause, Gefühlswelt ist. Gleichwohl erlernt es nach dem Maßstab seiner Kultur jene Gegenstände und Personen zu beobachten, jene Worte und Begriffe nachzusprechen, die das Beobachtete bezeichnen und abrufbar halten, und diese Beobachtungsleistungen, diese verdinglichenden, bezeichnenden, analogisierenden Prozesse werden von seinen Beziehungspersonen ständig gefördert und kontrolliert. Intuitiv findet sich ein Kind in seiner Beziehung schnell zurecht, seine Gefühle werden auch in nichtsprachlichen Äußerungen deutlich, und es erlernt Muster des Verhaltens. In seiner Beobachtungswirklichkeit herrscht jene scheinbar eindeutige Zuschreibung von Ordnung, die wir aus den beruflichen Rollen bei Sibylle, Franz und Tanja kennen: Hier ist 1 + 1 = 2, hier ist rot gleich rot und Haus gleich Haus. Unser Kind würde verrückt werden, wenn wir es aus seinem verdinglichenden Erkennen herauslösen müssten und ihm klarmachen wollten, dass dies alles Konstruktionen eines Beobachters sind, die es sich auf mehreren Ebenen unterscheiden soll. Wozu auch? Unser Kind weiß noch nichts von jenen Verflechtungszusammenhängen, die als abstrakte Zeit- und Raumgrößen unser Weltbild ausdrücken. Nachrichtensendungen sind ihm unverständlich, soweit es nicht die Momente seiner Beziehung wiedererkennt oder vertraute Orte oder bekannte Gegenstände zu identifizieren weiß. Es ist ein langer Weg hin zu den Abstraktionen, die als Weltbilder von den Zusammenhängen hinter den sichtbaren Beziehungen künden, die die unsichtbaren Schlingen und Verknüpfungen zu beschreiben versuchen, die auch Erwachsene gerne auf einfache Dualismen (oben und unten, gleich und ungleich, gut und böse usw.) reduzieren. Jene weitere Wirklichkeit, die wir Umwelt, Natur, Lebensform, Politik, Nation, Gesellschaft usw. nennen, fußt auf Beobachtungen aus der Beobachtungswirklichkeit von Dingen oder Beziehungen, aber sie ist zugleich auch die verallgemeinerte Erfahrung der Beobachtungen von Anderen, die uns zugemutete Abstraktion von unseren Erfahrungen und die Imagination von Ereignissen, in die wir uns erst komplex hineinversetzen müssen. Gleichwohl erscheint sie als die uns bestimmende Wirklichkeit, die wir im Einzelfall bis ins Detail rekonstruieren, deren verallgemeinerte Gültigkeit wir mit dem Lohnzettel erhalten oder als Einkommen überprüfen, deren Qualität wir in jedem Moment des Lebensalltags beobachten. Diese Wirklichkeit ist durch Menschen konstruiert und produziert und durch natürliche Grenzen beschränkt. Sie ist Resultat jenes Kampfes zwischen Mensch und Natur, jene Eroberung dieses Planeten durch Menschen, mithin auch jener Teil der Eroberung, die wir selbst durchführen. Aber wir sind als Erobernde in Situationen hineingeboren, unserer Entdeckungslust sind Grenzen gesetzt, mehr noch unserem Erfindungsreichtum. Diese Wirklichkeit ist Umweltwirklichkeit, enger Produktionswirklichkeit, denn die ständige Re-Produktion dieser Wirklichkeit ist unsere Produktionsweise schlechthin geworden, ist Ausdruck unserer Wirtschaftsweise, in der die große Industrie alles verschlingt, was sich ihr in den Weg stellt und uns zugleich doch die Lebensform gestattet, die wir als materiellen Reichtum der Warenwelt genießen.
Hier schließt sich ein Kreis. Was Sibylle, Franz und Tanja in all ihrer Unterschiedlichkeit von Lebensform und Ausbildung erlernen, führt zu Konstruktionen von Wirklichkeiten durch ihre beruflichen Rollen. Es ist etwas, was sie nicht gesondert beobachten, denn sie schauen nur, was im Einzelfall kontrolliert abläuft. Sibylle bemerkt dabei nicht direkt, dass sie so eine Form von Krankenhaus re-produziert. Franz sieht dem einzelnen Auto nicht Wirkungsweisen der Kraftfahrzeugindustrie an, die er mit am Leben erhält. Tanja scheint nur Vordrucke zu fertigen, ohne dass ein Moment von Bürokratie hierbei reproduziert gedacht werden muss. Bei Peter scheint dies anders zu sein. Was reproduziert sich durch ihn? Er lebt doppelt virtuell in seiner Lebenswelt: Einerseits als Ausdruck von Massenarbeitslosigkeit, wo er zwar unmittelbarer Teilnehmer ist, die er jedoch distanziert beobachtend als Information zugleich virtuell in den Nachrichten, in den Berichten usw., die er sieht und hört, erlebt (Arbeitslosigkeit kann ich nicht anfassen, sie erscheint mir als Zuschreibung, Bericht, Kommentar); andererseits lebt er überhaupt in einer virtuellen Welt, denn er vermeidet das reale Leben, weil er Angst hat, im Virtuellen etwas Wichtiges zu verpassen. Was ist hier hinter seinem Rücken geschehen? Wie wirklich ist welche Wirklichkeit? Hat er noch Gemeinsamkeiten mit Sybille, Franz und Tanja?
Wie auch immer wir Biografien nachzeichnen, welche Perspektiven wir auch immer annehmen, es wird von uns ein Konstrukt von Wirklichkeit bezeichnet, die über das enge Beobachten und Tun des Individuums hinausreicht, sich hinter dem Rücken produziert, als eine Art „List der Vernunft“ unserer Beobachtungen erscheint und wirksam wird. Hegel hat besonders auf diese List der Vernunft aufmerksam gemacht. Marx hat dies für die Warenproduktion und ihre Wirkungen auf den Menschen beschrieben. Es braucht aber immer eine Unterscheidung von Selbst- und Fremdbeobachtern, um solche „List“ zu re/de/konstruieren. Die Beziehungswirklichkeit ist voll in diesen Kreis eingeschlossen, denn sie kann nicht aus dem Kontext von Beruf oder Umwelt, von Dingerfahrung oder Natur, oder wie immer wir solche Kreisläufe bezeichnen wollen, herausgelöst werden. Hier erscheint ein Aspekt unserer Unterscheidung, der selbst zu Unterscheidungen führt. Es ist ein Unterschied, der Unterschiede macht. Eben noch verharrten wir bei einer einzelnen Arzthandlung, dann erblickten wir in Verwandlung die Ärztin in ihren Beziehungen und beobachteten Wechselwirkungen zwischen beruflicher Rolle und Lebensdeutung, jetzt erkennen wir die Produktion von gesellschaftlichen Ereignissen im Blick auf Krankheit allgemein, die Sibylle durch einzelne Handlungen re/konstruiert. Als Ärztin reicht sie direkt in die Beziehungen ihrer Patienten hinein; sie hat mit ihnen eine Beziehung (auch wenn gerade Ärzte dieses gerne verleugnen). Dabei ist Sibylle als Figur auch nur eine Konstruktion, eine Metapher für solche Unterscheidungsmöglichkeiten, die Unterschiede produzieren. Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Das Konstrukt der Beobachterbereiche hilft uns, uns selbst auf Reichweiten und Unschärfen unserer Beobachtungswelten zu beziehen.

Warum werden diese Verflechtungen von Beobachtungen so oft übersehen?

Es war meist das Ziel der Wissenschaften, die Verwirrungen nicht zuzulassen, die unsere Beispiele erzeugen können. Die Beziehungswirklichkeit wurde geradezu systematisch aus der Wissenschaft verbannt, weil sie dem ontologisierenden Bewusstsein einer Wahrheit an sich, einer absolut gültigen Wirklichkeit, die irgendwie ins Subjekt abgebildet werden kann, nur im Wege stand. Allerdings gab es immer wieder Ahnungen, wie das Subjekt in die Konstruktion seiner Erkenntnis eingreift – etwa wenn Bacon vor den Idolen warnt, die den Menschen verführen, von seinem subjektiven Erleben auf die Wahrheit zu schließen. Die Welt- und Produktionswirklichkeit hingegen, wie ich verkürzend jenen Bereich von Natur, Umwelt und Produktion in seinem Zusammenwirken auch genannt habe, wurde in das Schema einer möglichst eindeutigen Beobachtungstheorie gepresst, um möglichst reduktiv die nun endgültige Wahrheit des Menschen in Auseinandersetzung mit seiner Umwelt oder Wirtschaftsweise oder Lebensform schlechthin zu finden.

Können Sie nach diesen biografischen Skizzen nochmals kurz systematisch die drei Beobachterbereiche charakterisieren?

Solche Skizzen vereinfachen in der Regel den komplexeren Gang der Argumentation. Ich will versuchen, dennoch eine Antwort in drei Schritten zu geben:

(1) Beobachtungswirklichkeit (Beobachtung im engeren Sinne)
In einfachster Reduktion, die darum schon wieder problematisch ist, lässt sich die Beobachtungswirklichkeit als ein Beobachtungsraum im engeren Sinne verstehen, in dem ein Subjekt in bestimmter Zeit und bei gegebenem Ort bestimmte Objekte sich zum Gegenstand der Betrachtung macht. Dabei geht dies Subjekt insoweit konstruierend vor, als es aus eigener Sicht mittels Bildern oder Begriffen und Aussagen eine innere Verarbeitung erreicht, die (für es wie auch für Andere) kommunizierbar ist. Der konsensuelle Bereich des Austausches von Daten über die Beobachtung ist die Grenze dieser Beobachtungswelt, ohne die sie ins rein subjektive Empfinden und Fühlen zurückgleiten würde. Es handelt sich in grober Betrachtung also um die Konstruktion einer objektiven Beobachtungswelt.
An dieser Bestimmung fällt auf, dass sie einerseits Subjekte isoliert, das Subjektive aus der Perspektive einer Verallgemeinerung entfernt, die Rolle des Beobachters in einen wissenschaftlichen Schonraum verlegt, denn nur dort lässt sich exakt genug beobachten. Will man gar die höchsten Ideale empirischer Forschung erreichen, dann wird zudem ein herrschaftsentlasteter Raum für Beobachtungen nötig, den diese Welt erst noch schaffen müsste, denn die Wertfreiheit als höchstes Ideal erweist sich bei näherem Hinsehen immer als Illusion (vgl. nochmals Band 1, Kapitel II). Andererseits aber gilt die Intersubjektivität als jener Gültigkeitsraum, in dem mindestens zwei Subjekte über diesen Beobachtungsbereich nach Kriterien Eindeutigkeit erzielen müssen, so dass die Isolierung sich als unmöglich erweist. In der Kritik wertfreier Erkenntnisbemühung ist daher zurecht darauf hingewiesen worden, dass bereits Auswahl und Kommunikation der Untersuchungen das Ideal der isolierten Wahrheitsbemühung – isoliert von den Interessen Anderer – ad absurdum führen. Objektivationen sind immer schon in Beziehungen und Lebenswelt eingebettet.
Was verleitet uns dazu, solcherlei Beobachtungsrealität auf alle Beobachtungsfelder zu verallgemeinern? Ich will ein Bild aus Piagets sensomotorischer Entwicklungsphase übernehmen, um dies zu verdeutlichen. Das Kind ist mit seiner Geburt zunächst hilflos, auf die Eltern angewiesen, unfähig, ohne deren Hilfe zu überleben. Das Baby hat Reflexe und verfügt auch über Wahrnehmungen, aber sein Erkenntnisstand scheint sehr dürftig zu sein. Die ersten 18 Monate aber führen zu einem Wandel in Bezug auf dieses Vermögen. Nach und nach lernt es in der Periode seiner sensomotorischen Intelligenz, die Anpassung an die Umwelt kontinuierlich zu erweitern, sich selbst als Bezugspunkt darin zu konstruieren, indem es Zweck-Mittel-Relationen entwickeln, Eigenschaften an Gegenständen erkunden, zumindest räumliche Beziehungen zwischen Gegenständen und Umwelt verstehen und Ereignisse antizipieren kann. „Vor allem erreicht das Kind durch ineinandergreifende wechselseitige Koordinationen von Verhaltensakten die Stufe der ersten grundlegenden Invariante aller Erkenntnis, d.h. die Stufe der Bildung des Objekts, eines Dinges ‚da draußen‘, dessen Existenz von seinem – des Kindes – eigenen Verhalten unabhängig ist. An diesem Punkt der Entwicklung erkennen wird den Beginn einer deutlichen Trennung zwischen dem erkannten Ding oder dem Objekt und dem erkennenden Subjekt.“ (Furth 1981, 72) Diese Erkenntnis mag Menschen bis ins hohe Alter dazu verführen, den Objekten außerhalb, den Dingen „da draußen“ oder den Verbindungen zwischen Dingen und Begriffen eine Herrschaft über sich zukommen zu lassen, die absolut erscheint. Es kann dies auch durchaus vor eigener Verantwortung entlasten, die dann entsteht, wenn man sich selbst als Miturheber jener Konstruktionen „da draußen“ verstehen lernt.
Solch kindgemäßer erster Aufbau konstruierter Wirklichkeit folgt einer Logik der Verdinglichung. Sie findet Ausdruck in der Freude des Kindes, Dinge wiederzuerkennen und ihnen Begriffe zuordnen zu können. Die Erziehung prämiert dieses Verhalten, weil es für die arbeitsteilige Welt Voraussetzung, für die kommunikative Welt Grundlage aller Handlungen und jeglichen Konsenses ist. Sprache als das Medium solcher Verdinglichung, aber auch Bildwelten, die zu symbolischer Eindeutigkeit gerinnen, führen zu einer Vereinheitlichung, zu einer Verallgemeinerung solcher Beobachtungswelt, die sich möglichst scharf gibt. Dennoch ist diese Schärfe oft nur suggeriert; sie zerfällt bei kritischer Betrachtung gar ins Bodenlose, wie Dekonstruktionen in der Sprachphilosophie oder Ästhetik uns zeigen können; gleichwohl bleiben sie in der Masse der Verdinglichungen und Vereinheitlichungen soweit scharf genug, dass wir berufliche Rollen und eindeutige Zuweisungen hiermit schaffen. Kontinuität solcher Rollen, Konstanz dabei waltender Beobachtungen, Aufteilung des Beobachtungsvorrates in arbeitsteiliger Spezialisierung, Herausbildung von Teilsprachen und Arbeitsmethoden sind wesentliche Grundpfeiler, die eine solche Beobachtungslogik anleiten. Es ist die Logik schlechthin, die hier als Wissenschaft erscheint, aber im Blick auf die anderen Bereiche der Beobachtung doch nur eine Logik. Darum habe ich sie auch eine Logik erster Ordnung genannt. Ihre Grenzen sind fließend, ihre Versuchungen auf Verallgemeinerung für alle Beobachtungsleistungen nie befriedigt. Es ist vor allem die Logik der Moderne, des Kapitalismus, der warenproduzierenden Gesellschaft und eines Leistungssystems der Aufteilung der Reichtümer in dieser Gesellschaft, die diese Beobachtungslogik als sachwaltenden Maßstab ihrer Selbstregulationen benötigt, um historisch gewachsene Aufklärungsansprüche der Gesellschaft nach Freiheit, Gleichheit und Menschenrechten mit den Produktions- und Marktmechanismen zu versöhnen, die ständig neue Ungleichheiten, Brüche und Risse zwischen den Menschen und gegen die Menschen produzieren. Die Ökologie ist für die Brüchigkeit dieses Vorganges in den entwickelteren Ländern heute ein Ausdruck eines möglichen Scheiterns dieser Versöhnung geworden; früher im 20. Jahrhundert war dies stärker an der Ausbeutung der arbeitenden Menschen und daraus resultierenden Klassenkämpfen festgemacht worden. Die Wissenschaft als oberstes Auge der Beobachtung aber steht in dieser Logik in der Verpflichtung, nur dorthin zu schauen, wo sie eindeutig wahrnehmen und zuschreiben kann. Sie wird gerne am Maßstab des technisch Machbaren gemessen, weil dies der erlernten verdinglichenden Sicht am besten entspricht, am klarsten Bedürfnisse zu befrieden verspricht, so dass ihr Fokus nur scharf zu blicken erlaubt, wo die Anerkennung der Unschärfe ihrer Beobachtungen eigentlich immer erforderlicher wird, um auch jene komplexen Ereignisse in den Blick zu nehmen, die sich außerhalb der Labore und enger Versuchsanordnungen gebildet haben. Es gehört zur Paradoxie moderner Produktionsweise, dass das zu Produzierende eng beobachtet und beschrieben wird, dass aber erst dann Folgen dieses engeren Produktes für die weitere Welt anerkannt werden, wenn sie ebenfalls nach dem engen, dem reduktiven Labormuster beobachtet werden können. Dieser Kreislauf ist heute möglich geworden, weil die Untersuchungsmethoden in den Laboren selbst sich verfeinert haben. Aber immer noch scheuen die Laboranten davor zurück, die Welt als jenes Labor zu sehen, dessen Komplexität zu ihrer Herausforderung wird. Dazu allerdings reicht die Logik erster Ordnung in der Beobachtung auch nicht mehr aus. Bis heute vergessen wir allzu oft die Wirkungen unseres Tuns, die Folgen der Wirkungen, wenn die Produkte aus dem engeren Labor entlassen sind, auf das große Labor der Welt.

(2) Beziehungswirklichkeit (interaktiv tätiges Beobachten)
In einfachster Reduktion, die darum schon wieder problematisch ist, lässt sich die Beziehungswirklichkeit als ein Beziehungsraum verstehen, in dem ein Subjekt in bestimmter Zeit und bei gegebenem Ort bestimmte Subjekte sich zum Gegenstand der Betrachtung macht und hierbei (für sich und Andere) zum Gegenstand der Betrachtung wird. Dabei geht dies Subjekt insoweit konstruierend vor, als es aus eigener Sicht mittels Gefühlen oder Bildern oder Begriffen und Aussagen eine innere Verarbeitung erreicht, die auch für Andere kommunizierbar ist. Der konsensuelle Bereich des Austausches von Beobachtungen begrenzt das Leben von Beziehungen. Für dies Subjekt wie auch für die Anderen ist es sehr schwierig, hier Anfang und Ende, Eindeutigkeit von Zuschreibungen zu finden, weil sie miteinander und aufeinander bezogen sind, so dass sie immer erst einem äußeren Beobachter oder sich selbst als einen solchen Beobachter setzend als ein eindeutig gedachtes System erscheinen. Durch Eintritt in dieses System wird dieser mögliche Beobachter allerdings auch ein bestimmter Teil dieser Beziehungswirklichkeit, was jegliche Eindeutigkeit in hohem Grade subjektiviert.
Die Beziehungswirklichkeit ist eine Welt der Tätigkeit, in der Beobachtung als wesentlicher Bestandteil vorkommt, wie die Beobachtungswirklichkeit umgekehrt nur eine besondere Form unserer Beziehungswirklichkeit ist. Wir müssen es lernen, aus beiden Perspektiven zu schauen, wobei wir – insbesondere nach der westlichen Zivilisationssicht – auch für alle Tätigkeitsbeschreibungen gerne ausschließlich auf das Muster der Beobachtungswirklichkeit, die ich als Logik erster Ordnung bezeichnet habe, zurückfallen. Wenn es uns nämlich zu kompliziert wird, dann fallen wir auf jene Schematisierungen zurück, die als Objekt „da draußen“ uns vertraut wurden und die als innere Pläne unser Verhalten im Regelfall so gut zu steuern vermögen, weil sie kulturabhängig erworben sind und verdinglichend und vereinfachend für schnelle Urteile zur Verfügung stehen. So lassen sich die Handlungen unterschiedlicher Subjekte scheinbar leicht koordinieren. Auf die besonderen Wirkungen der Beziehungswirklichkeit ist man daher in der Wissenschaft vor allem durch Aufenthalt in fremden Kulturen oder mittels der Beschäftigung mit dem Fremden – besonders der „Verrückten“ – in der eigenen Kultur gestoßen, wie es insbesondere Gregory Bateson als Pionier in diesem Gebiet zeigte. Dabei können die recht absolut erscheinenden sprachlichen Muster wie „normal“, „richtiges Verhalten“, „gut“, „böse“, „pervers“, „moralisch einwandfrei“ usw. nicht mehr für die Ordnung der Beobachtertheorie greifen, wenn man nicht von vornherein den eigenen Standpunkt als einzig gültigen bewahrheiten und den der Anderen verschweigen wollte. So aber, unter der Anerkennung, dass andere Kulturen anders sein können und „Verrückte“ bei uns anders sind, wie besonders Foucault hervorhob, ergibt sich das Problem, dass die Logik erster Ordnung auf einmal Schematisierungen aufweist, die zu relativieren sind.
Wir sind dabei an einer problematischen Stelle, denn diese Relativierung ist in der ersten Dimension der Beobachtungswirklichkeit ja durchaus auch zu leisten. Es fehlt uns mithin ein klares Abgrenzungskriterium. Als ein solches könnte ich zusätzlich zu den zirkulären Beschreibungen, die ich zur Beziehungswirklichkeit gegeben habe, den Begriff der Tätigkeit nennen, die hier immer soziale, wechselwirkende und dabei rückbezügliche Tätigkeit ist. Beziehung ist immer ein Produkt doppelter Beobachtung und setzt dabei Tätigkeit voraus. Es gibt aber keine Tätigkeit, die nicht an irgendwelchen Punkten ihres Tuns sich selbst oder andere in ihrem Tun beobachtet.
Allerdings setze ich als interaktionistischer Konstruktivist hier auch auf eine Konzeption des Imaginären, die sich deutlich von Bateson oder Watzlawick abhebt, weil sie nicht nur äußere Konstruktionen in zwischenmenschlicher Interaktion beachtet, sondern auch inneren Prozeduren wie Begehren und Spiegelungen, auch unbewusste Prozesse, zugesteht und für wesentliche Beobachterpositionen hält. Auch wenn diese Beobachtungsbereiche besonders unscharf sind, so gehören gerade sie zu einem notwendigen Feld von Selbst- und Fremdvergewisserung, wenn wir nicht einen wesentlichen Teil unserer zwischenmenschlichen Inter-Subjektivität ausblenden wollen.
In der Beobachtungswirklichkeit im engeren Sinne unterstellen wir meist unbewusst einen Akteur, der, wie Hegel sagt, teils empfangend, teils selbsttätig Beobachtungen verarbeitet, aber dessen Schärfe der Beobachtung davon abhängig ist, dass er möglichst wenig selbst in dem Feld tätig ist, das er beobachtet. Je höher seine Tätigkeit dort wird, desto unschärfer wird der Nachweis dessen, was er herauszufinden sich bemüht. Am Ende gar, wenn er hauptsächlich tätig ist, beweist er nur das, was er vorher schon wusste. Dann wird seine Tat zum Beweis – ganz im Sinne Nietzsches. Verfolgen wir diesen Sinn der Tat, dann gelangen wir in die Ebene der Beziehungswirklichkeit, die ich auch als Ebene tätiger – sozial teilnehmender – Beobachtung in Beziehungen bezeichnen könnte. Sie ist eine Ebene der aktiven, direkten, tätigen Teilnahme am Beobachtungsprozess selbst, ein zirkulärer Prozess zwischen Subjekten, was eine hohe Unschärfe im Sinne der ersten Logik ausdrückt und eine Logik zweiter Ordnung produziert. Wir haben zu Beginn des dritten Kapitels auch von Psycho-Logik gesprochen. Diese ist in gewisser Weise Anti-Logik gegenüber den engeren Logiken. Sie ist ohne eine Unterscheidung von Imaginärem, Symbolischem und Realem nicht hinreichend erfassbar. Insbesondere das Imaginäre weist in den notwendigen Spiegelungen und Anerkennungssetzungen zwischen Menschen darauf hin, wo die symbolischen Grenzen einer Ordnung der Dinge durch eine Ordnung der Blicke liegen. Deshalb habe ich auch oft davon gesprochen, dass das Imaginäre das Symbolische subvertiert. Und das Reale erweist sich ohnehin als grenzsetzende Beobachtungsinstanz. Ich halte es deshalb für wesentlich, dass alle Wissenschaften, aber insbesondere die, die mit sozialen Systemen zu tun haben, sich den Anforderungen dieser Anti-Logik stellen und sie wohl von der Logik erster Ordnung zu unterscheiden wissen, um nicht in Verwirrung zu geraten.
Die kulturell-soziale Seinsweise, die konstruktivistisch betrachtet eine Lebensform zwischen Erfinden und Entdecken, zwischen Selbstkonstruktion und Integration von Fremdkonstruktionen in dieses Selbst ist – immer mit den unterschiedlichen Sichtweisen von Selbst- und Fremdbeobachtern  –, zwingt im Bereich der Tätigkeit zu Beziehungen. Freud hat mehr als Piaget die emotionale Seite dieser Beziehungen analysiert, vor allem die Kinderpsychoanalyse hat auf der Grundlage seiner Theorie hier den Blick entscheidend erweitert. So wie in der Konstruktion der Beobachtungswelt der Gegenstände und sachlicher Aussagen, in der Welt von Raum und Zeit, Zahl und Begriff, konkret logischer und formal logischer Operationen eine Abfolge, bestimmte Phasen der Entwicklung, die durchschritten werden müssen, auftreten, so hat man dies auch für die emotionale und triebbezogen-konfliktträchtige Seite menschlicher Sozialisation zu beschreiben versucht. Beide Versuche orientieren sich in ihren Beschreibungen aber an der Logik erster Ordnung, denn sie wollen scharf genug im Kontext wissenschaftlicher Einbindung sein. Aber sie erbringen im Resultat eine Sichtweise, die sich im Moment der Tätigkeit aufgelöst erfährt, weil sie zwischen Selbst und Anderem zu rigide Schranken benötigt, die sich durch die Verschränkung beider im lebendigen Prozess wechselseitiger Anerkennung und wechselseitigen Anerkennens aufheben.
Durchdenkt man diese Kränkungen, wie ich es versucht habe, dann gewinnt man ein neues Bild von der Beziehungswirklichkeit. Solche Beziehungswirklichkeit ist in symbolischer Hinsicht in anschaulicher Weise im Anschluss an Unterscheidungen von Bateson immer wieder von Watzlawick und anderen beschrieben worden. Sie entwickelt sich im Tätigkeitsfeld nicht nur nach den von Freud beschriebenen libidinösen Mustern, sondern folgt in systemischer Betrachtung eigentümlichen zirkulären, rekursiven Prozessen, die im Blick auf die Gültigkeit des Systems Fragen nach Herkunft, Ursachen von Verhalten im Sinne von Schuld, Mangel, Störung nur aus der Sicht der Beobachtungswirklichkeit im engeren Sinne, als Logik erster Ordnung, als sinnvoll erscheinen lassen können, was aber für die Betrachtung der Beziehungswirklichkeit oft zu einseitig ist. So kann ich im Sinne der Logik erster Ordnung fragen: Wer hat als erstes wen angegriffen? Handelt es sich um ein bloß technisches oder gegenständlich fixierbares Problem, so wird eine relativ eindeutige Antwort möglich sein. In der Beziehungswirklichkeit erhalte ich auf meine einfache Frage aber immer zu einfache Antworten, die voller widersprüchlicher Auchs sind, weil hier die Unschärfe durch das Beteiligtsein anders denkender und fühlender Menschen zwangsläufig ist. So werde ich in einer endlosen Kette erfahren, wer wen wann verletzt hat und wieweit dies vielleicht sogar in die imaginäre Sphäre irgendwelcher gar nicht mehr erreichbarer Personen oder Mythen zurückreicht. Ich hätte gleich nach dem Anfang menschlicher Geschichte, nach dem genauen Tag oder einem bestimmten Punkt dieser Vorzeit fragen können, nach der Alternative zwischen Henne und Ei, auch hier ist die Unschärfe durch Unterschiedlichkeit der Beobachterposition zu groß. Beziehungswirklichkeit wird sogar mit solcher Logik verstellt und gegebenenfalls verhöhnt, weil suggeriert wird, dass jemand mittels Wissen eine Lösung hätte. Dabei ist Wissen hier gar keine hinreichend klärende Relevanz, weil jede im Prozess beteiligte Person durch ihre Beziehung schon (sich) weiß, aber indem sie ihr Wissen mitteilt, aus empirischer Sicht für die Anderen zur Störgröße ihres Wisens wird. Will ich keinen eliminieren, um zur Behauptung meiner Wahrheit zu kommen, dann benötige ich einen Diskurs der Beziehung, in dem sich das Beziehungssystem für eine gemeinsame Lösung als ein akzeptiertes Wissen über sich entscheidet. Je mehr das System in solchen Entscheidungen einzelne Mitglieder beseitigt, verdrängt, aussperrt oder wie auch immer besiegt, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Störungen im System selbst sein.

Aber müssten Sie dann nicht gerade einen Maßstab für notwendige Herrschaftsfreiheit angeben? Benötigt der Konstruktivismus nicht auch letzte Normen in dieser Hinsicht?

Es ist auch im Konstruktivismus erwünscht, dass Beziehungen möglichst herrschaftsfrei geführt werden. Aber Wunsch und eine universell geltende Norm sind zu unterscheiden. Wir müssten hier unterstellen, dass eine Ideallösung überhaupt möglich wäre. Aber dafür sehe ich keine hinreichenden Gründe, weil es nur Lösungen des je gegenwärtigen in Macht und Mächte verstrickten Beziehungssystems gibt. Es bedeutet vielmehr, dass Beziehungssysteme wohl zu unterscheiden lernen müssen, dass Inhaltsentscheidungen, die objektbezogener Natur sind, nach der Logik erster Ordnung (mit den dabei geltenden Einschränkungen), ihre subjektbezogenen Beziehungen jedoch nur nach einer Psycho-Logik, nach einer Anti-Logik verhandelt werden können. Und dafür benötigen wir eine eigene Beobachtertheorie, die nicht nur der extern beobachtende Wissenschaftler sich anzueignen hat, sondern die jedes Subjekt, das in Beziehungen steht, benötigt, um sich und sein Selbst gegen und mit den Anderen zu behaupten. Die Bedingungen der Herrschaft, die hier entwickelt werden, richten sich nach den Möglichkeiten der Zulassung einzelner Subjekte im Diskurs, im System von Beziehungen. Eine wesentliche Aufgabe von Wissenschaft ist es aus meiner Sicht deshalb, dekonstruktiv jede Form von hegemonialer Macht zu entlarven und Mächtigkeit – auch bei sich selbst – zu enttarnen. Aber dies wird nicht zu einer vollständigen Beseitigung von Macht führen können, wie wir ausführlich mit Foucault begründet haben.

Dann scheint es aber so, als ob man einfach in zwei Welten, in zwei Perspektiven leben könnte: In den wissenschaftlichen Beobachtungen und in den Beziehungen. Sind beide denn nicht notwendig miteinander vermittelt?

Beobachtungswirklichkeit im engeren Sinne und Beobachtungen in Beziehungen benötigen beide Intersubjektivität und Konsens, um etwas als wahr für eine bestimmte Verständigung(sgemeinschaft) aussagen zu können. Dabei aber schwanken wir oft zwischen den beiden Logiken, um doch der ersten den Vorzug zu geben: Einerseits versuchen wir betont die objektive Seite unserer Beziehungen herauszustellen, um sie an die Logik erster Ordnung anzugleichen; andererseits versuchen wir aber die objektive Seite möglichst von unserer Beziehungsseite zu distanzieren. Dabei ist es in der Perspektive der Lebenswelt aber deutlich, dass die Beziehungsebene sehr viel stärker auf die Beobachtungen im engeren Sinne wirken, als es Wissenschaftler gerne hätten. Die Unterscheidung liegt in der im Einzelfall zu beurteilenden Schärfe der Eindeutigkeit, Wiederholbarkeit und den intersubjektiven Regeln, die bei der Beobachtung eine Rolle spielen. Die Logik erster Ordnung muss verdinglichen, vereinheitlichen, verallgemeinern und jene Punkte fixieren, die sie zu kausalen Ausgangspunkten ihrer Argumentation macht. Sie kann zwar Unschärfen hierbei zugeben, aber in der Errechnung von Wirklichkeiten dürfen diese nicht ihr Zahlenwerk so zerstören, dass eindeutige Lösungen verunmöglicht werden. Jede Unmöglichkeit wird ihr zur besonderen Forschungsaktivität. In der Beziehungswirklichkeit wäre ein solches Verhalten eine „Anleitung zum Unglücklichsein“, wie es Watzlawick in einem Buchtitel ausdrückt. Es gehört zum Wesen von Beziehungen, dass sie den Anderen anders sein lassen können, dass sie zwar nicht jeden Maßstab der Beobachtung und Beurteilung verlieren, aber auch nicht millimetergetreu nachmessen können. Beziehen wir jetzt beide Perspektiven aufeinander, wie es lebensweltlich gesehen immer sinnvoll und notwendig ist, dann erkennen wir besonders die Überbeanspruchung der wissenschaftlich-objektiven Sichtweisen. Sie sind immer durch unsere Beziehungswelt subvertiert. Wenn wir diesem Phänomen auch in den Wissenschaften näher nachgehen würden, dann könnten wir noch so manche Überraschung erleben. Beziehungen gehen viel stärker in vermeintlich objektive Aussagen von Wissenschaftlern ein, als es Außenstehende vermuten.

Vermittelt die Perspektive der Lebenswelt dann zwischen der objektiven Beobachtungswirklichkeit und der Beziehungswirklichkeit?

Die Perspektive der Lebenswelt ist für mich in der Tat ein Beobachtungsraum, in dem wir eine solche Vermittlung gezielt beobachten können. Auch hier will ich eine kurze Systematisierung versuchen.

(3) Lebenswelt als Welt- und Produktionswirklichkeit

In einfachster Reduktion, die darum schon wieder problematisch ist, lässt sich die Lebenswelt, die Welt- und Produktionswirklichkeit, als einen Natur- und Produktionsraum verstehen, in dem Subjekte interaktiv in bestimmter Zeit und bei gegebenen Orten bestimmte Objekte bearbeiten und hierbei zum Gegenstand der Bearbeitung werden. Wenn wir die Seite der Natur oder äußeren Realität, die uns durch Raum, Zeit, Materialität auf dem Planeten Erde vorgegeben ist, mit in Betracht ziehen, dann zeigen sich auch Grenzen der menschlichen Möglichkeiten. Das „Hierbei“ ist historisch und wird variantenreich für die Menschen wirksam; es ist zirkulär mit den menschlichen Handlungen verknüpft, die in einer arbeitsteiligen Welt produziert werden, aber auch mit Faktoren der Umwelt, die nicht immer beeinflussbar sind oder deren langfristige Beeinflussung so vom Menschen nicht vorhergesehen war. Dabei gehen die Subjekte insoweit konstruierend vor, als sie aus eigener Sicht mittels Bildern oder Begriffen und Aussagen eine innere Verarbeitung erreichen, die kommunizierbar ist und die für sie notwendig in der einen oder anderen Form vergegenständlicht wird. Diese Vergegenständlichungen wirken als geronnene Konstrukte auf alle weiteren Bemühungen interaktiv-konstruktiver Lebensbewältigung zurück, indem sie Chancen, Hoffnungen, aber auch Hindernisse und Widerstände bezeichnen, bedeuten, vorgeben, deren Realität mächtig in die Beobachtungen und Beziehungen der Menschen eingreift.
Solche Wirklichkeit wurde in früheren Zeiten als Natur aufgefasst. Besonders Agrarkulturen sahen in ihr die Mächte der Natur. Im Zeitalter der großen Industrie wandelte sich dies in menschliche Mächtigkeit gegenüber den Naturkräften, die zwar noch spürbar bleiben, aber auf allen Ebenen menschlichen Lebens durch Künstlichkeit gefangen genommen werden: Architektur, Straßenbau, Fabriken, Elektrifizierung sind Maßstäbe eines Schutzes vor Natur geworden, obwohl sie eigentlich nur Stellen des natürlich Vorgegebenen neu besetzen und verdinglicht ausdrücken, die auch frühere Zeitalter kannten. Im 20. Jahrhundert ist die Redeweise von Umwelt in den Vordergrund gerückt, was die Welt als Ganzes auf jenes Umfeld reduziert, das in den Wechselwirkungen zum Menschen Relevanz hat. Umwelt ist nicht mehr durchschaubar als Welt oder Natur im Ganzen, sie ist das neue Heiligtum, das in unzählige Beobachtungsleistungen zerfällt. Dieses Zerfallen ist in der bürgerlichen Kultur und kapitalistischen Produktion institutionell geregelt, so dass die „heiligen Räume“ nicht unbefugt betreten werden. Gleichwohl ist Umwelt in der alltäglichen Lebensform für jeden Menschen profan vorhanden. Aber im Sinne der Logik erster Ordnung soll der einfache Bürger spüren, dass er nicht so ohne Weiteres aus seinem Alltag Schlussfolgerungen auf dieses Ding an sich, die Umwelt, ziehen darf.
Ich habe mehrfach gefolgert, dass menschlichen Konstruktionen die Eigentümlichkeit innewohnt, aufgrund des temporalen Prozesses sowohl Erfindung als auch Entdeckung sein zu können. Aber hier gilt eine strikte Interaktion: Kein Kind, das heranwächst, muss sich eine eigene (private) Sprache erfinden, auch wenn es dies in Elementen kann. Es muss auch nicht alle Zivilisation und Technik neu erfinden, auch wenn es sie sich konstruktiv anzueignen hat, also nicht bloß kontemplativer Beobachter bleiben kann. Im Bereich der Tätigkeit lernt das Kind durch Tun. Es lernt auf Inhalts- und Beziehungsebenen, selbstbewusst zu werden und sein Körper- und Alltagsleben zu organisieren. Gleichzeitig unterliegt es dem gesellschaftlichen Druck, der sich in all den ideellen und materiellen Re/Konstruktionen offenbart, die nur seinem Lernen offenstehen, die aber ansonsten gesellschaftliche Verankerungspunkte, Punkte fixierter Konstruktion und mithin sozialer Funktionen sind. Unterschiede in solchen Konstruktionen machen Unterschiede. Unterschiedliche Lebensformen produzieren unterschiedliche Beobachter und unterschiedliche Beziehungen.
Vorausgesetzt ist dabei das, was man Natur oder außermenschliche Realität nennen könnte, die aber in ihrer Naturseite mit menschlicher und gesellschaftlich überformter Natur vermittelt ist. Die Erde als Lebensraum ist nur zu Teilen von Menschen gefertigt, der Kosmos funktioniert unabhängig von Menschen. Zwar bemüht sich der Mensch, durch konstruktive Eingriffe in diese Natur, sie seinen Bedürfnissen anzupassen, was bis hin zum Eingriff in die Gene anderer Lebewesen oder die eigenen reicht, doch zeigt sich dabei bisher eine große Ambivalenz dieser Konstruktionen selbst. In der Philosophiegeschichte wird zurecht immer wieder auf die Mächtigkeit dieses Raumes und dieser Zeit und Gegenständlichkeit verwiesen, die auch menschliche Konstruktionen nicht beseitigen können. Andererseits ist es gewiss ein Raum der menschlichen Konstruktion, denn es gibt für uns dieses An-sich „da draußen“ nicht unabhängig von dem, was wir darüber uns zu konstruieren gelernt haben. Wir haben aber auch an Krisen mit dem uns Äußeren immer wieder erfahren müssen, dass wir es nicht einfach verdrängen, negieren, solipsistisch beiseite schaffen können, wie es manche der radikalen Konstruktivisten uns vielleicht zu suggerieren scheinen.
Wie aber sollen wir diesen Bereich von den anderen unterscheiden? Wir haben eine beobachtende Tätigkeit, die sich auf Gegenstände wie Personen richten kann. Wir haben eine kommunikative Tätigkeit, die durch Beziehungen definiert ist und hier eigene psychologische Auffassungen produziert. Beobachtung im engeren Sinne, Beobachtung im weiteren Sinne der Tätigkeit und nun Beobachtung im Sinne der Produktion? Die Konstruktion, so habe ich im vierten Kapitel ausgeführt, ist ein weiterer, offenerer Begriff als die Produktion. Konstruktion ist eine Tätigkeit. In der Form der Produktion ist sie Vergegenständlichung. Vergegenständlichung hat viele Formen, die der jeweils materiellen oder ideellen Beschaffenheit der Produkte entsprechen. Für frühe Gesellschaften ist dies im Wesentlichen die Natur, von der sie ihr Dasein herleiten müssen und der sie sich ausgeliefert sehen. Für eine kapitalistische Gesellschaft sind Waren der Inbegriff des Produzierten und zu Konsumierenden. Hier sehen wir einen entscheidenden Wandel in den Konstruktionen: In frühen Kulturen war der Mensch auch Konstrukteur jener Natur-Mächte, die er sich einbildete, um in der Erfahrung der Natur sich Gesetzmäßigkeiten im Umgang mit ihr abzulauschen. Aus dieser systemischen Wechselwirkung ist der Mensch mit zunehmender Selbstbewusstheit hervorgetreten, die ihn heute gar die ursprünglich erahnte Mächtigkeit der Natur verdrängen lässt. Der Mensch hat den Planeten Erde immer stärker gegenüber der übrigen Natur erobert und sich mittels seiner Konstruktionen über alles andere hinweggesetzt. Hausbau, Ackerbau, Straßenbau, Bau von Industrien, allesamt Konstruktionen, haben das Aussehen dieser Welt verändert. Aber auch ideell geronnene Werke wie Fachliteratur, Literatur im allgemeinen, Kunst in allen Arten, schließlich Gesetzgebungen, Verordnungen, Akten und Schriftstücke sind Produktionen, die den Moment der Tätigkeit überdauern und als Konstrukte den zukünftigen Erfindern zu Entdeckungen von Ordnung und struktureller Gewalt werden. Mit der Zunahme der Vergegenständlichungen lässt sich die Tendenz beobachten, dass das Materielle vor das Ideelle zu treten scheint. Das materielle Primat der Moderne konvergiert eigenartig sowohl auf Seiten der Anbeter des Kapitalismus, die nur auf messbaren materiellen Reichtum pochen, als auch auf Seiten der Antikapitalisten, die über eine Änderung äußerer Verhältnisse die Welt verändern wollen. Dabei benötigen beide die Ideen: Der Kapitalismus hat sich in seinen Papierformen des Geldes und der Börse längst einen Glaubensbereich geschaffen, dessen ideelle Anerkennung immer wichtiger gegenüber den materiellen Fakten der produzierten Schwierigkeiten wird; der Marxismus benötigt die ideelle Bereitschaft von Massen, um die Welt zu verändern.
Die kapitalistische Gesellschaft, die die Welt im Bereich der Produktion und Konsumtion, der Warengestalt und des Tauschmittels Geld längst erobert und besetzt hat, lässt ihre Mitglieder aufgrund der Selbstverständlichkeit ihres Alltags oft vergessen, dass sie einer besonderen Formung von Produktion unterliegen, die sowohl die Beobachtungen der Logik beeinflusst. Reduzierten wir den Konstruktivismus auf die Beobachtungs- und Beziehungswelt, so bestünde die große Gefahr, dass wir für die systemischen Wirkungen dessen, was wir mit Hilfe von Beobachtungen und mittels sozialer Beziehungen durch Arbeit produzieren, blind bleiben, obwohl es uns lebenspraktisch gesehen stark bestimmt. Wo die Freiheit der Demokratien damit prahlt, dass es bloß noch die notwendigen Selbstzwänge in wechselseitiger Rücksichtnahme seien, die unsere Freiheit durch die Freiheit des Anderen beschränken, da erfahren wir in der Produktionsrealität Sachzwänge einer konstruierten Apparatur, für die die gesamte Erde Spielball nicht mehr durchschaubarer Verflechtungen von Handlungsketten geworden ist, die das System Mensch-Umwelt in Krisen geraten lassen. Keine bloße Beobachtung kann dies kontrollieren, keine kulturell-soziale Tätigkeit irgendeines Volkes vermag dies entscheidend zu begrenzen, denn die produktiven Kräfte der Menschen im Bereich dieser Realität entfesseln scheinbar ungeahnte Möglichkeiten von Wohlstand, dessen Kehrseite immer auch die Armut ist. Die beobachtende Realität mit all ihren wissenschaftlich geschulten Beobachtern steht selbst Kopf vor dieser Entfaltung von Komplexität und Unschärfe, weil sie deren Folgen weder für den Menschen noch die vom Menschen konstruierte Umwelt in solcher Schärfe fassen kann, dass sie uns logisch zwingen könnte, diese Produktion so zu regulieren, dass wir als Gattung mit äußerster Wahrscheinlichkeit überleben könnten. Die Produktionswirklichkeit hat sich soweit verselbstständigt, dass nicht einmal mehr die schärfsten vorliegenden Analysen der Beobachtungswirklichkeit erster Ordnung, denen sonst großer Glauben geschenkt wird, hinreichen, sie in ihren Folgewirkungen zu erfassen.

Dann würden Sie sagen, dass die Lebenswelt als dritter Beobachterbereich die unaufgelösten Unschärfen des ersten Bereichs zurückkehren lässt? Oder ist es nicht vielmehr so, dass der erste Bereich, also das exakte wissenschaftliche Beobachten, immer schon durch die Lebenswelt und die darin stehenden Beziehungen nur eingeschränkte Gültigkeiten konstruiert?

Im Blick auf die Natur waren wir immer schon äußeren Wirkungen der Lebenswelt ausgesetzt. Dann aber meinten wir, mittels Konstruktionen der Natur beikommen zu können. Daraus ist das Denken der Moderne erwachsen, die sich heute als Postmoderne verunsichert sieht. Aber in der Einseitigkeit der Perspektive ist sie immer noch Moderne geblieben. Und für dieses moderne Bewusstsein ist die Unschärfe oder das Chaos tatsächlich ein großes Problem geworden, weil es in anderer Form die Schicksalsschläge der Natur scheint zurückkehren zu lassen: Ein eigenartiger Weltlauf hinter dem Rücken der subjektiven Konstrukteure hat begonnen, eine menschliche Erfindung, die sich des Erfinders bemächtigt und ihn zugleich in Teilen entmachtet, indem sie mittels ökonomischer Mechanismen und ihrer Verbindung mit Bedürfnissen des autonomen Subjekts – in dieser Realitätsebene könnten wir wohl besser vom egoistischen Subjekt sprechen – sich auf einmal hinter dem Rücken aller Subjekte produziert, ohne dass diese durch ihre Beobachtungs- oder Beziehungswirklichkeit aus diesem Prozess aussteigen könnten. Hier gibt es eine gemeinsame Teilmenge der Welt- und Produktionswirklichkeit mit der Beobachtung im engeren Sinne, mit der Logik erster Ordnung. Die Produktion selbst unterwirft sich dieser Logik in ihrem Herstellungsprozess, bei den Gebrauchswerten der Produkte, die sie nach logischen Regeln fertigt. Aber sie lässt sich nicht auf diese Logik reduzieren. In sie gehen die Beziehungswirklichkeit und die sozialen Tätigkeiten der Menschen ein. Aber auch darin geht sie nicht vollständig auf, denn sie produziert mittels der Tätigkeiten der Arbeit im Sinne der Logik erster Ordnung und der kooperativen (sozialen) Kräfte der Menschen, die dabei benötigt werden, eine Hinterlassenschaft, die selbst wiederum Voraussetzung für beide ist. Beachten wir dies, dann entsteht ein notwendiger lebensweltlicher Beobachtungsbereich für uns, der teilweise scharf und teilweise unscharf bleibt. Scharf sind die Beobachtungen zu bestimmen, die sich einzelne Resultate von Produktionen vornehmen, unschärfer werden Interpretationen, die sich mit den vernetzten Wirkungen und modellhaften Beschreibungen beschäftigen, die ausdrücken sollen, wie unser politisches, ökonomisches, soziales und kulturelles Zusammenleben funktioniert oder besser funktionieren könnte.

Wie wirken diese drei Beobachtungsbereiche dann zusammen? Können wir sie überhaupt zusammendenken, oder müssen wir uns mit einzelnen Bereichen zufrieden geben, die wir dann neben- und nacheinander erscheinen lassen?

Sie fragen nach der Zirkularität der Beobachtungsbereiche. Es ist nach den umfangreichen Argumentationen in den voraufgehenden Kapiteln hoffentlich offensichtlich, dass die von mir gegebene Unterscheidung nur zirkulär beobachtet einen Sinn macht. Aber es ist unmöglich, diesen zirkulären Sinn immer wieder in einen Blick zu nehmen. Die von mir herausgearbeitete Unschärfe verhindert dies. In der Präzisierung dieser Unschärfe habe ich gezeigt, dass dies aber nicht ein konstruktivistisches Denken hindert, sondern ihm sinnvolle, mögliche Blickfelder eröffnet.
In der üblichen Definition von Wissenschaft, zumindest westlicher Wissenschaft, dominiert die Logik erster Ordnung, indem wissenschaftliche Gütekriterien die Wahrheitssuche bestimmen helfen. Bereits der Einfluss teilnehmender Beobachtung wird als Problem der Unschärfe kritisiert. Weltanschauungen scheinen der Tod der Wissenschaft zu sein, weil ihre Unschärfe durch den Glauben an die Machbarkeit eines Ideals kompensiert wird. Aber ein Ideal, das diesen Machbarkeitsanspruch kritisiert, das die Idealität im Sinne eines „Schlechthin“ und „Überhaupt“ aufgibt, eröffnet die Chance, Weltanschauungen der Wissenschaft wieder zu gestatten, denn ohne diese verkümmert sie zu einer unkritischen Handlungsagentur. Im Alltag ist uns dies selbstverständlicher: So mögen Sibylle über Franz, Franz über sie, Tanja über beide und alle wechselseitig übereinander diskutieren, beurteilen, besprechen, offen bleiben für den Diskurs der Veränderung in ihrem Leben. Sie denken sich zusammen, selbst wenn sie nicht zusammen sind. Für Peter fällt alles virtuell zusammen. Wir denken sie zusammen, obwohl wir Unterschiede machen. Wie brauchen Unterschiedenes, um Unterschiede festzuhalten. Es sind Unterschiede, die Unterschiede machen. Aber im Zirkel des Unterscheidens denken wir auf sie zurück, denken wir wieder zusammen. In sehr grober Weise ließe sich dabei behaupten, dass die Beobachtungswirklichkeit im engeren Sinne, die Logik erster Ordnung, nicht nur alle Dinge, Gegenstände und Personen, umfasst, die wir aus der Welt aufnehmen, indem wir sie erlernen, sondern auch jene, die wir herstellen. Die Natur- und Produktionswirklichkeit unterliegt damit wie die Beobachtungswirklichkeit im engeren Sinne oft dem Ziel der Objektivierung von Wirklichkeiten, dem Wirken als festhaltbares Produkt, Resultat, verwirklichtes Konstrukt. Demgegenüber erscheint die Beziehungswirklichkeit als eine gänzlich andere Logik, die mehr Prozess als Ergebnis, mehr Leben als Produkt, mehr Spannung als Element ist. Sie zielt auf Subjektivationen, auch wenn sie Objekte benötigt und im Prozess der Objektivationen in ihren Freiheitsräumen bedrängt und gespalten wird.
Leben, Lebensform, Alltag, Wissenschaft, Welt, alle diese Beobachtungsebenen kennzeichnen ein Wechselspiel dieser beiden Seiten, damit auch Wechsel der Logik, Spannung zwischen diesen Polen, die als Konstrukt, als bloßes Denkwerk, jene imaginierte, unsichtbare Bindung ausdrücken mögen, die im Zirkel unserer Beobachtungsrichtungen uns zugleich herstellen (Selbstreferenz) wie reflektieren (Selbst- und Fremdbeobachtung) helfen.

Die von Ihnen gegebene Unterscheidung verstehe ich als ein Rekonstrukt. Dieses kann ja auch helfen, den reduktiven Sinn von Wissenschaft zu verdeutlichen.  Aber was gewinnen wir, wenn wir uns auf eine Beobachterwirklichkeit im engeren  Sinne beschränken (denn sonst wäre dieser Gesichtspunkt doch nicht so dominant)?

Die Vorteile sind durch die Entwicklung der Fachwissenschaften und Technik selbst belegt worden. Die Gegenstände werden in solchen Beobachtungsleistungen eindeutiger, sie werden schärfer, indem sie wiederholbar, konstant, intersubjektiv, reliabel und valide durch Beobachtungen abgesichert werden. Man spricht von Fakten, die jeder einsehen kann, von Sachverhalten, die wertfrei erscheinen. Auch die Welt der Beziehungen erscheint mit reduktiven Beobachtungen als kontrollierbar, wie es etwa die Behavioristen denken: Jeder Mensch erscheint als konditionierbar, wenn man nur umfassend genug seine Umwelt manipuliert. Eine hohe soziale Kohärenz wird dann möglich (ritualisierte Gesellschaft). In einer solchen Welt gelten Produktionen mit kurzer Reichweitenbeschreibung über alles: Der „homo faber“ mag als Musterbeispiel eines Zeitalters gelten, das sich alles selbst herzustellen traut.
Nun möchte ich Ihre Frage allerdings erweitern und auch die Nachteile andeuten. Die Nachteile werden erst dann offensichtlich, wenn sich die Beobachterperspektiven verlagern. Die Versprechungen der Moderne mit ihren reduzierten Blicken haben sich nur bedingt erfüllt, wenngleich diese Bedingungen – Warenkonsum und Technik – für das Massenbewusstsein äußerst wirksam sind. Aber Nachteile erscheinen dann, wenn wir das engere Beobachtungsfeld verlassen und Wechselwirkungen mit der Umwelt oder in den menschlichen Beziehungen beobachten. Die Fakten zeigen sich als komplizierter, widersprüchlicher, ambivalenter als uns die enge Beobachtung einredete. Die gegenwärtige ökologische Krise ist Sinnbild für unsere Kurzsichtigkeit geworden. Ökonomische Krisen erscheinen als unvermeidlich, und es ist offen, inwieweit sie positiv für große Bevölkerungsteile zu lösen sind, wie Fortschrittsgläubige behaupten. Und in den Beziehungen ist man mit Beobachtertheorien, die Schuld- und Ursachenforschung in vereinfachter Weise betreiben, nicht sehr weit gekommen. Gerade der Beobachterbereich von Herrschaft und Macht, von Fremd- und Selbstkontrolle erwies sich als komplizierter, als es die einfachen Beobachtermodelle von Ursache und Wirkung begreifen konnten. Sie werden daher insbesondere bei Beschreibungen von menschlichen Beziehungen immer mehr zum Hemmschuh. Und allgemein wandeln sich alle Vorteile der vereinfachenden Sicht dann in Nachteile, wenn komplexer geschaut wird, wenn Wechselwirkungen und systemische Zusammenhänge beachtet werden. Aber dies bleibt bis heute im vorteilsorientierten Bewusstsein der Moderne eben auch ein Nachteil: Will man doch auf alle Kosten die eben geschauten Vorteile möglichst lange genießen.
So bleibt als Antwort auf Ihre Frage, dass wir das, was wir gewinnen, als ein Konstrukt unserer Wirklichkeit begreifen müssen, das wir schnell verlieren, wenn wir uns als Konstrukteure auf einen erweiterten Beobachterhorizont einstellen und so weitsichtiger mit unseren Konstruktionen umgehen. Aber dies fällt im Zeitalter der Moderne, die sich allenfalls postmoderne Tupfer zur Beunruhigung gestattet, noch schwer.

Inwieweit kann die Beziehungswirklichkeit überhaupt für alle Beobachterbereiche beachtet werden?

In menschlichen Beziehungen gelten zirkuläre Kommunikationsverhältnisse, wie ich vor allem im dritten Kapitel ausgeführt habe. In ihnen gibt es Motivation, Begierde, Begehren und andere, vor allem emotional motivierte, Prozesse. Wann immer wir uns als Beobachter dem Alltag der Menschen nähern wollen, wann immer wir nicht abgehoben über Dinge reden wollen, sondern sie in ihren Beziehungen zu uns und a/Anderen thematisieren, werden wir uns der Unschärfe von Beziehungsverhältnissen zu stellen haben, wo ein jeder, der betroffen ist, mitreden kann und sollte. Wir erfahren nie allein etwas über die Dinge an sich, sondern immer etwas über ihr Verhältnis zu uns und unser Verhältnis zu ihnen. Ein solcher Blick ermöglicht Perspektiven, die hohe Freiheitsgrade von Entwicklung gestatten, die wir keinem Menschen vorenthalten sollten, denn als Beobachter sollte jeder gleiche Chancen haben, auch wenn die Beobachtungen im engeren Sinne solche Chancen ungleich verteilen. Aber es gibt keinen Meta-Beobachter, der weiß, wie man richtige oder bessere Beziehungen führt. Diese Freiheit ermutigt, wenn die Beobachter sie ergreifen. Und diese Freiheit benötigen wir, da es keinen Bereich menschlichen Lebens gibt, in den nicht auch Beziehungen hineinreichen. Insoweit müssen wir die Beziehungswirklichkeit für alle Beobachterbereiche beachten.
Auch hier will ich Nachteile nicht verschweigen. Eine zu komplexe Beobachtung verunmöglicht reduktiven Fortschritt, Komplexität oder Unschärfe zirkulärer Kommunikation entmutigen den Beobachter. Wie soll er hier noch folgerichtig argumentieren, wenn jeder andere Beobachter ihn zurechtweisen kann? Wo bleibt der Besserwisser, der seine Realität als allgemeingültig durchsetzt und hierüber Lustgewinn und Machtzuwachs verspürt? Die Gegenstände werden hier anti-technisch, anti-modern oder anti-fortschrittlich, d.h. sie verlieren positiven, eindeutigen, für alle feststellbaren Sinn, der sich etwas Besseres festhält. Ein solches Denken führt notwendig zu Verlusten im materiellen Fortschritt, weil nicht mehr alles, was machbar ist, auch für die menschlichen Beziehungen als sinnvoll angesehen werden kann. Gleichwohl aber können auch die Beziehungen keinen eindeutigen und wertemäßig klaren Horizont erschließen. In den Beziehungen führt Offenheit zu Chaos, zu Selbstsucht, zu neuen Machtkonzentrationen ohne Legitimationen aus traditionellen Systemen. Die Schrecken der Freiheit, der Pluralität, einer Multikulturalität erscheinen, die wir uns zwar manchmal als ein Glück der Zukunft ausmalen können, aber kaum in den gegenwärtigen Alltag als solches Glück übertragen bekommen. Viele leugnen deshalb überhaupt die Relevanz der Beziehungswirklichkeit und wollen ganz zurück in eine engere Beobachtungswirklichkeit der Wissenschaft fliehen, um noch sicher und eindeutig etwas über diese Welt aussagen zu können. Aber auch dieses hilft ihnen nicht, aus ihren Beziehungen herauszutreten. Sie können nur so tun, als ob sie kausal Beziehungen beschreiben könnten, die hinter ihrem Rücken, in ihrem eigenen Leben, jedoch ganz anders ablaufen. Der Ablauf weckt Ängste, und insoweit wollen Ängstliche die Beziehungswirklichkeit in engen Grenzen einer Privatsphäre halten, die sich in jeder Beziehungskrise sofort als Illusion entlarven wird. Denken wir zudem an die zunehmende Virtualisierung unseres Lebens, an die Ekstase der Kommunikation, wie Baudrillard es sagt, dann erscheint allerdings die Privatsphäre ohnehin als Illusion.

Entscheidet die Welt-/Produktionswirklichkeit als Lebensform nicht stärker  als  eine Beobachter- oder Beziehungswirklichkeit über unser Leben?

Es ist ja nun verrückt genug: Wir haben enge Beobachtungswelten z.B. in der Wissenschaft, und davon unterschieden leben wir in Beziehungswirklichkeiten. Aber nicht genug, als Vermittlung dieser beiden und als Wirklichkeiten von Wirklichkeiten tauchen Welt- und Produktionswirklichkeiten auf, die uns zwangsläufig umgeben: Als Waren aller Art, als Autos im alltäglichen Verkehr, als Architektur, als Transport- und Verkehrswege, als Natur usw. Es sind Wirklichkeiten, die wir im Kosmos, auf der Erde vorfinden und andere, die wir uns als Menschen selbst hergestellt und hinterlassen haben. In diesen Wirklichkeiten verhalten wir uns so, wie wir es gerade brauchen: Einmal mehr als strikte Beobachter im engeren Sinne, wenn wir den Dingen mit Interesse auf den Grund schauen wollen, dann wieder sehr nachlässig, weil uns die Funktion vorrangig vor einer doch zu komplizierten Erklärung interessiert. Als engere Beobachter haben wir durch unsere Wissenschaften schon gelernt, welche Beobachtungsfragen wir uns überhaupt zumuten können und welche als verrückt von vornherein ausscheiden. So gehört die Vernachlässigung zu unseren fruchtbarsten Wissens- und Methodenschätzen. Es setzt sich ein Pragmatismus durch, der Fortschrittskritik verkraftet, sofern der Fortschritt bleibt. Und dieser wird durch den kapitalistischen Motor angetrieben, der laufend neue Waren ausstößt, die wir konsumieren. Dies sättigt unsere Lust, wenn auch nur für kurze Zeit, um sich in immer neuen Spielen neuer Waren zu steigern, die den Sinn und die Werte des Lebens zu verkörpern scheinen. So sind wir als Beobachter scheinbar auf der Höhe unserer Zeit, weil wir immer in zwei unterschiedliche Richtungen schauen können: Eben noch Kritiker der ökologischen Krise, setzen wir uns in der nächsten Minute selbst ins Auto, eben noch Beobachter eines allgemeinen Fortschritts, beklagen wir hier den Rückschritt in vielen Detailbereichen. Wir erfassen auch unsere Beziehungen als unsere Produktionen und nennen uns z.B. Konstruktivisten. Wir unterscheiden Inhalts- und Beziehungsebenen, es mag uns sogar eine Vermenschlichung alles Gegenständlichen durch Bevorzugung der Beziehungsebene als Beobachtungswinkel gelingen. Als Vorteil bleibt uns unsere Wunsch-Produktion, die alles anzutreiben scheint, weil wir uns immer Vorteile in der Welt und in den Produktionen suchen.
Aber je genauer wir suchen, desto unklarer mag die Suche uns werden. Betrachten wir beliebige Gegenstände, dann wird in der Komplexität von Welt und der Vernetztheit von Produktionen ihre Zuordnung unklar. Es gelingt uns kaum, eine Tiefenschärfe zu erreichen, die uns als Beobachter klar sagen lässt, welche Folgen welche unserer Handlungen genau nach sich ziehen wird. So können alle unsere Vorteile auf einmal in Nachteile umschlagen, weil Weitsichtigkeit uns stets ambivalent bleibt: Schauten wir eben noch weitsichtig vom Berge herab als Beobachter über die Landschaft, also warfen wir einen Blick auf die Welt, der wie ein Überblick schien, so produzieren wir im nächsten Moment Stücke von Wirklichkeit, die nach ihrem Konsum als Müll immer weiter in unserer Um-Welt zirkulieren: Wir verschütten sie und decken sie zu, weil wir hier längst den Überblick verloren haben.
Ihre Frage scheint mir deshalb schon zu suggestiv gestellt zu sein. In die Welt und in die Produktionen gehen wir als engere Beobachter mit reduktiven Blicken ebenso ein wie über unsere Beziehungen. Fatalerweise meinen wir vielleicht, dass entweder die Welt als Kosmos soundso macht, was sie will, aber dies stimmt ja nur in Bezug auf existenzielle Ereignisse, die wir wie den Tod erst einmal vor uns herschieben, oder auf lange Zeit, die für unsere bescheidene Generationenfolge erst einmal distanzierbar bleibt. Oder wir glauben, dass uns die Produktionen wie Schicksalskräfte von außen determinieren, weil wir uns als engere Beobachter und Beziehungspartner in diesem Spiel kaum mehr sehen.
Ihre Frage veranlasst mich gleichzeitig, nochmals auf die Zusammenhänge der Beobachterbereiche zu reflektieren. Ziehen wir einige Folgerungen für eine konstruktivistische Beobachtertheorie, die ich thesenartig festhalten will:
Beobachterwirklichkeit im engeren Sinne lässt sich nicht einfach auflösen, abschaffen, vollständig umdenken. In ihr sind kausale Bezüge von Technik, Industrie und naturwissenschaftlichem Experiment konstruiert, die zugleich den Fortschritt der Post/Moderne materiell und geistig ausdrücken. Sie ist Konstruktion und in dieser zugleich Rekonstruktion. Gewiss können und sollten wir auch für diese Welt fragen, inwieweit systemische und konstruktivistische Züge in ihr verborgen oder vergessen sind. Aber diese Vergessenheit ist eben auch Ausdruck einer Post/Moderne, die wir bis in unseren Alltag hinein genießen, selbst wenn wir systemisch und konstruktivistisch zu denken versuchen, aber auf kausale Handlungsmodelle (in der Technik, im Verkehr, beim Fernsehen, im Haushalt usw.) zurückgeworfen sind.
Solche Beobachterwirklichkeit, die uns vermeintliche Eindeutigkeit schenkt und diese im Nichtbeachten systemischer Folgen auch bestraft, bedarf der Relativierung durch Dekonstruktionen der auferlegten Enge. Bei solchen Dekonstruktionen helfen neben anderen engen Beobachtungen, die wir kontrastierend der eigenen Enge im Vergleich gegenüberstellen können, insbesondere Wechsel auf die zwei anderen Beobachterbereiche, die wir herausgestellt haben:
Beziehungswirklichkeit hinterfragt mit systemischen Modellvorstellungen die vermeintlich bloß objektive Seite; sie ermittelt zirkuläre Prozesse und Selbstreferenzen, die nach ihrer intersubjektiven – pragmatischen – Begründungsebene zu diskutieren sind. Unschärfe der Argumentation ist kein Gegenbeweis im strikt ausschließenden Sinne, da nur eine Verständigungsgemeinschaft jenen Sinn überhaupt anerkennen oder bestreiten kann. Allerdings bleibt Sinn eine Kategorie der Legitimation. Wenn Feyerabend in der Erkenntnistheorie z.B. vom „anything goes“ spricht, dann muss eben immer auch eine Gruppe von Menschen dieses „go“ bewerkstelligen.
Die Lebenswelt ist der komplexe Realisierungsgrund all der menschlichen Handlungen, die sich durch die Beobachtungswirklichkeit im engeren Sinne legitimiert zeigen und die Umsetzung realisieren. Es gehört zu den inhärenten Widersprüchen der Beobachtungswirklichkeit selbst, dass sie mit den Mitteln der engeren Beobachtung auch die komplexen Folgen ihres reduziert legitimierten Handelns in der Zirkularität von Begründung und Durchführung von Handlungen aufspüren kann. Die große Industrie produziert Umweltschäden, die mit den Mitteln der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, deren reduzierende Sicht Verursachung von Schädigungen ist, nach dem Muster der Reduktion aufgespürt werden können. Allerdings ist oft die Reichweite solchen Aufspürens gering und der mögliche Schaden kaum nach solchen begrenzten Modellen zu kalkulieren. Insoweit ist eine unscharfe Theorienbildung in diesem Kontext legitimiert, denn sie kann mögliche Schäden dort prognostizieren, wo die enge Laborsicht versagt und die Statistik eine Wirklichkeit suggeriert, die kein Mensch erlebt. Eine Fülle von Fächern und Sichtweisen ist aufgefordert, diese Überlegung in die Breite und die Tiefe zu treiben, um sich von einer Konstruktionsauffassung, die sich am bloß Machbaren und Profitablen orientiert, stärker auf das Wünschbare und Lebenserhaltende umzuorientieren. Aber dies reicht sofort in die Interessen bestimmter Verständigungsgemeinschaften, die damit mobilisiert werden. Als Konstruktivist kann ich mich in der Pluralität verschiedenen solcher Verständigungsgemeinschaften zuordnen. Als wissenschaftlicher Beobachter bin ich gehalten, die Enge der Beobachtungswirklichkeit von hoch spezialisierten Blicken zu durchbrechen, indem ich sie zumindest auf den Kontext, die Situation und Wünsche der Teilnehmer zurückbeziehe. Dabei können wir uns nicht nur auf das Symbolische zurückziehen, sondern sollten das Imaginäre stets herausfordern und mit dem Realen rechnen. Wir erreichen dies insbesondere, wenn wir eigene Konstruktionen erlauben, Rekonstruktionen nicht auf eine Sicht beschränken, und schließlich insbesondere Dekonstruktionen dadurch fördern, dass wir auch unsere Sicht als fragwürdig zu bearbeiten erlauben.
Beziehungswirklichkeit ist interaktive und soziale Wirklichkeit, die überall – auch in den rein gegenständlich erscheinenden Beobachtungsprozessen – mitwirkt. In ihr sind Begehren und Begierden des Menschen ausgedrückt, symbolische Interaktionen, deren Subjektivität vorrangig ist. Allerdings haben sich längst menschliche Diskurse über den Sinn und die Geltung solcher Beziehungswirklichkeit herausgebildet, so dass sie nicht frei im Blick auf jede Entwicklung sind, sondern eine Freiheit immer erst erkämpft und erprobt werden muss.
Kann die Beziehungswirklichkeit durch andere Beobachterbereiche begriffen werden? Durch eine Beobachtungswirklichkeit im engeren Sinne können soziale Beziehungen nicht vollständig oder hinreichend reguliert werden. Sie mag im Einzelfall Bruchstücke von Handlungen in einem kausal plausiblen Licht erscheinen lassen, aber sie wird damit weder der inneren Dynamik menschlichen Begehrens noch der symbolischen Interaktion von Menschen gerecht. Naturwissenschaftliche Logik versagt als Psycho-Logik, weil sie zu wenig als systemisches, zirkuläres Modelldenken entwickelt ist. Lebenswelten hingegen drücken komplexe Systeme aus. Hier springt der Beobachter in seinen Beobachtungen hin und her: Einmal sieht er nur auf das Resultat, die Produkte, dann wieder steht der Prozess, der Weg im Vordergrund seiner Betrachtungen. Einmal regiert der bloße Nutzen, dann wieder ein Impuls, auch über den gegenwärtigen Tag hinaus etwas für die Entwicklung zu tun. Diese Systeme sind so komplex, dass sie uns überfordern. Wir können ihre Wirkungsweise nicht kalkulieren, was Beck (1986) zu der Aussage veranlasste, dass wir in einer Risikogesellschaft leben. Und doch ist das Risiko nur eine Seite einer produzierenden Gattung, eine andere ist offensichtlich die Lust am Herstellen selbst: Die Vielfalt der lebenden Menschen, die sich ihr Leben konstruieren, indem sie produzieren – sowohl sich selbst reproduzieren als auch die Umwelt re/de/konstruieren –, sie mögen alle für sich bewusst agieren, um dennoch hinter ihrem Rücken Risiken zu schaffen. Die Post/Moderne, das ist das Paradoxe hieran, hat sich die Minimierung von Risiken zum Ziel gesetzt; sie will das Leben in der Zeit, die dem Menschen individuell bleibt, maximieren, aber die Last all ihrer Maximierungen führt zu einer Eskalation von neuen Risiken. Diese Widersprüchlichkeit ist besonders auf der Beziehungsebene latent; sie wird in menschlichen Beziehungen gespürt und verdrängt.
Als wissenschaftliche Beobachter sind wir immer in Beziehungen. Beziehungen haben für uns Vorrang, weil wir niemals Sachen allein um irgendeiner abstrakten Sache willen vertreten. Aus den Beziehungen heraus können wir schärfer sehen, weil wir nicht alleine sehen. Aber dies zwingt uns, nicht auf die Illusion einer engen Beobachtungswirklichkeit mit bloß einer Weltsicht zurückzufallen, sondern uns tatsächlich in den Beziehungen für die Beziehungen offen zu halten.
Die Lebenswelt, die Welt- und Produktionswirklichkeit, ist sowohl Beziehungswirklichkeit als auch gegenständliche Wirklichkeit; sie ist die Vermittlung von Subjekten mit Subjekten und Objekten, die Verbindung von Geist und Körper ebenso wie die von Menschen und Kultur bzw. Zivilisation, die sich ideell und materiell niederschlägt und hergestellt wird. Solche Wirklichkeiten konnten bisher von keinem Modell auch nur annähernd vollständig erfasst werden. Eine solche Möglichkeit bleibt auch schon deshalb ausgeschlossen, weil die Beobachtungswirklichkeit im engeren Sinne versagt, ihre Schärfe des empirischen oder logischen Arguments auf Beziehungen oder zu komplexe Systeme sinnvoll und hinreichend übertragen zu können. Andererseits aber reicht die Psycho-Logik nicht hin, die gegenständlichen Vermittlungen und ihren rekonstruktiven Charakter für den Menschen, der sich z.B. als künstliche Welt, Verkehrsform, materielle Lebenskultur in all ihren Formen, als Geldgesellschaft und institutionell gebundene Machtgesellschaft ausdrückt, zu begreifen. Psychologie kann hier zwar die Motive der interagierenden Personen erhellen, aber nicht die Komplexität der Interaktionen, die errichtet sind, selbst hinreichend beobachtend beschreiben.
Als wissenschaftliche Beobachter können wir deshalb nicht bloß Psycho-Logiker sein. Ein Interesse für unsere Welt und für alle Produktionen erscheint als nachhaltiges Verlangen, nicht stets blind durch die Beziehungswirrnisse zu wandern und allein Psychologisches von sich zu geben.

Sie verlangen durch die drei Beobachterbereiche sehr unterschiedliche perspektivische Zugänge. Das übersteigt bei Weitem bisherige konstruktivistische Ansätze. Lebensweltlich gesprochen fordern Sie sogar Mindestanforderungen an eine konstruktivistische Theorie, die ebenfalls anspruchsvoll sind. Nun müssen wir, wenn ich Sie richtig verstehe, in all diesen Anforderungen zusätzlich auch noch drei Aspekte beachten: Rekonstruktiv die vorgegebenen Strukturen der Lebenswelt möglichst umfassend analysieren, konstruktiv unsere eigenen Interessen hierbei durchsetzen, dekonstruktiv aber auch diese Strukturen wie unsere Interessenlage kritisch hinterfragen. Ist dieser Anspruch nicht zu hoch? Ist ein solcher Konstruktivismus als lebensweltlicher Ansatz überhaupt lebbar?

Die Zirkularität der drei Beobachtungsbereiche stellt immer die mögliche Überforderung eines systemischen Denkens dar und kann als Frustration eine Regression in eine engere Beobachterwelt erzwingen. Dies gilt zumal, sofern nur dieser engeren Welt der Name der Wissenschaftlichkeit mehrheitlich zugewiesen wird. Insoweit ist die erstrebte Beobachtervielfalt unseres Denkens eine Überforderung in mehrfacher Hinsicht: Gegen traditionelle Wissenschaftsbilder, gegen eigene Minderwertigkeit in der Selbst- und Weltbetrachtung, gegen stereotypes Denken, das sich auf Sicherheit und Ordnung in vorgedachten Strukturen orientiert, gegen den einfachsten Weg, der schnellsten Erfolg prophezeit – um nur einige wichtige Gegner zu nennen. Mein Ansatz ist hingegen für Kreativität, praktische Ausrichtung, aber auch Kritik an allen Praktiken, deren Konstruktionen vereinfachend für wahr, richtig, einzig gültig gehalten werden. Er ist nicht für bloßen Skeptizismus, der alles hinterfragt, und es dann so lässt, wie es ist. Er ist für Konstruktivismus, der seine Sicht von Welt durchsetzen will, sie praktisch erproben will, und der darüber durchaus in Streit mit Anderen geraten kann. Die Topik der Beobachterbereiche, die ich unterscheide, mag helfen, mich selbst in meinen Paradoxien und Ambivalenzen aufzuspüren, mich in den jeweiligen Vor- oder Nachteilen zu situieren und sie Anderen – so hoffe ich – transparent zu halten.

Aber nochmals: Wird der Beobachter damit nicht überfordert?

Die Mächtigkeit des Beobachters wird im interaktionistischen Konstruktivismus betont. Er sucht sich Bereiche aus, in denen er schärfer sehen will, er ignoriert aber auch schnell jene Zusammenhänge, die zu komplex, abstrakt, undurchschaubar erscheinen. Im Gegensatz zu vielen klassischen Wissenschaftsansätzen ist meine interaktionistisch-konstruktive Perspektive nicht mehr in der Natur fundiert, die wir wiederherstellen wollen, nicht mehr in einer Idee absoluter Vernunft, der sich alle durch Einsicht unterwerfen müssten, sondern wesentlich eine Beobachtertheorie mit erkenntniskritischem Interesse, die die Inhalte und Formen des Beobachteten an jene zurückgibt, die – in diesen von mir vorgeschlagenen Bereichen oder in anderen – beobachten wollen, um reflektiert, aber auch emotional als Konstrukteure ihrer Wirklichkeiten möglichst selbsttätig und selbstbestimmt zu handeln. Wenn dies eine Überforderung darstellt, dann wäre konstruktives wissenschaftliches Denken verunmöglicht. Die Frage lautet für mich vielmehr: Wie viele können sich der hier vorgelegten Sicht anschließen?

Sollten wir bestimmte Beobachterbereiche bevorzugen? Oder können und müssen wir immer alle gleich offen beobachten?

Sofern wir den interaktionistischen Konstruktivismus als wissenschaftliche Theorie entwickeln, werden wir uns für eine Breite entscheiden müssen, die ich z.B. in der Diskurstheorie als Berücksichtigung mindestens der vier Meta-Diskurse dokumentiert habe. Sofern wir als Beobachter in Beziehungen oder in der Lebenswelt agieren, wird eine solche wissenschaftliche Analyse aber nicht immer passen. Sie zwingt den Beobachter in eine Anstrengung der Reflexion, die er öfter als zu unbequem empfinden oder als unnütz verwerfen wird. Positiv könnten sich hier insbesondere Teams von Forschern auswirken, die eine Beobachtervielfalt ausdrücken. Negativ aber wirkt der Druck auf eine reflektierte Wissenschaft, dass sie nur kleinen Zirkeln von Beobachtern vorbehalten bleibt.

Ist es nicht frustrierend für eine Beobachtertheorie, wenn sie damit sozusagen elitär bleibt?

Diese Frustration gilt ja heute für alle wissenschaftlichen Theorien. Sie können lebensweltlich kaum noch den Wunschwelten nach immer einfacherer Darlegung von Welterklärungen und möglichst anstrengungsfreier Verständigung genügen. Als Konstruktivisten kränken wir eben auch die Vorstellung, dass die einfachsten Erklärungen die vermeintlich besten sind. Wir behaupten, dass sie Vereinfachungen sind, die uns ungeheure Folgelasten aufladen, weil wir in der Konzentration auf das Eine die möglichen Auchs ignorieren. Und diese Ignoranz ist heute bedrohlich geworden: Sei es als Auslassung anderer Möglichkeiten des Handelns, also z.B. alternativer Technologien, sei es als Vermeidung einer komplexeren Analyse auch unserer Beziehungen oder Lebenswelten, um uns aus der Vereinfachung herauszunehmen, die sich mittlerweile ja auch als ungeheurer (unerfüllbarer) Erwartungs- und Realisierungsdruck gegenüber Glücksvorstellungen, Lebenserwartungen und Wohlstandsstandards ergeben hat.

Eine solche Sichtweise macht den Konstruktivismus aber nicht gerade für ein Massenpublikum attraktiv.

Das Massenpublikum steht lebensweltlich gesehen heute zunehmend unter dem Druck virtueller Vereinfachungen und nicht unter dem Anspruch theoretischer Komplexitätssteigerung. Hier ist es für den Konstruktivismus wie für andere Theorieansätze schon schwer genug, noch Intellektuelle zu erreichen. Für diese muss er einen Gewinn im Blick auf Interesse und Genuss bieten, denn sonst wird sich kaum jemand der Mühe unterziehen, mit einer gekränkten Vernunft zu operieren. Der Konstruktivismus hat hier, so denke ich, einiges zu bieten. So macht der hier entwickelte Ansatz z.B. verständlich, warum der Massengeschmack heute so leicht manipuliert werden kann. Und darin liegt auch ein möglicher Genuss für Beobachter. Im Gefühl, bestimmte Zusammenhänge zu durchschauen, erwächst ein Bewusstsein von eigener Mächtigkeit und zumindest Macht der Erkenntnis, die sich emotional bewährt und kognitiv reflektiert. Diese Wahrheit bleibt auch Konstruktivisten. Aber sie wird dadurch begrenzt, dass sie immer schon durch andere Beobachter, Teilnehmer und Akteure relativiert wird und sich nur einer sehr kurzen Zeitspanne und lokaler Präferenz sicher weiß. Deshalb hat der Konstruktivismus in letzter Zeit zunehmend mehr Anhänger in der Pädagogik oder Therapie gefunden. Die Frage lautet also umgekehrt: Kann auch eine relativierte und gekränkte Wahrheit hinreichend Anreiz für den Genuss eines Durchblicks sein? Für mich lautet die Antwort ja, denn sonst hätte ich kaum Energien in das Projekt des interaktionistischen Konstruktivismus gesteckt. Aber es bleibt offen, wie sich Andere verhalten werden.

Welche Sicherheit haben wir, dass es nicht noch mehr Beobachtungsbereiche gibt?

Die Beobachtungsbereiche sind ein Konstrukt, aber kein Abbild einer realen Wirklichkeit. Hier hängt es ganz davon ab, ob dieses Konstrukt kulturell passt, um Erklärungen oder Verständnisse bei Beobachtern zu erzeugen. Unsere Sicherheiten sind allein die Vereinbarungen von Verständigungsgemeinschaften. Deshalb aber sind sie auch unsicher. Es gibt unerschöpflich viele Beobachtermöglichkeiten, mithin auch sehr unterschiedliche Beobachtungsbereiche, sofern sich Beobachter darauf verständigen. Ich habe nur ein mögliches und, wie ich denke, für viele Beobachtungen geeignetes oder passendes Modell entworfen, das sich in Beobachtungen zu bewähren hat, das aber auch stets durch andere Beobachtungen dekonstruiert werden kann und sollte.

 

3. Worin unterscheidet sich der interaktionistische Konstruktivismus von anderen konstruktivistischen Ansätzen?
                        
Warum brechen Sie mit der konstruktivistischen Tradition insbesondere des „radikalen Konstruktivismus“?

Der radikale Konstruktivismus hat in vielerlei Weise die erkenntnistheoretische Diskussion bereichert. Aber er trägt auch deutliche Schwächen, die ich in der ersten Kränkungsbewegung markiert habe. In den nachfolgenden Abschnitten meiner Argumentation ist dann noch deutlicher geworden, dass dem radikalen Konstruktivismus, der allerdings kein einheitliches Konzept darstellt, zu sehr eine subjektivistische Position zu eigen ist, die sich interaktiven und sozialen Bezügen verweigert und die Sphäre des Unbewussten ausklammert. Insbesondere in der Reduktion auf Piaget gibt es so Lücken in den Konstruktionen von Wirklichkeit, die ich überwinden möchte, indem ich den Beobachter auffordere, breiter und vielfältiger, auch kulturbezogener zu schauen. Dies bedeutet nun aber nicht, dass ich alles am radikalen Konstruktivismus negiere. Er hat in großen Teilen dazu beigetragen, dass heute überhaupt konstruktivistische Positionen möglich sind. Dies gilt insbesondere für die Arbeiten Ernst von Glasersfelds und Heinz von Foersters. Dennoch möchte ich eine klare Einschränkung machen. Das von Maturana übernommene Konzept der Autopoiesis halte ich nicht für sehr geeignet, um soziale Prozesse, interaktive Beziehungen, die Komplexität von Lebenswelt zu untersuchen. Deshalb habe ich meinen Ansatz auch klar von Luhmann abgegrenzt. Mir erscheint das basale Konzept von Autopoiesis und struktureller Kopplung als zu einfach geraten, um ein hinreichendes Modell für Prozesse der Beziehungswirklichkeit und Lebenswelt abgeben zu können. Gleichwohl sollten Sie sehen, dass ich auf ganz anderen Wegen teilweise durchaus zu ähnlichen Schlussfolgerungen komme. Nehmen Sie nur die hier vertretene Konzeption von imaginärer Kommunikation. Sie sagt aus, dass jedes Subjekt eine Referenz in sich findet (also Selbstreferenz), die nicht durch direkte Instruktion manipulierbar ist. Dann aber wird aufgrund der Interaktion, die im interaktionistischen Konstruktivismus als spiegelndes Anerkennungsverhältnis aufgefasst wird, komplexer und zirkulär sowohl für die imaginäre wie auch für die symbolische Seite argumentiert. Dies liegt daran, dass ich den Fokus auf die psychischen und lebensweltlichen Ereignisse konzentriere, dabei allerdings die physiologische Seite ausklammere. Dies geschieht aus gutem Grund: Ich glaube, dass wir heute auf der vorhandenen Basis naturwissenschaftlicher (vor allem biologischer) oder kybernetischer Erkenntnisse nicht hinreichend argumentativ begründen können, wie das Verhältnis von Beobachtung – Beziehungswirklichkeit – Lebenswelt konstruktivistisch zu interpretieren ist. Bisher aufgestellte Konstrukte in diesem Feld scheinen mir zu einfach zu sein und auf die heute erforderlichen Bedürfnisse einer Re/De/Konstruktion von Lebenswelt (Beobachtungs- und Beziehungswelt in den Praktiken, Routinen und Institutionen unserer Zeit) nicht hinreichend zu passen. Die Ergebnisse der Hirnforschung, die gerne zur Begründung des Konstruktivismus herangezogen werden, sind trotz ihrer Reduktion auf einen verobjektivierten Beobachtungsbereich äußerst umstritten. Was für mich schwerer wiegt, das ist jedoch, dass sie nicht hinreichend für lebensweltliche Erklärungen herangezogen werden können (vgl. dazu z.B. die Diskussion um den Ansatz von Roth/Schwegler zur „Geist-Hirn-Problematik“ in „Ethik und Sozialwissenschaften“, Heft 1/1995 oder die Kritiken von Hartmann/Janich 1996, 1998). Aber das nun sollten Sie beurteilen, indem sie die Ansätze für sich vergleichen und dann diesen oder jenen Akzent für Ihre Beobachtungen und Ihr Handeln bevorzugen. Diese Wahl beinhaltet ja die Chance, stärker die eine oder andere Sicht in ihren Passungsformen auszuprobieren. Hinzusetzen möchte ich, dass ich die hier vorgelegte Theorie entwickelt habe, weil die Passungsformen anderer konstruktivistischer Ansätze mir für konkrete Probleme in kulturell-sozialer Sicht nicht passend genug schienen. Ich hoffe, dass andere Beobachter auch meine Theorie für sich passender machen. Denn nur als Rekonstruktionstheorie taugt der Konstruktivismus wenig. Sein Potenzial steckt besonders in Konstruktionen (ständiger Neu-Erfindung von passenden Lösungen) und Dekonstruktionen (kritischer Einschätzung bisher erreichter Lösungen).

Was veranlasste die Verengung des bisherigen Konstruktivismus?

Es ist, so meine These, die Verengung seiner Beobachtertheorie und ein mangelndes Verständnis für temporale und soziale Vorgänge. Beides wird sicherlich sehr stark dadurch beeinflusst, dass konstruktivistische Referenzen sich über sprachwissenschaftliche Reflexionsbeschränkungen (methodischer  Konstruktivismus), über biologische Verallgemeinerungen (Maturana), eine konstruktive Entwicklungslogik (Piaget) oder sprachlich-kybernetische Schlussfolgerungen vollzogen haben.
Die Verengung der Beobachtertheorie empfinde ich besonders stark, weil weder der Interaktionismus noch die Problematik des Unbewussten – also die zweite und dritte Kränkungsbewegung – hinreichend im Konstruktivismus bisher in den Blick geraten sind. Nun müssen Sie allerdings bedenken, dass mich dieser engere Konstruktivismus auch kritisieren kann. Wahrscheinlich wird ihm meine Position als zu offen, als zu unscharf und damit uneindeutig erscheinen. Dem kann ich z.B. entgegenhalten, dass gerade konstruktivistische Praktiker, insbesondere systemisch arbeitende Therapeuten, heute sehr viel offener mit dem Konstruktivismus umgehen, als noch vor ein paar Jahren. In der Praxis stellen sich Probleme von Beziehungswirklichkeiten und Lebenswelt immer wieder ein. Es wäre ziemlich ignorant, sie zu übergehen. Es mag aber durchaus aus einer reduktiven Einstellung heraus als problematisch erscheinen, sie so umfassend in den Blick nehmen zu wollen, wie es mein Ansatz intendiert. Immerhin ist er in der Pädagogik und Didaktik sehr erfolgreich, insofern er weite Verbreitung gefunden hat.
Die anderen beiden Mängel scheinen mir sehr offenkundig zu sein. Konstruktivisten argumentieren scheinbar zeitlos, sie vernachlässigen, auch dies sind die Fallen insbesondere von Maturanas oder Piagets Modell, historisch-kulturelle Rekonstruktionen. Und es entgeht ihnen die Interaktion in den sozialen Formen von Lebenswelt, die mit Macht, Begehren, Interessen, struktureller Gewalt usw. verbunden sind. Da es sich aber hierbei um sehr relevante Bereiche von Beobachtungen, Beziehungen und Lebenswelt handelt, versuche ich, den Konstruktivismus zu erweitern und für diese Weite zu interessieren.

Ist die Abwendung von anderen konstruktivistischen Ansätzen nicht auch ein Verlust?

Dem kann ich voll zustimmen. Ich denke, dass es immer ein Verlust ist, wenn man die Akzente einer Beobachtung anders setzt. Was verlieren wir insbesondere? Gegenüber dem radikalen Konstruktivismus in jedem Fall die solipsistische Sicherheit des Argumentierens. Diese ist ja insoweit ein Gewinn, da sie zunächst sehr radikal auf einen Wechsel der Erkenntnisbegründung aufmerksam macht. Sie subjektiviert die Erkenntnisvorgänge radikal, benutzt dazu aber die Erklärung scheinbar starker Theorien: Entweder den Biologismus von Maturana als vermeintlich eindeutigen Beleg unserer physiologischen Verfassung und daraus abgeleiteter kognitiver Möglichkeiten, oder Piagets angeblich universelle Konstruktion von Reifung und Entwicklung, die wie ein Naturgesetz aussieht. Viele Konstruktivisten übersehen leicht, dass diese beiden Modelle ebenso Konstruktionen von Wirklichkeit sind wie andere auch. Wir können sie einsetzen, so lange sie zu den von uns gestellten Aufgaben und Erwartungen passen. Im Laufe der Argumentation ist deutlich geworden, dass sie aus meiner Sicht nur begrenzt für die Anforderungen passen, die ich an eine konstruktivistische Theoriebildung richte. Aber nun können wir den Blickwinkel wechseln und noch einmal zurücksehen: Jetzt erscheint ein Konstrukt von Wirklichkeit, das auf andere Bedürfnisse durchaus passt. Dies macht ja auch die Erfolgsgeschichte z.B. von Maturana, von Glasersfeld, von Foerster oder Piaget aus. Sie als Beobachter müssen also den Verlust nicht tragen, sofern Sie die dort erarbeiteten Perspektiven für sich nutzen. Wir müssen uns als Konstruktivisten davon verabschieden, dass es nur noch eine Musterlösung gibt, was Verluste für mich erträglich macht.    

Ist der interaktionistische Konstruktivismus eine eklektizistische Weltsicht? Ist er beliebig, weil er sich auf die Möglichkeit verschiedener Verständigungsgemeinschaften bezieht? Diese können ja völlig unabhängig voneinander in einer Kultur bestehen. Gibt es dann nur noch Willkür?

In Verständigungsgemeinschaften, so argumentiere ich immer wieder, wird durch Konsens entschieden, welche Konstrukte von Wirklichkeit in einer Zeit gelten. Aber dieser Vorgang ist nicht so einfach, wie es scheint. Wir leben in unserer pluralen Lebenswelt nie nur in einer Verständigungsgemeinschaft. Als Beobachter können wir sehr viele Verständigungsgemeinschaften ausmachen, denen wir in bestimmten Teilmengen angehören, wieder andere, von denen wir uns in Teilmengen unterscheiden. Die Grundoption für eine Verständigungsgemeinschaft als geschlossene Gesellschaft ist verloren. Wir leben in einer Multioptionsgesellschaft, wie es in Kapitel IV gedeutet wurde, was aber nicht  bedeutet, dass wir im Einzelfall tatsächlich alle Optionen besitzen.
Auf dieser Grundlage denke ich als interaktionistischer Konstruktivist, dass ein gewisser Eklektizismus, d.h. ein Zusammensuchen und Zusammenwürfeln von sehr heterogenen Beobachtungen und daraus abgeleiteten Strukturelementen und Modellen zwangsläufig ist, weil dies zu unserer prekären Lage einer Orientierung in unseren Beobachtungen, in unseren Beziehungen in einer Lebenswelt passt. Wir haben die Sicherheit der einen Verständigungsgemeinschaft verloren, die alles für uns regelt. Wir haben auch die Ansicht aufgegeben, eine letzte, nicht hintergehbare Norm oder Begründung eines Maßstabes angeben zu können, von dem aus wir sicher wissen können, was wirklich ist oder sein soll.
Aber dieser Standpunkt ist nun keineswegs willkürlich. Wir haben eben kein rein subjektives Chaos vor uns, in dem jeder bloß das eigensinnig tut, was er allein von sich aus tun will. So ist unsere Kultur nicht, so ist keine Kultur aufgebaut. Der Eigensinn als Ausdruck der Gesamtheit einer Kultur umgreift durchaus viele (wenngleich nicht immer alle) Verständigungsgemeinschaften in einer Kultur. Dies ist unsere Chance, aber auch eine Gefahr, eine Verständigung durch bewusste Begrenzung, d.h. durch die Bildung von Mehrheitsmeinungen, für alle in gewissen Grenzen verbindlich zu machen, die einer bestimmten, beobachteten und dann auch disziplinierten (Recht, Strafen, Bürokratien usw.) Gemeinschaft angehören. In dieser Hinsicht sind Konstruktivisten keine Erfinder, sondern immer auch Entdecker ihrer Wirklichkeiten. Wir benötigen Rekonstruktionen, um uns zu orientieren. Aber wir wissen aus unserer Sicht, dass uns dafür der letzte, der universelle Maßstab fehlt. Und wir benötigen immer auch den Dekonstruktivisten in uns, der nicht nur die Chancen solcher Rekonstruktionen sieht, sondern auch ihre Gefahren beobachtet und analysiert.

Ist dies nicht ein Selbstwiderspruch? Sie wissen, dass Sie etwas nicht wissen. Also wissen Sie doch einen letzten Maßstab?

Wir wissen einen Maßstab. Es ist der Maßstab einer konstruktivistischen Verständigungsgemeinschaft. Oder es sind die Maßstäbe anderer Verständigungsgemeinschaften. Aber wir wissen nicht, ob es ein letzter ist. Wüssten wir dies, so wären wir in der „glücklichen“ Lage, Andere (zumindest theoretisch) zwingen zu können, so zu werden, wie wir schon sind (wenn wir wenigstens dies genau wüssten).
Aber wir wissen auch, dass Andere angeblich noch über diesen letzten Maßstab verfügen. Wird diese Behauptung damit schon zu einer Wahrheit, die die Wirklichkeit selbst abbildet? Dies verneine ich. Ich erlaube Ihnen als Frager und Beobachter daher, mein Wissen jederzeit zu bestreiten und mir eine letzte Geltung abzusprechen. Ich brauche sie nicht mehr. Ich brauche nur noch eine Geltung auf Zeit, für meine Art der Verständigung, die ich mit Ihnen im Dialog führen will. Ich halte diesen Dialog auch für besser als andere Verständigungen, weil er mir zur heutigen Lebenswelt zu passen scheint. Passt er auch zu Ihnen? Das haben Sie jeder für sich zu überprüfen.

Das ist aber ein großer Verlust! Ist das Ende der großen Entwürfe wirklich erreicht? Passen solche Entwürfe nicht besser zu den Hoffnungen der Menschen in der Gegenwart?

Ich sehe es als einen Gewinn. Was haben wir denn verloren? Es sind doch immer Gefangenschaften, die eine Verständigungsgemeinschaft ganz klar auf einen Maßstab, der vorgängig zu ihrer Entwicklung ist, festlegen wollen. In der Praxis der Lebenswelt klappt dies in der Regel über längere Zeiträume nicht. Dies belegt zumindest eine Beschäftigung mit allen universellen Weltkonzepten im 20. Jahrhundert. Dieser Beleg erscheint in den Kränkungsbewegungen, die ich daher als wichtig ansehe. Aber hier sind sich auch nur jene Wissenschaftler einig, die die Brüchigkeit von Fortschrittsmodellen anerkennen. Mehrfach habe ich mich z.B. von Habermas, Luhmann und anderen abgegrenzt. Aber hier gibt es auch Gemeinsamkeiten, die dort zu sehen sind, wo wir das Ende der Metaphysik, der Metaerzählungen, der großen Entwürfe je aus unserer Sicht akzentuiert begründen. Dennoch ist der Verlust nicht so dramatisch, wie es scheint. Sie können den Kritikern, auch den Konstruktivisten, nicht unterstellen, dass sie keine Normen mehr haben, keine (relativierte) Wahrheit mehr finden, sich gleichgültig gegen alles in der Welt verhalten, weil es – so bei den Konstruktivisten – ja ohnehin bloß eine Konstruktion von Wirklichkeit sei. Wir haben im Gegenteil in der Argumentation immer wieder gesehen, wie diese angeblich bloßen Konstruktionen als mächtige (symbolische, imaginäre, aber auch reale) Wirklichkeiten zirkulieren und uns in einen rekonstruktiven Rahmen von Lebenswelt setzen. Deshalb muss der Konstruktivismus sich als sozialer Konstruktivismus verstehen. Damit stelle ich eine Norm und eine relative Wahrheit auf. Aber sie ist nicht absolut in einem nicht mehr hintergehbaren Sinne – für alle Zeiten, für alle Menschen. Die konstruktivistische Theorie steht unter dem Eingeständnis und Vorbehalt, dass es zeitliche Veränderungen gibt und unterschiedliche Verständigungsgemeinschaften (bis hin zu wechselseitiger Unverständlichkeit) existieren. Der Konstruktivismus ist ein Kampfbegriff für eine Weltsicht, in der z.B. Beobachtervielfalt, Toleranz gegenüber der Andersartigkeit des Anderen, Erweiterung re/de/konstruktiver Kompetenzen eine große Rolle spielen. Aber die Einschränkung lautet: In den Interaktionen und Beziehungswirklichkeiten, in den Diskursen und Beobachtungen müssen diese Verständigungsgemeinschaften selbst erst herausfinden, ob und inwieweit diese Sicht zu ihnen passt und was sie damit re/de/konstruieren wollen und können. Sie erkennen an, dass Andere anders sein können. Sie verschleiern nicht die Macht, die sie denen gegenüber ausüben, deren Normen sie nicht teilen. Sie bemühen sich zumindest, den Eigensinn und die Berechnung, die dem eigenen, als passend erscheinenden Handeln zugrunde liegen, zu reflektieren und offen zu legen. Ein paradigmatisches Beispiel dafür ist für mich der Diskurs in der systemischen Therapie. Er zeigt eine Verständigungsgemeinschaft in der Bewegung, die als Basis den Konstruktivismus gut gebrauchen kann, um sich einen Hintergrund zu verschaffen, der die Freiheit der Bewegung legitimiert und die Bereitschaft für verändernde Lösungen stimuliert. Auch wenn hier oft die Lebenswelt ausgeblendet bleibt, so stehen Beziehungen und ein verändertes Beobachtungsmodell im Vordergrund, das eine wissende Zuschreibung des Beobachters, der seinen Maßstab immer schon im Kopf hat, in großen Teilen negiert, und zu einer höheren Bewertung der Akteure, der Beziehungsteilnehmer führt.

Die Rolle der Konstruktion wird im interaktionistischen Konstruktivismus betont. Aber wer kann denn heute tatsächlich noch die Welt radikal verändern?

Den Beobachtern erscheint sehr oft eine rekonstruktive Übermacht. Insoweit sind radikale Veränderungen von Lebenswelt immer auch in den Bedingungen der Möglichkeit einer subjektiv begrenzten Einflussnahme zu sehen. Andererseits zeigt gerade das 20. Jahrhundert am Beispiel von charismatischen Führern, wie heikel die Konstruktion neuer Wirklichkeiten ist. Die imaginäre Verdichtung, wie ich sie beschrieben habe, bildet einen oft irrational scheinenden Hintergrund für politische oder andere Bewegungen, in denen einzelne Subjekte, sofern sie Wünsche nach Anerkennung und Spiegelung breiter Massen ansprechen, eine hohe Wirksamkeit erreichen können. Dies wäre eine Antwort im großen Stil: Historisch gesehen haben wir gerade im 20. Jahrhundert radikale Veränderungen erfahren. Aber es gibt auch eine im kleinen Stil. Jedes Subjekt ist in der Lage, seine Wirklichkeiten radikal zu verändern, sofern es die Deutungen seiner Beobachtungen, Beziehungen und Lebenswelt verändert. Dies betrifft vorrangig jene Praktiken, die es selbst beherrscht und in denen es agiert, weniger die Routinen und Institutionen, die kulturell sehr fest tradiert werden. Sie sollten sich fragen, welche Teile ihrer Beobachtungen, Beziehungen und Lebenswelt wirklich fest und sicher sind. Sie werden sehr schnell bemerken, wie sehr schon kleine Veränderungen in diesen Beobachterbereichen von Ihnen (intuitiv) erfasst werden müssen, wenn Sie nicht den Anschluss verlieren wollen. Aber bleibt Ihnen dann nicht auch umgekehrt die Möglichkeit, für sich Veränderungen zu bewirken? Angesichts der Übermacht des Rekonstruktiven haben wir oft vergessen, dass wir im Lernen immer auch konstruktiv vorgehen müssen, um überhaupt etwas zu lernen.

Eine ironische Frage - was sind die größten Schwächen des interaktionistischen Konstruktivismus aus Ihrer Sicht?

Auch dieser Ansatz benutzt Ausschließungen, Vereinfachungen, Machtpositionen, um sich Beobachtern als eine passende Lösung anzubieten bzw. aufzudrängen. Damit sitzt er schon in der Falle, ein bestimmtes Lösungsmodell auszubilden, das andere Lösungen begrenzt. Es bleibt die Frage, inwieweit es tatsächlich gelingen kann, das bestimmte Lösungsmodell immer wieder so weit zu dekonstruieren, dass es im Fluss bleibt, dass es sich in den Bedürfnissen bestimmter Verständigungsgemeinschaften realisieren kann, ohne als stilles Abbild sich in diesen Gemeinschaften zu einer Norm auszubilden, die eine weitere Entwicklung und kreative Lösungen von wahrgenommenen oder wahrzunehmenden Problemen verhindert.

 

4. Subjektivismus oder Objektivismus? Zur Ethik im Konstruktivismus

Ich will mit meiner Frage zum Anfang Ihrer Argumentationen in Kapitel I zurückkehren. Wird nun der Beobachter oder die Beobachtung von Ihnen bevorzugt? Und welche Rolle spielt die Macht der vorgängigen gesellschaftlichen Beobachtungen, die den Beobachter immer schon sozial normieren? Ist die mögliche Freiheit des Beobachters als Erfinder (Konstrukteur) seiner Wirklichkeiten nicht bloß eine neue Illusion?

Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich ein wenig weiter ausholen, um das Verhältnis von Beobachter und Beobachtung kulturgeschichtlich zu situieren.
Die Welt erscheint als ein unerschöpflicher Beobachtungsvorrat mit unzähligen Beobachtern. Der Beobachtung selbst ist es gleichgültig, ob sie Dinge, Personen, Produktionen beobachtet; sie scheint immer über die Vermittlungsarbeit der Subjekte (der Beobachter) auf der Höhe ihrer Zeit. Freiheit und Autonomie des Subjekts sind Garanten einer freien Beobachtung, die aber im Zirkel ihrer Einbettungen in Beziehungen und Produktionen, die im Rahmen der Rekonstruktion einer Naturordnung, einer bewusstseinsabhängigen, teilweise aber auch einer überraschend real erscheinenden Welt, Begrenzungen, Ein- und Ausgrenzungen beinhalten, die die Freiheit selbst in einen Zirkel von Konstruktion und Rekonstruktion führen. Heidegger hat dieses Dilemma subjektiver oder objektiver Einbettung unseres Daseins besonders interessiert. Dort, wo in seinem Frühwerk die Mächtigkeit des Subjekts erscheint, relativiert es sich im Spätwerk durch die Objektivation des Seins, dessen Anwesenheit von uns zwar transzendiert, aber niemals beseitigt oder auch nur marginal geändert werden kann. Zwischen diesen Positionen schwanken wir als Beobachter bis heute gern. So konnte Marx sagen, dass Feuerbach vergessen habe, dass die Erzieher bereits Erzogene sind, so war es folgerichtig von Norbert Elias, keinen Anfang eines Zivilisationsprozesses anzugeben, um so nicht auf den Mythos eines „Am Anfang war das Wort“ zurückzufallen, um auch nicht jenes bestimmte Wort oder jene Formel zu suchen, die die Welt als Ganzes einfängt, um unsere Beobachtungsleistungen zu beruhigen und uns die Angst vor der Zukunft zu nehmen, um uns z.B. über den Tod, einer ontogenetischen Gewissheit und mithin großen Angst, zu trösten. Gerade die Todesfantasien haben jene Projektionen begünstigt, die heute oft der Wissenschaft – bewusst oder unbewusst – analog gesetzt werden. Der Mensch suchte feste Territorien zu besetzen, die ein für alle Mal erklären, was es mit dem Leben auf sich hat, die sein Verhältnis zur Welt definieren, die schließlich diese erschlossenen Territorien in der Zeit selbst verwalten und hüten. In ihnen wird Wissen und Wahrheit aufbewahrt, aufgebahrt. Die abendländische Idee von Universität baut sich auf solcher Konstruktion auf und weckt hierin die Hoffnung auf Übersicht, die bei näherem Zuschauen im Prozess ihrer Selbstbewusstwerdung heute jedoch in Unübersichtlichkeit zerfällt. Deshalb erscheint die Welt als ein unerschöpflicher und damit unendlicher Beobachtungsvorrat. Lässt sich der Mensch auf diese Unendlichkeit ein, so ahnt er schnell jene Unmöglichkeit, die das Unendliche selbst auferlegt: Im Hier und Jetzt, mit den Möglichkeiten je vereinfachender sprachlicher oder anderer Bezüge, wird dieses unendliche Gebilde wenig erfassbar sein. Menschliche Beobachtungen und Aufzeichnungen suchten auf unterschiedlichsten Wegen, mit diesem Widerspruch fertig zu werden. Einer der Wege, den wir aus heutiger Beobachtung als naiv bezeichnen, suchte überall in der Welt nach jenen Dämonen und Geistern, die das Unendliche jeweils in sich verkörpern und die Abfolge der Dinge, der den Menschen äußerlichen wie inneren, bestimmen. Aus heutiger Sicht erscheint eine solche Selbstvergewisserung durch Projektion auf Geisterwelten als besonders unscharf, weil hier die Vernunft noch nicht zu sich selbst gekommen ist, weil sie durch bloße Entäußerung und Zuschreibung auf ihre Umgebung und sich selbst, durch den Wechsel- und Spielkreis von bloßer Behauptung und Rückwirkung dieser Behauptung auf das Alltagsleben – gebannt durch den Formenkreis der Rituale und inspiriert durch den errichteten Mythos –, sich selbst betrügt. Verlassen wir diesen Bestimmungskreis, so sind wir allerdings um die Sicherheit des Weltbildes und seiner natürlichen Erfahrung (eine solche ist aus meiner Sicht ein Konstrukt) betrogen. Wir haben nur den Lustgewinn, es als Konstrukt zu durchschauen, wir fühlen uns nur besser, wenn wir nicht der Durchschaute, sondern der vermeintlich Durchschauende sind. In Zukunft aber werden auch wir immer der von Anderen Durchschaute sein. Deshalb ist der reflektierte Beobachter der Post/Moderne mit der Kritik des Ethnozentrismus alleiniger bürgerlicher Vernunft auch vorsichtiger geworden: Kann man doch nie ausschließen, dass man später der beobachtete Naive ist, denn wie unscharf die Konstruktion von Wissen des Subjekts Mensch im allgemeinen ist, zeigt sich, wenn er seine Bilder und vor allem seine Sprache wie ein Netz auf seine Umwelt und seine In-Welt auswirft, um sich Klarheit über die Unerschöpflichkeit seiner Beobachtungsvorräte zu verschaffen. Für die biologische Spezies Mensch ist die damit angedrohte Unendlichkeit nämlich kein lebbares Fluidum, auch wenn ihn sein Bewusstsein dazu verführt, sich jenes Fluidum imaginieren zu können. Die historische mehr als die evolutive Geschichte des Menschen, also die Geschichte der Entwicklung seiner Zivilisation mehr als die biologische Mutation und Selektion, zeigen einen scheinbaren Siegeszug über die Unschärfe durch deutliche Grenzziehung: Fixierung der je geistigen Ordnung durch Festlegung von Mustern, Strukturen und notwendigen Inhalten des Bewusstseins auf je erreichter historischer Ordnungsstufe; Bestimmung der menschlichen Beziehungen durch Formen sozialer Organisation als Ausdruck sozialer und kultureller Epochen; Umsetzung dieser Ordnungen in je gegenwärtige und tradierbare Produktionen, d.h. Vergegenständlichung und ideelle wie materielle Festschreibung der Schärfe der Auseinandersetzung mit der Umwelt und sich selbst durch überdauernde Konstruktionen; Fixierung ethischer und moralischer Zwänge, um ein symbolisches Muster wechselseitigen Verhaltens als Selbst- und Fremdbeobachtung und -zurechnung zu erzeugen. Alle vier Gesichtspunkte sind bloße Unterscheidungen eines Prozesses, als Unterscheidungen hilfreich, aber immer wieder im Zirkel ihres Wirkens zusammen zu denken.
Damit sind wir – ausgehend von der Unschärfe menschlicher Beobachtungen – bereits an die Kehrseite, die psychische Abwehr der Unschärfe durch die Schärfe menschlicher Handlungen geraten. Dies hat über lange Zeit die Unschärfe vergessen lassen, indem die Schärfe der Auseinandersetzung Menschen dazu verführte, ihre eigenen Beobachtungen anthropozentristisch als Wahrheit an sich zu formulieren, um die Unzumutbarkeit des Unendlichen sich abzuwehren. Es gibt in der menschlichen Wissensgeschichte viele Positionen, die diesen Gegensatz mit großer Skepsis beobachteten, die Auswege aus dem Dilemma von Selbstkonstruktion (der Mensch als Maß aller Dinge, wie es Protagoras formulierte) und „wahrer“ Ordnung der Welt – auch der menschlichen – durch sichere Vorgaben (von der Suche nach Urbildern bei Platon bis hin zu Behauptungen einer eingeborenen menschlichen Natur oder eines sich selbst eingebildeten und damit selbstbewussten Ich) suchten. Neben der philosophischen Abarbeitung des Unschärfeproblems durch die ständige Neubildung von Wahrheitstheorien können insbesondere soziologische Beschreibungen der großen Weltreligionen, wie sie von Max Weber ihren Ausgang nehmen, uns helfen, den Selbstreflexionsprozess menschlicher Vernunft bis hin zu seinem heutigen Stand zu verfolgen, der in die Einsicht mündet, die Konstituierung von Wahrheit auch als Abwehr jener Unendlichkeit zu begreifen, um Motive des Begehrens der eigenen Gattung und innerhalb dieser individuelles Begehren und egoistische Interessen von Klassen, Schichten, Gruppen und Individuen auszumachen. Hinter diesen Begriffen stecken jeweils unterschiedliche Theoriekonstruktionen, die uns Wirklichkeiten unterschiedlicher Art erzeugen helfen. Vereinfachend kann für solche Interessenlagen behauptet werden, dass Wahrheit nunmehr der intersubjektive Diskurs dessen ist, was mittels jeweiliger Konvention für wahr gehalten wird. Nach der Dekonstruktion der Wahrheit „da draußen“ scheint es keine andere Wahl mehr zu geben. So verwandelt sich die Unschärfe (im Blick auf die Wahl der Beobachtungen) in die Schärfe der schon gewählten und mit Gewalt verteidigten oder eroberten Subjekte und Objekte, die im historischen Prozess ausgemacht und bis in die Gegenwart hinein innerhalb der intersubjektiven Sphären beobachtet werden können.
Aber dies ist nur eine Seite der Unschärfe, die an ihrer Voraussetzung, der Wahl des zu Beobachtenden ansetzt. Sie wird leicht vergessen, wenn man erst einmal in den Prozess der Bestimmungen eingetreten ist. In diesem Prozess macht sie sich ebenfalls – nun an den Gegenständen selbst – geltend: Das beobachtende Bewusstsein sucht sich in seinen eingegrenzten, ausgemachten Wahrheitsfragen näher zu bestimmen, es sucht sich jene Geister und Dämonen, jene Götter oder jenen Gott, jene Wissenschaft oder endlich gültige Erkenntnistheorie zu fixieren, um alle Unschärfe in einer Wahrheit zu begrenzen, die die Dinge so nimmt, wie sie tatsächlich sind. Wahre Beobachtung wäre dann jene, die sich gewiss sein kann über das, was ist.
Besonders Hegel hat uns in dieser Wahrheitssuche eindringlich erschüttert. Hegels „Phänomenologie des Geistes“ ist in seinem Abschnitt über das subjektive Bewusstsein eine abstrahierte Nachzeichnung der Unmöglichkeit des Versuches selbst. Auch die von mir unterschiedenen drei Seiten der Beobachtung finden sich bereits bei Hegel, wenn er die beobachtende, tätige und produzierende Vernunft unterscheidet. Allerdings wird damit meine Argumentation nicht hegelianisch, da mein Ziel eben gerade nicht die Versöhnung des aufbrechenden Gegensatzes, sondern der Nachweis einer Unversöhnbarkeit ist. Wenn nämlich ein Beobachter sich der inneren oder äußeren Natur zuwendet, dann soll das, was er wahrnimmt, die Bedeutung eines Allgemeinen haben, eine gewisse universelle Gültigkeit beanspruchen. Aber menschlich betrachtet kann er in der Auseinandersetzung mit Anderen, im inhaltlichen Diskurs nur vermittelt über Begriffe diese Allgemeinheit ausdrücken, so dass das Allgemeine gar nicht mehr die Natur oder das Ding selbst darstellt, sondern eine Differenz in sich einschließt: Die Geschiedenheit von Ding und Wissen. Solche Geschiedenheit ist eine wesentliche Unschärfe, die die menschliche Vernunft mit unterschiedlichsten Versuchen zu bekämpfen trachtet:

  • In induktiven Schlüssen wird ein empirisches Sinnkriterium aufgerichtet, das die Allgemeingültigkeit an Intersubjektivität, Wiederholbarkeit, Eindeutigkeit oder weiter spezifizierte Kriterien bindet, um sich positive Erkenntnis festzuhalten oder negative, als falsch entlarvte, auszuschließen. Solche Erkenntniskonstruktionen leben von Analogieschlüssen, um den Riss zwischen Gegenstand und Bewusstsein zu überbrücken. Sie variieren unzählig. In der Geschichte der Wissenschaftstheorie, z.B. vom Positivismus, logischen Empirismus bis hin zum Erlanger Konstruktivismus, wurde Wahrheit immer deutlicher zur Wahrscheinlichkeit. Insoweit ist der Kampf des gegenwärtigen Konstruktivismus um die Relativität der Wahrheit, um die Aufgabe des absoluten Standpunktes der Wahrheit nicht neu, sondern durch die Geschichte der Erkenntniskritik bereits vorgezeichnet.
  • In deduktiven Schlüssen wird ein je erreichter und nicht mehr hinterfragter Stand logischen Schließens vorausgesetzt, was aus pragmatischen Gründen der Wirklichkeitskonstruktion und -erfahrung unvermeidbar, aus kritischen Gründen der Hinterfragung von Legitimation der Wahrheit aber äußerst problematisch ist. Eine höchste Deduktionsfigur war lange Zeit Gott und die auf ihn projizierte Ratgeberliteratur, die durch vorgängige historische Existenz bereits Bürge genug für Wahrheit des Glaubens war und somit handlungsanleitend praktiziert werden konnte und kann. Gleiche Mechanismen prägten sich, besonders gefördert durch die Vorgängigkeit des christlichen Modells, in den Wissenschaften aus, die auf der Basis der Standardisierung ihrer Zwecke und Verfahren in eine Art deduktive Selbstreferenz geraten. So vor allem nach Max Webers „Protestantischer Ethik“ (1963) oder modifiziert nach Benjamin Nelsons Auffassung über den „Ursprung der Moderne“ (1986); beide Autoren zeigen Zusammenhänge zwischen Zivilisationsentwicklung und den “Ethiken des Denkens” auf, mithin Voraussetzungen, die besonders für deduktive Schlüsse und Erfolge der westlichen Welt stehen. In der Politik ist ein solches Verfahren längst üblich geworden, da das jeweilige Interesse in seiner Legitimationssuche irgendwann ohnehin abbrechen muss, um sich als Siegertyp gegenüber anderen zu behaupten. Solche Selbstreferenz zu hinterfragen, muss dem Konstruktivismus besonders wichtig sein. Aber er kann diese Hinterfragung nur dann sinnvoll betreiben, wenn er bisherige Abarbeitungsversuche der Philosophie und der kritischen Gesellschaftstheorie mit einbezieht. Innovation gegenüber solcher Selbstreferenz ist schwieriger, als es die auf Innovation pochenden Wissenschaften den außenstehenden Beobachter erahnen lassen. Die Wissenschaften errichten, wie Kuhn (1976) es ausdrückte, Paradigmen, deren Sturz nicht nur theoretisch, sondern immer auch durch personelle, menschliche Verstrickung verhindert wird. Für die Universitäten oder Forschungslabore bedeutet dies sehr oft, dass erst der Tod der leitenden Figuren Räume für neue Paradigmen schafft.

Damit werden verantwortliche, ethische Anforderungen an eine Beobachtertheorie gestellt, die einerseits die Bewegungen der Unschärfe bedenkt, andererseits an Traditionen anknüpft, die den selbstreflexiven Diskurs über Wissenschaft an jene Stellen führt, die die Schärfe der historischen Auseinandersetzungen darstellt und analysiert. Bisherige konstruktivistische Darstellungen verweigern bisher hierzu oft den Zugang, weil sie die Frage nicht beantworten, wieso eigentlich heute der Konstruktivismus mehr als andere Theorien, an genau dieser erreichten Zeit- und Raumstelle im historischen Prozess auftritt. Immerhin bemühen sich Heinz von Foerster und Ernst von Glasersfeld um Anschlüsse an philosophische Diskurse, die das Entstehungsfeld plausibel machen sollen. Eine gesellschaftskritische Sicht jedoch bleibt überwiegend ausgeblendet, weil der Ansatz subjektivistisch übertrieben und interaktionistisch verkürzt wird. Zwar geben Konstruktivisten gerne biologische, kybernetische und weitere fachspezifische Gründe für den Vorrang ihrer Sichtweise an, aber im Blick auf historisch-gesellschaftliche und ethische Vorgänge verbleiben sie notgedrungen im Allgemeinen, indem die eigene Beobachtungstheorie oft aus dem engen Blick naturwissenschaftlicher Begründung universalisiert wird und man alles weitere auf sich zukommen lässt. Dies muss einer kritischen Gesellschaftstheorie, wie sie z.B. Habermas vertritt, zurecht als technologisch-einseitig erscheinen, als Reduktion der Historie auf Gegenwart, des Entdeckens auf Erfindung, gesellschaftlicher Widersprüche auf Passung – An-passung? –, als Postulierung des Kriteriums der Nützlichkeit, ohne je die gesellschaftliche Bedeutsamkeit des Nutzens (für wen?) kritisch hinterfragt zu haben – oder bedeutender noch: Kriterien bereitzustellen, die solche Hinterfragung überhaupt erst ermöglichen können.

Wenn die Beobachtungsvorräte unerschöpflich sind, wenn es zugleich sehr viele Beobachter gibt, wie soll dann noch sinnvoll begründend gehandelt werden? Ist alles Chaos?

Ich will Ihnen mit einigen Sätzen antworten, die die Widersprüchlichkeit in unseren Beobachtungen markieren helfen. Es hängt nämlich ausschließlich vom Primat der Perspektivität ab, welche Bedeutung für uns in den Vordergrund rücken kann. Stellt man unterschiedliche Perspektiven ohne den jeweiligen engeren Kontext nebeneinander, dann entstehen Paradoxien:
„Die Beobachtungsvorräte sind unendlich. Die Weltvorräte sind begrenzt.“
„Die Beobachter sind unendlich. Die Beobachtungen sind begrenzt.“
„Ereignisse sind singulär und unendlich. Geschichte ist begrenzt.“
Alle Sätze lassen sich umkehren. Sie falten sich so unterschiedlich, wie die Perspektiven dazu auffordern, neue Brüche, Schnittkanten und damit Ausschließungen, Weglassungen oder Vereinnahmungen festzulegen, durchzusetzen. Dabei ist es die Illusion, dass alle Vorräte, Beobachter und Ereignisse nach- oder nebeneinander gedacht werden könnten, was schon eine Faltung darstellt: Reduktion auf einen Ablauf, eine Sicht, eine Perspektive und Projektion, eine Konstruktion auf Übersicht und Ordnung hin. Hinter der Illusion steht die Durchquerung, die die Aussagen ebenso wie die Blicke überrascht und die in ihrer Zirkularität sich immer wieder in ein Nach und Neben auflöst, hinter dem wir die Durchquerung ahnen. Je unschärfer wir unsere Erkenntnis und unser Denken im Prozess seiner Selbstbewusstwerdung bestimmen, desto durchquerter falten sich die möglichen Perspektiven des Beobachters. Die Multiplikation der Beobachter erzwingt eine Kommunikation, die – um Informationen verfügbar zu machen und zu halten – Konstrukte der Beobachtung entwirft, mit denen sich die multiplizierenden und multiplizierten Beobachter austauschen und die sie ein- und ausschließend vereinnahmen und durchqueren: Beobachtungen als Konstrukte. In diesen atmet die soziale Welt, es pulsiert der interaktiv-soziale Körper, der zwischen den Bauwerken und Ruinen, den Archiven und Landschaften der vermittelten Welt seine Kräfte probiert. Es keimt eine Welt der gleichzeitigen Ungleichzeitigkeit. Waren die Menschen in den frühen Horden ihres Zusammenlebens noch darauf bedacht, die Zeit gleichzustellen, um sich an die Rhythmen der Natur, ihrer Körper, ihres sozialen Kosmos anzugleichen und darin variantenreich eine Wiederkehr des Gleichen zu erleben, so führte der Einschnitt der materiellen Reproduktion nach den Kreisläufen einer Sorge um das Selbst, dem Wagnis der Individualisierung mit seinen Freiheitsformen, zur Eigenzeit gegen die Zeit, zu Durchquerungen besonderer Art, die aus dem Nach und dem Neben in der einen Welt hinaustreten und das unmöglich zu Denkende möglich werden ließen: Die Beobachtungen fallen aus der Intention der Gleichzeitigkeit in das Ereignis, die Singularität, zurück.
Dies ist das Paradox, das wir als so etwas wie einen Einschnitt in das Denken der Moderne auffassen können: Eine Postmoderne deutet sich von hier aus an. Aber ist sie eine Erfindung eines Nach? Ist sie nicht vielmehr Ansatz einer erneuten Durchquerung, die sich aus der vereinfachten Perspektive des Neben und Nach löst?
Frühe menschliche Kulturen benötigen weniger als die sogenannte Zivilisation ein Neben und Nach, um sich zu definieren. Sie sind für uns deshalb vermeintlich irrational. Sie sind durchquert von den Imaginationen der sozialen Beziehungen, die ungeschieden den eigenen wie den sozialen Körper durchdringen, ohne damit als Beobachterkonstrukt aber besser oder schlechter als andere Durchquerungen zu sein. Sie sind anders. Sie sind, wenn wir in einem Bild sprechen wollen, die andere Seite des Pendelausschlags, der unserer Post/Moderne gegenübersteht, der Schlag zur anderen Seite, der jedoch dann, wenn das Pendel sein Maximum auf der Seite der Post/Moderne erreicht hat, scheinbar unvermeidlich zurückkehrt. Je höher die abstrakten Formen von Rationalität, wie sie die Post/Moderne entfaltet, desto dringender wird bei vielen Menschen der Wunsch nach der Irrationalität, einem new age. So scheint das Pendel hin und her zu schlagen.
Was aber ist die Aufhängung dieses Pendels? Wer stößt es an? Seit Gott tot ist, weil er als konstruiertes Wesen identifiziert werden konnte, zerfällt ein solches Bild in den Staub einer Selbstironie: Es sind die Bilder, die wir zu sehen wünschen, wenn wir Durchquerungen verstehen wollen. Jeder Maler trägt seine Schichten auf Leinwände auf, jeder Dichter auf Papier, sie entfalten, lassen die Imaginationen gleiten, um sie in Symbolen zu fixieren und als Realität zu beschreiben. Realität verwandelt sich so in Beobachtungen, Beobachter garantieren erst ihre Existenz. So wird das Pendel nur durch Zirkularität eines sich beobachtend beobachtenden Beobachters zur Metapher: Er wechselt die Beobachterpositionen und sieht sich einmal an den Enden des ausschlagenden Pendels, die zuschlagende Gewalt und Kraft gegen sich, dann wieder sieht er aus der Ferne nah, wie diese Gestalt eine Durchquerung durch die Geschichte überhaupt bebildert, um im nächsten Augenblick sich selbst als Knoten zu erkennen, der das Pendel am Punkt seines Schwingens zusammenhält. Die Metapher selbst wird zu einem unerschöpflichen Beobachtungsvorrat. Aber die Praktiken des Beobachtens sind in den Zeitaltern, im Leben der Menschen, begrenzt durch Raum und Zeit, die sie durchqueren und durch die sie durchquert sind. Konformität, Sinn, Normen, Moral und Institutionen ebenso wie Rituale, Mythen und Wissen durchqueren sie und sind von ihnen durchquert: bevölkert und belebt. Nachdem Nietzsche den entscheidenden Anstoß gegeben hatte, dieses sich ewig weiter drehende Rad in den Blick zu nehmen, erscheint die Metapher der Ungleichzeitigkeit, die sich gegen die Illusionen des Gleichzeitigen, gegen eine universalisierte Historie ebenso wie gegen die Dogmen jeglicher Wahrheit als universelles Abbild von Welt stellen: Die Ereignisse holen immer wieder die Wünsche ein.
Aber ist die Singularität der Ereignisse erträglich? Ein glücklicher Positivismus der Menschheit holt Gott immer wieder zurück. Seine Gestalt ist wandelbar. Er müsste nur das Ereignis aus seiner Singularität befreien und uns die Sicherheit eines geordneten Nacheinander und eines klaren Nebeneinander wiedergeben. Aber was würden wir erhalten? Am deutlichsten sehen wir dies, wenn die Welt geordnet, hierarchisiert und ritualisiert wird. Ein glücklicher Positivismus muss das Denken in Ereignissen verbieten. Seine Hauptaufgabe besteht darin, die Ungleichzeitigkeit zu verbieten. Denn in dieser trifft er sein Paradox in der Gegenwart: Dort, wo die einen die Konsequenzen der Ereignishaftigkeit denken, erzwingen die anderen z.B. über ihre Religionen, über ihren Willen der Wahrheit und den Zwang ihres Wissens die Denkverbote, Ausschließungen, Unfreiheit. Sie kämpfen gegen satanische Verse, Versuchungen des Teufels und Hexen und Dämonen, die schon seit jeher die Weltreligionen beunruhigen; sie streiten um das richtige Abbild, die zugelassene wahre Theorie und für die einzig gültige Aussage, die, wie es Nietzsche ausdrückte, dem denkenden Menschen in ein Lachen, in seine Lächerlichkeit zerfällt. Wollten wir dies, dann müssten wir unsere Mündigkeit, die wir schwer erkämpft haben, wieder aufgeben.

Was für eine Gegenposition bleibt? Brauchen wir nicht eine spezifisch konstruktivistische Ethik?

Wollen wir die Mündigkeit erhalten und dennoch eine gewisse Sicherheit konstruieren, dann können wir nur eine Ethik bilden, die im möglichst wechselseitigen Konsens uns auf menschliche Werte festlegt, die für alle gelten sollten. Die Menschenrechte sind ein solcher ethischer Versuch in den hegemonialen Kämpfen der jüngeren Zeit. Sie sind nicht nur Hoffnung auf ein positives Miteinander, sondern stets auch Begrenzung und Machtanspruch, der dann praktisch durchgeführt werden muss. Auf dem Papier steht heute viel, was in der Realität dann doch wieder in Ungerechtigkeiten zerfällt.
Aber ich will die Frage auch im Blick auf den Konstruktivismus zu beantworten versuchen. Wenn ich als Subjekt mir die drei Dimensionen meiner Beobachtung verdeutliche, mich also unterscheide nach den konstruierten Seiten der Beobachtung im allgemeinen (Gegenstände, Personen, mich selbst), nach Beziehungen, in denen besonders meine Psychologik gefragt ist, schließlich nach jenem Bereich von Lebenswelt, von Werken, von Hinterlassenschaften und strukturellen Gewalten, die mir schon konstruiert sind, dann ist dies bereits auch ein ethischer Anspruch. Worin besteht er? Es ist ein Wille vorhanden, mehrere Perspektiven einzunehmen. Aber ich bin als Beobachter zugleich unsicher über mein Vermögen. Realität ist mir zerronnen, wo es nach dem konstruktiven Aufbau meiner kognitiven Intelligenz noch so schien, als könnte ich eindeutig Erkanntes und Erkennendes unterscheiden, dass ich eindeutig wissen könnte, was wahr und wirklich ist. Nunmehr hat sich meine Wirklichkeit verdreifacht, und ich vermute mit einiger Skepsis, dass es hierin noch mehr Unterscheidungen, die Unterschiede machen, geben kann. In den Realitätszirkeln, und dies ist ein ethisches Eingeständnis an die Andersartigkeit von Anderen, muss ich ohne Anfang und Ende auf- und absteigen, weil ich mich und andere Menschen als Konstrukteur anerkannt habe. Nun gibt es ethische Folgegeständnisse: Gott ist mir z.B. ein schmerzlicher Verlust, denn er hatte die Welt nach „seinem“ Maß geordnet. Die traditionelle Wissenschaft ist mir ein weiterer Verlust, denn sie hatte die Wahrheit wissen wollen, und die Realität ist ihr dabei zu einer vielgestaltigen Hydra geworden. Ich selbst bin mir meiner Objektkonstanz aus den Kindertagen unsicher, weil es im verflüssigenden Hin und Her in den Zirkeln der Realität nicht ausbleibt, die Dinge und Personen zu verrücken, also auch selbst ver/rückt zu werden. Diese Ein-Sichten implizieren auch eine veränderte Ethik.

Eine konstruktivistische Ethik kann dann also nicht wie die Diskursethik nach Apel oder Habermas mit normativen Prinzipien wie Gerechtigkeit, Solidarität und Mitverantwortung auftreten?

Im Rahmen der gegenwärtigen Verständigungsgemeinschaften sind solche ethischen Werte, an die sich ihrerseits – denken wir nur an die Gerechtigkeit und die widerstreitenden Theorien hierüber – plurale, widerstreitende Diskurse und Handlungen knüpfen, wesentlich geworden, um überhaupt noch Sinnorientierungen zu geben. Was den Konstruktivismus von der Diskursethik nach Apel oder Habermas unterscheidet, dass ist die Begründungsreichweite der ethisch-normativen Setzungen. Konstruktivisten sehen alle Sinnorientierungen als Konstrukte von Verständigungsgemeinschaften an. Dies deckt sich teilweise mit der Diskursethik. Auch in dieser wird die Ethik ja keinesfalls mehr als bloß utilitaristischer Anspruch an ein möglichst gutes Leben entfaltet. Es wird auch nicht eine vorgängig zu den historischen Praktiken existierende Sittlichkeit proklamiert. Aber dann gibt es doch große Probleme der Diskursethik, die vor allem die Beziehungsseite aus ihren Reflexionen ausklammert, die den Affekten und dem Imaginären keine begründende Rolle zukommen lassen will. Hier schaut der interaktionistische Konstruktivismus anders. Er sieht im Gegensatz zur Diskursethik nicht nur Probleme kollektiver Verantwortung gegenüber kollektiven Aktivitäten, für die wir noch einen gemeinsamen Maßstab bilden können, sondern sieht die Gemeinsamkeit des Maßstabes von vornherein durch die spezifische Art der Wahrnehmung und Durchführung dieser Aktivitäten gefährdet. Das Imaginäre zeigte sich uns als eine Kommunikationsform, die auch in letzten formalen Prozeduren nicht in ein symbolisches Miteinander aufgeht. In den Aktivitäten der Menschen betone ich mit Foucault und Bourdieu stärker als die Diskursethik die Machtfrage, die auch ein letztes Gerechtigkeits-, Solidaritäts- und Mitverantwortungsmodell einklammert und durchquert. Deshalb gebe ich eine universalistische  Letztbegründung ethischer Normen auf. Aber damit verschwinden Normen nicht. Und auch die Ethik bleibt für den Konstruktivismus als Problem, z.B.

  • als historisches, denn wir befinden uns immer in unseren Lebenswelten auch in bestimmten zeitlichen Ethik-Räumen;
  • als relatives, denn wir haben im Mit- und Gegeneinander von Verständigungsgemeinschaften es immer auch mit einem Aushandeln von ethischen Geltungen als Aufweichung absoluter Ansprüche zu tun; 
  • als lokal-partikulares, denn wir haben die eine Sicht auf Welt oder auf eine Prozedur von richtiger Weltherstellung verloren;
  • als kommunikatives, denn wir müssen die unterschiedlichen ethischen Ansprüche überhaupt zu verstehen versuchen, um sie zu bemerken und mit ihnen umzugehen;
  • als machtbezogenes, denn wir werden nicht alle Ethiken teilen und die unterstützten und zu bekämpfenden in Verständigungsgemeinschaften festlegen.

Dann können und sollen auch Konstruktivisten ethische Normen vertreten?

Gregory Bateson hat auf eine wesentliche Wurzel solch ethischer Normen hingewiesen. Die Konstrukte, mit denen der Mensch seine Realitätszirkel unterscheidet und die sich in Ideen verkörpern, erzwingen eine konsensuelle Entwicklung zwischen Menschen, eine Verallgemeinerung, für die unterschiedliche Worte gefunden wurden. Eines dieser Worte ist Geist. Bateson interessiert sich insbesondere für die Ökologie des Geistes. Wenn nämlich die Idee als Konstrukt von Subjekten in einer und auf eine Umwelt wirkt, dann wirkt sie in dieser Zirkularität auch auf den Geist selbst zurück. Verbleiben wir in der bloßen Beobachtungswirklichkeit im engeren Sinne, dann können wir leicht einen Fehler in dieser Konstruktion begehen, der darin wurzelt, dass wir die Breite des Blickfeldes verlieren. Eben darum habe ich mindestens drei Wirklichkeitszirkel unterschieden. Bateson differenziert uns diese weiter und fügt sinnvollerweise eine ökologische Realität hinzu. In ihr landen die Produkte, derer wir überdrüssig sind, die wir nicht beherrschen, die wir unüberlegt, vielleicht auch nicht überlegbar, herstellen. So aber entstehen Irrtümer, die durch Vereinseitigung der Blicke erzwungen sind: „Man gelangt zu dem Ergebnis, Spezies versus die anderen Spezies um sie herum oder versus die Umwelt, in der sie wirkt. Mensch gegen Natur. Das Ende ist dann in der Tat, dass die Kaneohe Bay verschmutzt ist, der Erisee eine schleimige grüne Scheiße, und die Forderung: ‚Bauen wir größere Atombomben, um die nächsten Nachbarn auszurotten.‘ Es gibt eine Ökologie schlechter Ideen, genau so wie es eine Ökologie des Unkrauts gibt, und es ist charakteristisch für das System, dass sich grundlegende Irrtümer fortpflanzen. Sie verzweigen sich wie eingewurzelte Parasiten durch die Gewebe des Lebens, und alles gerät in einen ganz besonderen Schlamassel. Engt man seine Erkenntnistheorie ein und handelt nach der Maxime ‚Was mich interessiert, das bin ich, meine Organisation, meine Spezies‘, dann schneidet man die Erwägung anderer Schleifen in der Schleifenstruktur ab. Man entscheidet, dass man die Nebenprodukte des menschlichen Lebens loswerden will, und dass der Erisee ein guter Platz sei, um sie abzuladen. Man vergisst, dass das öko-geistige System, das man Erisee nennt, Teil unseres eigenen öko-geistigen Systems ist – und dass, treibt man den Erisee in den Wahnsinn, sein Wahnsinn in das größere System unseres eigenen Denkens und Erfahrens eingegliedert wird.“ (Bateson 1985, 621)
Was Bateson Schleifen nennt, das sind für mich die Zirkel, die ich im Fokus auf die re/de/konstruierten Realitäten durchschreite. Der Wahnsinn liegt allein bei uns, denn ein See wird in uns wahnsinnig, wir spüren es, wir fühlen es, wenn wir die Beobachtungsperspektive wechseln. Um solchen Wahnsinn zu minimieren, müssen wir diesen Wechsel öfter praktizieren, als es uns bisher lieb ist. Dies ist ein ethischer Anspruch, den Konstruktivisten vehement stellen sollten. Denn die Spezialisierung des Wissens hat dazu geführt, dass sowohl die Beobachtungswirklichkeit in sich sehr differenziert als auch von der vermeintlich unwissenschaftlicheren Beziehungswirklichkeit abgetrennt gedacht wird, und dass die Produktionsrealität kaum in eigener Mächtigkeit den kritischen Blicken aller geöffnet wird, sondern in den Partikularitäten spezialisierter Fächer versinkt – also im Nebel der hoch differenzierten Beobachtungswirklichkeit wie ein Käfer erscheint, den man in seinen Bewegungen zu verstehen versucht und die nur der Fachmann deuten kann. Dabei sieht auch dieser ihn nur nach bestimmten Mustern und ohne tiefere Kenntnis des Sinns laufen. Verantwortlichkeit wird hier an unterschiedlichste Interessen geknüpft, so dass jener gemeinsame ökologische Geist, den wir benötigten, um den Erisee zu retten, konstruierter Wunsch, aber weniger konstruierbare Wirklichkeit im Sinne einer Umsetzung wird. Daraus entsteht der Schlamassel, den nicht nur der Erisee erleidet.

Also benötigen wir im Konstruktivismus vor allem kulturgeschichtliche Rekonstruktionen, um uns ethisch zu situieren?

Der kulturgeschichtliche Kontext kann von uns nicht übergangen werden. Konstrukte haben in diesem Kontext einen sehr unterschiedlichen Charakter, und dieser ist – unter sehr unterschiedlichen Namen – in der Erkenntnisgeschichte der Menschheit vielfältig und unterschiedlich ausgelegt worden. Das Resultat, das sich der Post/Moderne an der Schwelle zu ihrem Selbstzweifel ergibt, ist die Einsicht, dass Menschen auf der Basis natürlicher Grundlagen ihre Geschichte selbst produzieren, dass ihnen hierbei Wille, Bewusstheit und Freiheit zukommt, ohne dass sie sich jedoch damit willentlich, bewusst und frei im Einzelfall für etwas völlig Neues entscheiden könnten. Hier prallen Widersprüche aufeinander, die jedes neugeborene Subjekt in der Menschheit erfährt. Das Subjekt unterliegt nämlich in seiner Ontogenese nicht nur den biologischen Verpflichtungen der Phylogenese, sondern auch jenen Verpflichtungen, die in seiner Ontogenese durch die manifesten und latenten Konstrukte jener anderen, jener umwelt-, beziehungs-, produktions- und konsumtionserzeugenden menschlichen Kräfte gebildet worden sind und ständig weiter gebildet werden, die das einzelne Subjekt nahezu erschlagen und in Unübersichtlichkeit erblinden lassen, obwohl es doch eigentlich sehen lernen soll. Und es lernt, sein Sehen immer mehr an den Scheinwelten einer virtuellen Medienkultur aufzurichten. Hier wirkt eine Ekstase von Unterschieden, die Unterschiede machen. Deshalb benötigen wir rekonstruktive Analysen, denn durch sie können wir unsere oft vorgängige Situierung in den Wirklichkeiten erkennen.

Aber Ihre Beobachterbereiche geben keinen eindeutigen Maßstab für eine daraus abgeleitete Ethik mehr an. Gibt es denn überhaupt noch Bevorzugungen beim Fokus, den wir als Beobachter anlegen sollten?

Dies ist nicht ganz zutreffend. Die Beobachtungsbereiche stellen auch schon einen Maßstab dar. Er zwingt zu einem weiten Sehen, zumindest dazu, so zu sehen, wie wir es als Weite uns konstruiert denken. Dabei ist der Fokus im Auf- und Absteigen der Beobachtungsfelder, im Zirkulieren durch diese, wenn Beobachtungen, Imaginationen und Symbolisierungen Schleifen der Erinnerung oder sinnlichen Gewissheit ziehen, komplex und schwierig. Das Subjekt kann den Blick nach innen oder außen wenden, wobei es mitunter schwer zu unterscheiden ist, was an dem Inneren nun äußerlich oder eigen genannt werden kann oder umgekehrt, inwieweit das tatsächlich Äußerliche, z.B. eine geliebte Person, nicht bereits wieder nur innerlich gefühlt ist. Der Begriff Fokus bezeichnet für mich, in welche Blickrichtung, also innen oder außen, der Blick überhaupt geht; dann aber auch, welche Blickfelder er mit größerer Schärfe oder Unschärfe erfasst, wobei diese bildliche Analogie eine bloße Metapher für alle Möglichkeiten der bildlichen, sprachlichen, gefühlten Verarbeitungen darstellt. Es ist ja nie nur der Blick, der uns im Fokus (oder insgesamt: in einer „Ordnung der Blicke“) begegnet, aber in der Metapher des Blickes drückt sich sehr schön die Perspektive aus, mit der wir alles in unseren Beobachtungen ordnen. Solche Perspektive wohnt nicht nur dem Sehen und Hören, sondern auch dem Sprechen und Fühlen inne.
Nun will ich nochmals auf die Beobachterbereiche zu sprechen kommen. Sie geben uns nur topisch an, in welche beobachtete Wirklichkeit wir uns sehend und wissend begeben, und mit wie viel Unschärfe wir hier rechnen können. Es ist wie der Blick durch ein Teleskop, das immer dann, wenn es einen Bereich scharf in den Fokus nimmt, andere Bereiche, Ränder, unscharf werden oder übersehen lässt. Wir können es willentlich ausrichten. Aber wir müssen dabei auch noch erfahren, dass in bestimmten Beobachterbereichen durch die Nähe, den Zusammenhang, die Komplexität der Gegenstände eine Scharfstellung ohnehin problematisch ist, dass wir scharf eher die Oberflächen von Verhältnissen sehen. Dies gilt auch für die Beobachtungswirklichkeit im objektivierten Sinne, denn wenn unsere Einstellung fein genug gehalten wird, so wird auch sie unscharf werden. Aber hier ist unsere Entschuldigung leicht die, dass wir nur das zu sehen brauchen, was uns für ein vorgängiges Ziel Nutzen bringt. Solcher Nutzen schlägt dann, wenn er sich mit Produktionen verbindet, in Komplexität um, die wir, wenn wir es nicht durchschauten, auf einmal – scheinbar aus heiterem Himmel – gegen uns wirken sehen. Ein Paradebeispiel hierfür sind in neuerer Zeit die Atombombenversuche, die mit völliger Naivität und selbstzerstörerischer Absicht durchgeführt wurden und deren Rückwirkungen bis heute verdrängt werden, obwohl sie nunmehr auch für die Beobachtungswirklichkeit im engeren Sinne erreichbar und erforschbar sind. Die Euphorie bei den Versuchen in den 40er und 50er Jahren des 20. Jahrhunderts ist von heute aus kaum noch nachzuvollziehen. Aber werden zukünftige Generationen das nachvollziehen können, was wir zur Zeit produzieren?

Ich verbleibe noch im vorigen Absatz, in dem sie von den Perspektiven sprechen, in denen Beobachter je schon stecken. Was ist die Identität dieser Beobachter? Wer  schaut, spricht oder fühlt?

Wir haben uns angewöhnt, diesen Teil als Ich oder Selbst zu bezeichnen. Dieses Ich hat das willentliche, bewusste und freie Vermögen, den Fokus zu setzen. Nicht, dass es den Fokus überhaupt beseitigen könnte, aber es vermag die Perspektive, das Verweilen – also seine Zeit (Eigenzeit) –, als auch den gewählten Raum – also den Aufenthalt an einem Ort, bei Gegenständen und Personen – (mit) zu bestimmen. Ich klammere das Mit ein, weil es in der Beobachtungswirklichkeit öfter so scheinen mag, dass dieses Ich ganz einsam und allein, gleichsam autopoietisch und autonom zu sein vermag, was für die Beziehungs- und Lebenswelt von vornherein unmöglich zu denken und zu beobachten ist, weil dies Orte und Zeiten wechselwirkender, interaktiver Perspektiven sind. Hier bemerken wir die Stärke der Unterscheidung verschiedener Beobachtungszirkel: Sie zwingen uns nicht, die Beobachtungen in den Perspektiven der Anderen von vornherein als nichtig zu negieren, sondern sie helfen uns, zu fragen, in welchem Feld hier jemand etwas sieht. Und da wir die Felder nicht willkürlich, sondern aus der menschlichen Kulturgeschichte als Ebenen der Beobachtung ausgewählt haben, könnte dies einigen Erfolg bringen. Andererseits löst auch diese mögliche Unterscheidung das beobachtende Ich nicht aus seinem Dilemma eigener Konstruktion im Wechselspiel mit schon Konstruiertem heraus. Die Felder und Wirkungsweisen, wie ich sie vor allem im Kapitel III und IV entwickelt habe, sind keine ewigen Wahrheiten, sondern bloß hilfreiche Konstrukte. Ihre Beliebigkeit mag vielfach kritisiert werden, wenngleich der Kritiker aufgefordert bleibt, einen präziseren Versuch zu wagen. Bleibt der Fokus des Ichs im subjektiven Beobachtungsfeld, das allgemein alles nur aus seiner Sicht einschließt, so scheint seine Illusion eigener Freiheit zu groß – es unterliegt der Illusion der Moderne, frei alles für sich bestimmen zu können. Aber auch die Position, dass alles von außen schon bestimmt ist, also ein übertriebener Objektivismus und Determinismus, erscheint als wenig hilfreich. Insoweit wird derjenige, der im Fokus auf die Realität(en) kommt, sich zunächst eine Kränkung auferlegen müssen: Die Realität ist zerfallen in Bereiche, oder mit stärker visuellem Akzent, Felder der Beobachtung, die nur deshalb Felder sind, weil die eigene Schärfe des Blickes nicht hinreicht, alles auf einmal in den Blick zu nehmen. Weder das Schauen noch das Sprechen reichen hin. Vielleicht erahnen wir manchmal auf dem Gipfel von Gefühlen, wie zumindest Gegenstände und Beziehungen mit-ein-ander in Schwingung geraten können. Aber der wissenschaftliche Diskurs hierüber lässt die Ganzheit schnell verstummen, so dass allein die Aufforderung, sich in einen Zirkel des Beobachtens zu begeben, noch eine gewisse Garantie dafür sein kann, dass die Wissenschaft nicht in zu großer Vereinfachung geschieht. Mit ihr geraten wir dann in den Schlamassel, der den Erisee nicht mehr als Teil unserer Beziehungsrealität sehen kann, der den Erisee nicht mehr in uns sieht, sondern ihn als praktischen Ort der Müllentladung und Entsorgung funktionalisiert. Diejenigen, die den Müll dieser Welt so produzieren und beseitigen, mögen sich am anderen Tage dann darüber aufregen, dass die Werte dieser Welt immer mehr zerfallen, dass ihre Gewinne durch Kriminalität bedroht sind, weil ihr Blick ebenso wie der der Wissenschaft im Fokus partiell und im Ergebnis partikular bleibt.

Kann jedoch der zirkuläre Fokus überhaupt das Partielle aufheben, den Partikularismus in der Unübersichtlichkeit besiegen? Sie lehnen ja offensichtlich auch das eine, ganze Bild der Wirklichkeit, wie Sie eben sagten, als Vereinfachung ab.
                                  
Die Antwort ist kein Nein oder Ja, denn die Übergänge des Fokus sind nicht scharfkantig, sondern verschwimmen. Dies liegt an der Logik, die ich immer wieder erinnern muss: Jene Unschärfe des hoch aufgerichteten Ideals empirischer Nachprüfung, die je nach Weite und Tiefe der Perspektive zunehmend Ränder erzeugt und in graduellen Abstufungen den Blick verschwimmen lässt, wenn wir die engeren Labore unseres reduzierenden Bemühens und vereinfachter Sichtweisen verlassen. Die Zirkularität des Beobachtens ist damit als Notwendigkeit hervorgehoben, sie wird in der Organisation von Wissenschaft meist vorschnell ausgeschlossen, weil es auch sehr aufwendig ist, sie zu verfolgen. Die Beobachtungsräume sind institutionell vereinfacht, die Normen der Beobachtung meist auf eine Beobachtungswirklichkeit im engeren Sinne selbst reduziert und hierin oft noch auf die besondere Güte der Ergebnisse der exakten Naturwissenschaften begrenzt. Das Partikulare triumphiert, und es trifft sich hier sicherlich nicht zufällig mit den Partikularitäten der Waren in der kapitalistischen Gesellschaft. Der Fokus vorkapitalistischer Gesellschaften war anders, sofern die Natur hier noch umfassender aus den Bedürfnissen ganzheitlicher Erfahrungen und Ängste konstruiert und aus den Konstrukten projiziert und angeeignet werden konnte. Diese ganzheitliche Sicht erstaunt uns, wenn wir uns in sie hineinversetzen und damit die Beobachterperspektive wechseln. Wir haben sie verloren, und dies ist ein Verlust. Aber diesem stehen im Siegeszug des Materialismus zunächst überwiegend auch Gewinne gegenüber, die in den vergegenständlichten Formen übermächtig sind, weil sie von den Massen geschätzt werden, weil bisher keine Kultur der Welt den Materialismus der Partikularitäten hat aufhalten können oder wollen.

Und wo bleibt dann die konstruktivistische Freiheit?

Das Ich selbst kann den Fokus nicht nur durch seine Wahrnehmungsorgane (Sinne) beeinflussen, sondern über sein Staunen oder Erschrecken, über die Imaginationen der Tag- und Nachtträume, über die Symbolisierungen des Denkens erfahren. Für mich ist die Unterscheidung der Begriffe Reales, Imaginäres und Symbolisches sehr wichtig, um auf Unterschiede des konstruktiven Bewusstseins einzugehen: Das Reale lässt uns im Staunen oder Schreck z.B. erfahren, wo unsere bisherigen Re/Konstruktionen enden, was wir übersehen haben oder nicht sehen wollten. Das Imaginäre z.B. eröffnet uns auch Visionen, die einen Grundantrieb für alle Freiheitssuche sein mögen. Das Symbolische ist eine Re/Konstruktion von bewusster Wirklichkeit, die sich vor allem in bildlichen und sprachlichen Verankerungen und deren gefühlsmäßiger Einbindung sicher weiß. Solche Sicherheit gerinnt zu Symbolisierungsleistungen, die im Zirkel der Beobachtungen wie eine Art sich selbst erfüllender Prophezeiung immer wieder ihre Realitäten finden, auch wenn sie erstmalig aus Erfahrungen mit einer Realität ableitend konstruiert (assimiliert) sein mögen. Das alles gibt uns ein hohes Maß an Freiheit.
Das Ich steht aus meiner Sicht ständig (mindestens) in diesen drei Perspektiven. Aber das Ich ist in diesen Anforderungen nie allein. Im Konsens mit Anderen hat es gelernt und lernt es, jene Bereiche der Realität, Imaginationen und Symbolisierungen auszuformen, um die Einsamkeit seines Ichs, seines biologischen Körpers für die Zeit seines Daseins, mittels der Verbindung zu anderen Menschen zu überwinden. Menschen legen auch im Rahmen der Sättigung ihrer Überlebensbedürfnisse fast alle Energie auf diese Überwindung.
Geben wir dieser Interpretation eine postmoderne Wendung, dann dreht das Ich sich immer weiter, in dir, in mir, um im Zirkel seiner Unmöglichkeiten sich und seine Welt zu konstruieren, zu überwinden, überwunden zu werden. Es bleibt in der unauflöslichen Dialektik, die Philosophen im 20. Jahrhundert insbesondere als Dasein, als Existenz zu begreifen versucht haben. Es ist dies eine Existenz, die sich aus der Betonung der konstruktiven Leistungen des Menschen von einer Beobachtertheorie her besonders eindringlich beschreiben lässt. Jedes Ich benötigt den Fokus einer Selbstbeobachtung; jedes Ich unterliegt den Fremdbeobachtungen der Anderen. Es ist Auf- und Absteigen im eigenen Denken, Sehen, Fühlen; es ist zirkeln in den Realitäten, und es ist Aufheben all jener Konstrukte, denen wir begegnen, die heraus-stehen, ex-istieren. Und es hat als Selbstbeobachter immer die Möglichkeit, auf die Ebene des Fremdbeobachters imaginär, virtuell und symbolisch zu wechseln. Es ist damit auch der immer notwendige Versuch, die Beobachtungen der Anderen – auch die verrücktesten –, als Aufhebbare anzuerkennen, weil es nur aus der Logik der aufgestellten Beobachtungsfelder selbst heraus zeitbedingte und raumbedingte sowie kulturelle Begrenzungen der Begründung des Konstruktiven selbst gibt. Aufheben aber meint nicht kritiklos übernehmen, sondern gewählte Konstruktionen begründet zu diskutieren und über sie in Verständigungsgemeinschaften zu entscheiden. Je mehr die Ereignisse ihre Singularität einfordern, je stärker die Postmoderne danach drängt, den behaupteten zivilisatorischen Fortschritt der Moderne zu befragen, als Illusion zu erweisen, je mehr die Widersprüchlichkeit menschlicher Interessen in den Gewändern kapitalistischer Mechanismen sich entfaltet, desto stärker scheinen alle Werte, Normen und Orientierungen der Welt in Frage gestellt. Schlägt das Pendel nach der Seite der Fremdbestimmung von Werten, Normen und Sinn, dann erscheinen die Ereignisse des Widersprüchlichen als Befreiung, schlägt es hingegen auf die Seite der Ereignisse, dann erscheint die Sehnsucht nach den letzten Werten, der gültigen Norm und dem vernünftigen Sinn. Dann werden Rufe nach einer neuen Ethik laut oder bescheidener nach Moral und Disziplin, die als Machtpraktiken immer die Kehrseite einer Ethik sind. Es gibt unterschiedliche Verlockungen, eine Ethik zu begründen:

  • In einer Gesellschaft, die sich auf den Selbstzwang ihrer Mitglieder hin organisiert, scheint die Vertragstheorie die einzig vernünftige Form des Miteinanders im Gegeneinander menschlicher Interessen und Bedürfnisse zu sein. Allein durch die Geburt in ein Funktionssystem des Gebens und Nehmens, des ständigen Tauschens von Leistungen, Gesten und Informationen, des Tauschens von beobachtenden Blicken und erklärenden Hypothesen über alles Beobachten scheint ein natürlicher Zwang zu bestehen, den Anderen als gebunden durch einen unsichtbaren Vertrag zu begreifen: „Handle stets so, dass die Maxime deines Handelns ein allgemeines Gesetz sein könnte.“ Auf solcher Maxime gründet sich eine Beobachtertheorie, die als sittlicher Standpunkt zur Disziplinarmacht durch Erziehung, Ausschließung, Resozialisation usw. werden soll. Der Vertrag, der auf der Freiheit einer unbewussten Übereinkunft zu basieren scheint, wird bewusst erzwungen, um die vermeintlich erträgliche Freiheit zu fixieren. Dabei gehört es zum Paradox der Vertragstheorie, dass die Freiheit des Subjekts die Unterwerfung unter ein allgemeines Gesetz selbst nur zulässt, wenn alle vernünftig im Sinne dieses Gesetzes handeln. Dafür aber gibt es in den Praktiken des Handelns keinen ausschließlichen Anreiz, da gerade Übertretungen die größten persönlichen Gewinne in der kapitalistischen Bereicherung versprechen. Dispositive der Macht durchqueren die Verträge, um sich hinter allgemeinen Fassaden von Polizei, Banken, Rathäusern, Universitäten usw. zu entfalten und die Widersprüchlichkeit dieser Institutionen und der in ihnen geführten Diskurse dadurch zu verschleiern, dass sie nur auf allgemeinster ethischer Grundlage sprechen. Hinter der Allgemeinheit aber lauert ständig das Ereignis der Übertretung: Korruption, Bereicherung, Faulheit, Abwehr von Auseinandersetzung usw.
  • Einen Ausweg scheint das natürliche Mitleid zu weisen, das man den Menschen unterschieben muss, um noch an ihre grundsätzliche Güte und Weisheit glauben zu können. So wie Tiere der gleichen Art einander verschonen, wenn der Instinkt ihres Mitleids geweckt erscheint, so könnte man auch den Menschen als ein Wesen denken, das den natürlichen Trieb des Mitleids in sich trägt. Rousseau nimmt diesen neben dem Selbsterhaltungsstreben an, um hierauf eine optimistische Pädagogik zu gründen. Seit dem 18. Jahrhundert haben sich unzählige Varianten der Mitleidsmoral etabliert, die jedoch weniger eine Zunahme menschlicher Vernunft artikulieren, als vielmehr eine Abwehr von Angst gegenüber der Brutalisierung und Gewalt darstellen: Je mehr die bürgerliche Gesellschaft über die Vernunftgründe spricht, ihr sittliches Ethos als Humanismus predigt, wird ihr ein Bild ihrer Verfehlungen eben dieses Humanismus durch Armut, Elend, Krieg und alle mit diesen verbundenen Leiden deutlich. Die Perversion der Vernunft besteht darin, den allgemeinen Vertrag propagiert zu haben und das Mitleid in vielen ihrer Variationen zu strapazieren, dabei aber zugleich mit anderen Teilen dieser Vernunft eine Anonymisierung von Gewalt und Schrecken zu erreichen, die in Weltkriegen Ausdruck und in zunehmenden Gewaltgeschwindigkeiten – Gewalt erreicht uns heute auf dem Niveau der Lichtgeschwindigkeit entweder durch die Waffengewalt selbst oder ihre Abbildung, Bild-Übertragung in Lichtgeschwindigkeit in den Massenmedien – ihre Maximierung erfährt. So bleibt das Mitleid eine Hülle der Ethik, deren Füllung alle Schrecken ungebrochen erhält.
  • Der Utilitarismus macht aus dieser Not eine Tugend. Gewiss, der Mensch ist ein schwer zu berechnendes Wesen. Aber er verfügt über so viel Logik, dass er erkennen kann, was ihm nützt und was ihm schadet. Aus dieser Kraft schöpft sich eine Vernunft, die sich bloß der eigenen Begierden, der Interessen und ihrer gescheiten Lenkung bewusst werden muss, um doch noch zur Vernunft zu gelangen. Geht es einigen dabei sehr gut, dann wird es Anderen auch besser als vorher gehen. Der Optimismus der Moderne setzt hier weniger auf natürliche Gaben des Menschen – wie z.B. sein Mitleid – als vielmehr auf sein berechnendes Handeln, das alles zum Guten wendet und einen Sinn darüber herstellt, dass ein jeder Mensch es schließlich gut haben will. Doch auch diese Variante lebt von einer eingebildeten Grenze der Vernunft, die darin wurzelt, dass der Mensch es letztlich einsehen muss, wann es gut ist, wann die Übertreibung beginnt, wann der Untergang droht, wann der Vertrag endgültig zerbricht, der Voraussetzung für die wechselseitig nützliche Handlungsweise ist.
  • Die reflektierte Diskurstheorie des Handelns setzt den Vernunftgründen gescheit ihre Grenzen und weist logisch auf, wie es wäre, wenn der Mensch sich nach dieser Logik verhielte: Ein herrschaftsfreier Diskurs lässt sich benennen. Aber auch so bleibt das Dilemma der Vertragstheorie erhalten, denn die Anerkennung der Logik des herrschaftsfreien oder gerechten oder humanen Diskurses müsste immer schon vorher erfolgen – nämlich bevor die Ereignisse des menschlichen Handelns selbst greifen, die dieser Diskurs anleiten soll.
  • So bleiben die Ereignisse selbst, die wie Schicksalsschläge den Puls der Zeit  deuten lassen, und deren Unendlichkeit durch die Rückgriffe auf eben jene Positionen des Vertrages, der Natur des Menschen, des Utilitarismus oder des Diskurses, ethisch eingefangen werden sollte. In den Ereignissen wuchern ethische und moralische Disziplinen, und diese Wucherungen stehen allen ethischen Beobachtern zu unendlicher Spekulation als ein Kreislauf der Sinngebung und Sinnentleerung zur Verfügung. Gerade die Ereignisse zeigen das Dilemma der großen ethischen Theorielösungen, denn sie symbolisieren für unsere Beobachtungen das Zusammenfallen von Wunsch nach scharfer Definition und Unschärfe der Situation. Damit zeigen sie, dass die unterschiedlichen Beobachterebenen in Konflikt treten:
  • Nach der Methode der Beobachtungswirklichkeit muss eine ethische Theorie versuchen, ihren Gegenstand möglichst scharf zu erfassen. Sie ringt um Eindeutigkeit in der Fixierung der Perspektiven, im Scharfstellen des Fokus. Aber sie unterliegt zugleich der Unschärfe der Beziehungswirklichkeit, die sich nie in die Eindeutigkeit zurückführen lässt, die der wissenschaftliche Diskurs aus der Sicht seiner ersten Ordnung für erforderlich hält. Doch damit deutet sich zugleich eine neue Grenze an: Die Ermöglichung einer Logik von Beziehungswirklichkeit wird zum Prüfstein einer ethischen Theoriebildung, die beobachtend über Ereignisse urteilt, in die sie selbst bis hin zur Unschärfe verwoben und verstrickt ist. Aus dieser Perspektive heraus eröffnet sich auch die Beobachtung der Lebenswelt und Produktion, die die Beobachtungswelt des Wissens und die Beziehungswirklichkeit miteinander verknüpft.

Somit stehen bei Ihnen Beobachter und Beobachtung in einem starken Spannungsverhältnis. Ist es denn so, dass sich der Beobachter in den Territorien bewegt, aber in seiner Beobachtung bloß Landkarten für diese Territorien benutzt? Und ist der Konstruktivismus letztlich nur eine dieser möglichen Landkarten?

Landkarten, wenn wir dieses Bild überhaupt für menschliche Bezüge annehmen wollen, lassen sich in unterschiedlicher Weise differenzieren. Man kann sie mehr nach inhaltlichen Gesichtspunkten auslegen, indem sie sachlich davon berichten, was in einem Lebensweg an welchem Ort steht, d.h. fest gebaut und normativ verankert wurde. Es mögen die Sachdaten einer Biografie sein, die wie Monumente einen Lebensweg überschatten. Subtiler sind die psychischen Landkarten der Beziehungen der Menschen untereinander, denn hier überlagern sich Landkarten unterschiedlichster Natur, und im Über- und Durcheinander der Landkarten verschiedener Individuen werden die Blicke unscharf und die Perspektiven verzerrt. Die je subjektive Kartografie verhindert sehr oft die Einigung auf ein allgemeines Mess- und Maßwerk, was gleichwohl durch die Wissenschaften bereitzustehen scheint. Doch auch hier ist die Ernüchterung der Kartografen im Zeitalter der tausend Plateaus (Deleuze/Guattari 1992) groß geworden: Die Vermessungsingenieure verschiedener Landkartenschulen streiten gegeneinander, um in ihren heftigen Auseinandersetzungen sich ihre Perspektive zu suchen, nach der alle Anderen schauen sollen. Mit einer bestimmten Sehgewohnheit, die ich in ihnen erwerbe, fällt es aber schwer, noch anders zu sehen, weil das Gesehene, das Sichtbare in diesen Schulen immer in das Sagbare, das Gesagte umschlägt und als Karte das Territorium terrorisiert, denn es ist das Wesen jeder wissenschaftlichen Kartografie, sich sprachlich in Maßstäben zu verankern und in diesen zu differenzieren. In diesen Sprachspielen mögen die Sichtbarkeiten dann so weit verloren gehen, dass ein realer Gang durch die Landschaften bei bestimmtem Lichteinfall, in der Dämmerung, in den Morgenstunden, in bestimmten Lebenssituationen zur Infragestellung der gewohnten Perspektive wird. Solche brüchigen Situationen erschüttern die gewohnte Landkarte, die Kartografie und den dogmatischen Schlummer in vertrauten Sichtweisen. Doch die Kehrseite dieser Befreiung ist die, dass nun die Qual der Wahl von Landkarten entsteht.
Anders geben sich jene, die von vornherein auf einer Vielzahl von Landkarten beharren und sich diese je nach Wunsch, passend zu ihren Lebensphasen, heraussuchen. In dem Vielerlei mögen sie zu einem oberflächlich schnellen Wechsel gelangen, der sich bis in die Sucht steigern kann, möglichst alle Landkarten der Welt in ihrer gröbsten Form anzuschauen, um sich vermeintlich kompetent in allen Wirklichkeiten zu wähnen. Von diesen Leuten wird man keinen Blick in die Tiefe erwarten dürfen, denn sie blenden sich selbst mit dem Sammelsurium von Kartenwerken, deren subtile Machart sie nicht zu rekonstruieren verstehen.
Was aber bleibt dann als Ausweg? Vermag es eine Kartografie der Kartografien zu geben, die alles das in den Blick nehmen lässt, was wir hier an Bildern entworfen und uns als anschauliches Material bereitgestellt haben, um uns einen Teil unseres konstruktiven Vorgehens, unserer Vorstellungsräume zu verdeutlichen? Die Ausweglosigkeit wurzelt darin, dass hinter jedem Beobachter ein neuer Beobachter stehen kann, dass es im Nach- und Nebeneinander nirgendwo eine ausgewiesene Position gibt, von der ich alle Landschaften überschaue, um die endgültige Landkarte zeichnen zu können. Gott selbst war die Imagination eines solchen Kartografen, die aber nur so lange geglaubt werden kann, wie ich mich auf einen Gott fixiere und seine Konkurrenten in anderen Regionen negiere. Wenn aber der Satz von Nietzsche ernst genommen wird, dass Gott tot ist, dann ist auch der Mensch tot, der über die letzte Landkarte verfügt. Intuitiv ist dies mit der Heraufkunft der bürgerlichen Gesellschaft begriffen worden, denn in dem Maße, wie sich die Landkarten der neuen Welt durchsetzten, gehörte es zu den schönsten Geheimnissen von Landkarten, Schätze zu bezeichnen, die auf geheimnisvolle Weise verborgen sind, um dann glücklich entdeckt und in individuellen Reichtum überführt zu werden. Solche Landkarten stehen als Sinnbild für bürgerlichen Erfolg und Abenteuerlust in einer unbekannten Welt, hinter deren Grenze doch wieder die vertraute Landkarte der Geborgenheit und der bürgerlichen Normalität lauert.

Platon hat mit seinem Höhlengleichnis eine Wende im abendländischen Denken dahin gehend eingeleitet, dass er den Philosophen (oder Denkenden) eine besondere Rolle zuweist: Sie haben die Menschen über die Fehler ihrer Wahrnehmungen (oder Konstruktionen) aufzuklären. Ist diese Aufklärung nun endgültig verloren? Welche Rolle spielt der Forscher, spielen Sie, hierbei?

Nach all den Blick- und Perspektivwechseln erlaubt mir diese Frage, meine Argumentationen mit einem Bild zu schließen. Es ist – auch für den Konstruktivismus – typisch, dass alles Argumentieren auf bestimmte, ursprünglich erscheinende Gleichnisse zurückkommt, weil so vielleicht am leichtesten unsere Imaginationen beflügelt werden. Nehmen wir also das Höhlengleichnis, das ich als ein anderes Bild entwickeln möchte. Für Sie bleibt damit eine re/de/konstruktive Arbeit übrig:

Gefangen sitzen wir wie in einer Höhle, nur dass diese nach außen gewendet ist, dass sie einem Ball oder einer Kugel entspricht, die wir Erde nennen, von einem weiten Mantel umgeben, in dessen untersten Schichten Wolken tanzen und uns Schatten auf die Fläche werfen, auf der wir uns projizieren. Aber was heißt hier wir? Die Philosophen, die Denker, die Intellektuellen haben sich aus den Stürmen der Zeit, den Wogen der Natur und den Wellen des Lichts in kleinere Gehäuse zurückgezogen, in denen sie die Wände anstarren, bis ihnen die Gedanken kommen. In diesen Gehäusen jagen sie den Schatten nach, beflügeln sie ihre Imaginationen, um Symbole gerinnen zu lassen, die sie in größeren Höhlen sich gegenseitig auf die Wände projizieren, um die immer genauere Wahrheit darzustellen. In diesem Dasein sind sie gefesselt, und die schiere Unlösbarkeit ihrer Fesseln wird durch den Umstand bekräftigt, dass es bereits als symbolisch unmöglich erscheint, sich überhaupt befreien zu können. Sie müssten sich hierin Gewalt antun, sie hätten ihre behaglichen Gehäuse zu verlassen, um diese Fesseln zu sprengen. Denn die Symbole selbst, auf die sie sich eingelassen haben, werden nun einmal nur in jenem Diskurs gewonnen, der in der Entzifferung von den Projektionen an den Wänden ihres Denkens und Dokumentierens besteht.
Vor diesen Gefesselten nun laufen etliche Personen umher, die Gegenstände tragen und mit diesen Gegenständlichkeiten die Welt bewegen. Dort, wo die Gefesselten den Bildern von Konstruktionen nachjagen, die diese Anderen munter durch die Welt als materielle Konstruktionen tragen, entspringt der Widersinn, den die Blicke auf das Wissen darstellen. Die Gefangenen mögen sich räuspern, weil ihnen manchmal unheimlich in ihren Behausungen wird, weil sie sie als zu eng empfinden mögen. Gleichwohl ist es ein Zuhause, dessen Territorium wohlgesichert und geschützt ist, dessen Eingänge mit Pforten versehen sind, durch die nicht alle hindurchgehen können, deren Türschilder so etwas wie Respektabilität aus einer Vergangenheit aufweisen, deren Zimmertüren mit Titeln und Ausschließungsgründen versehen sind, so dass man schließlich meinen könnte, es seien die Fesseln in Wahrheit Bedingungen eines Besserseins.
Woran aber hindern die Fesseln? Sie hindern vor allem daran, untereinander in Blickkontakt zu treten, untereinander Beziehungen aufzunehmen und sich umzuwenden, um in die Welt jener materiellen Handlungen Einlass zu erlangen. So ist eine künstliche Grenze errichtet, deren Überschreiten fast schon als denkunmöglich angesehen wird, wenn man nicht den geführten Diskurs selbst beleidigen will.
Jene, die sich in solcher Konstruktion gefangen sehen, stehen auf und bezweifeln zunächst die Bilder vor sich. Sie drehen sich, noch wohlbehalten in ihrem Raum, hin und her, sie projizieren grelles Licht nach außen, um schärfer zu sehen, sie versinken ins Dunkle, um die Grautöne besser wahrnehmen zu können, sie drehen am Fokus ihres Blickes, um klarer zu sehen. Manche von ihnen begreifen, dass es bei allen Versuchen keine Möglichkeit gibt, die Unschärfe ganz zu bezwingen. Sie begreifen, dass es Blickfelder geben mag, in denen man scharf genug sieht für das, was erwartet wird. Sie sehen zugleich, dass anderes dadurch zu vergessen droht, dass das Unscharfe, die Singularität, das Individuelle im Fluss der Erwartungen ertrinkt. Sie wenden ihren beobachtenden Blick nicht fort von den Dingen, die sie als Bilder wahrnehmen, sondern sie wechseln nur den Blick, um sich in anderen Beobachtungsfeldern zu probieren. Dazu allerdings müssen sie die Fesseln der Ausschließlichkeit ablegen. Sie müssen sich öffnen für das, was anders ist, sie müssen ihre Behausung verlassen und durch die Pforte ins Licht hinaustreten.
In der Welt der Beziehungen, in der Welt des Interaktiven, des Rückbezüglichen, der zirkulären Wahrheit, die sich nicht mehr an der an sich seienden Objektivität eines außer uns liegenden Wahren trösten kann, in diesem Licht ist das Schauen ohne Anfang und Ende, zwar nicht ohne Linien und Markierungspunkte, aber doch ohne deren scheinbar festliegende Grenzen. Der Fokus mag hier rasch wechseln, es mag bis zur Unschärfe unklar sein, wer auf wen wann und wie geblickt hat und welche Bedeutung dies für wen wann und wie erreichen mag. Die Wechselwirkung wird nur von wenigen in ihrem Gehäuse in einer Theorie der Beobachtung zusammengehalten. Sie treten als Konstruktivisten auf und sagen, dass letztlich hier nur der Beobachter selbst in seiner Singularität zählt. Auf ihn und je in konkreten Fällen und Ereignissen beziehe ich mich, bin ich selbst- und fremdbezogen, als Beobachteter wie Beobachter zugleich. Und aus dieser Perspektive sehen die Denker, die Philosophen und Intellektuellen in ihren Behausungen ein wenig komisch aus, so wie sie auf die Welt „da draußen“ starren und den Dingen auf die Spur zu kommen suchen.
In diesem neuen Licht vor den Pforten der hehren Denkanstalten huschen aber immer mehr Menschen vorbei, die geschäftig wirken und deren Tun schier unbegreiflich scheint. Sie tragen allerlei Gegenstände durch die Welt, die sie beständig vermehren und austauschen; sie scheinen nach irgendwelchen Regeln ein Spiel zu spielen, das niemand versteht, und an das sich doch jeder hält. Eine neue Beobachterwelt tut sich auf, und der Beobachter steht, sofern er einmal in dem Gehäuse des Intellektuellen gewohnt hat, in der Versuchung, dies alles nun doch wieder nach Anfang und Ende fassen zu wollen, eine Theorie der Beobachtung darüber bilden zu müssen, wie alles „wahr“ und „wirklich“ geschieht. Solche Beobachter werden dann nachdenklich, und manche Menschen in den vorbeihuschenden Massen mögen den Denker, den Intellektuellen und Philosophen so in einem neuen Licht erkennen, und sie rufen ihm zu, sie fordern ihn auf, doch endlich eine Erklärung für das Treiben zu geben, was sie selbst nicht verstehen. Geblendet von dieser Aufforderung mag ein solcher Beobachter in sein Gehäuse zurückkehren, um die Wände weiter abzutasten, Ideen auf sie zu projizieren und seine vermeintlich scharfen Beobachtungen hierüber zu publizieren.
So kehren einige zu alten Ideen zurück: Gibt es nicht auch die Sonne als ewiges Licht über diesem Planeten, über diesem Ball, den wir Erde nennen und der uns wie eine Höhle gefangen nimmt? Könnte ich mich in diese Sonne nicht begeben und einen Standpunkt, einen Blick gewinnen, der alles erklärt und erwärmt?
Aber sie wohnen in der Abkapselung ihrer Gehäuse. Bei manchen unserer Denker, Philosophen und Intellektuellen wird die Unbequemlichkeit gespürt, immer wieder durch das Tor hinaus- und hineinzuschlüpfen. Draußen, so bemerken sie, sind die Blicke vielfältiger, die Gespräche intensiver, wenn es um die Beziehungen von Menschen geht, die Sachen aber verschwommener. Einige verspüren ein Unbehagen, dass ihr Gehäuse vielleicht ein großer Irrtum, ein Verlust des Menschlichen, ein Vergehen an der Vielfalt der Ereignisse, eine Konstruktion des Wahn-Sinns und der Ausschließungsgründe sein mag, die selbst zu hinterfragen ihre oberste Pflicht sein müsste. Eine Pflicht? Aber wem sollten sie dies mitteilen, wenn nicht ihresgleichen in anderen Gehäusen?
So ist es für viele von ihnen zu einem Spiel geworden, zwischen den Freiheiten der Blicke und des Lichtes und der Enge ihrer Gehäuse hin- und herzuwandern. Je weiter und je tiefer sie ihre Blicke schweifen lassen, desto mehr erkennen sie, dass das Höhlenhafte ihres wissenschaftlichen Denkens sich – in  gewiss einfacherer Form – an allen Orten der Welt abspielt. Das isolierte Gehäuse ist zum Maßstab einer Kultur geworden, in der von den Wänden in die Wohn- und Schlafzimmer die Welt hineinspielt und hinein spricht, in der das Klischee eines Abbildes ein Konstrukt von Wirklichkeit ist, das zur Beobachtung für alle Beobachter simultan zur Verfügung gestellt ist, um sich an ihm zu formen und in ihm zu funktionieren. Es ist dies gar keine Entfremdung, sondern ein Heimischwerden in Gehäusen als neuen Höhlen, die die Menschen mehr und mehr voneinander isolieren. Und so wie es bequemer für das Denken ist, sich in die Höhlen zurückzuziehen, um die Wände anzustarren, so geht es den Menschen überhaupt, da es ungleich schwieriger ist, ein Leben unter freiem Himmel zu führen: Beziehungen kosten Zeit, sind anstrengend und aufreibend, gefährlich und unter der Perspektive der Singularität von Ereignissen nie von Dauer. Auch wenn sie noch so reizvoll sind, so bedarf es der schnellen Ordnung des Reizvollen, um es in den Höhlen sicherzustellen und als Schatten in die Imagination von Harmonie gefangen zu setzen. Wem sollte der Wissende und Schauende auch verraten können, dass Beobachtung zerfällt, dass die Konstrukte nie von Dauer, nur von begrenzter Schönheit, von begrenzter Reichweite, vom Augenblick besetzt erscheinen? Werden die Höhlen von äußeren Krisen erschüttert, so wird der Schrei ein lauter oder ein fordernder sein: Nomaden wollen wir nicht mehr sein, vagabundierende Hausierer sind in dieser Welt nicht gefragt! Nennt uns die Theorie, schafft uns die Praxis, die uns die Gewohnheit unserer Gefangenschaft erhält, sonst ist alles verloren! Wie auch sollte man sonst etwas pädagogisieren können, um es der Nachkommenschaft weiterzugeben?
Na und, so wird lachend jener Wissende sagen, der als Beobachter die Ebenen ständig wechselt und den Fokus nicht nach vorgefertigten Erwartungen einstellt. Ihm ist die Neugierde auf jedes Licht geblieben, er weiß zugleich, dass je stärker das Licht, desto intensiver der Schatten sein wird. Er hat es sich schon zu sehr angewöhnt, seine Blicke schweifen zu lassen, seine Perspektiven selbst zu wählen und schert sich nicht mehr ob der Überforderungen durch Andere. Er ist der befreite Denker, Philosoph und Intellektuelle in diesem Bild, der die Welten wechseln kann, weil er die Blicke zu wechseln versteht. Aber ihm ist kein Aufstieg in die Sonne vergönnt, sondern er bleibt, wie alle Anderen auch, hier unten. So also weiß er, dass er gegen alle und keinen kämpfen muss. Gegen alle, weil er allen und damit auch sich Perspektiven anzubieten hat. Gegen keinen, weil man niemanden zum Sehen zwingen kann.

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