Der Formulierungs- und Umsetzungsprozess der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie, die gemeinsam mit der Vogelschutzrichtlinie das Kernstück europäischer Naturschutzpolitik ist, steht im Fokus unseres interdisziplinären Forschungsprojekts. Als natur- und raumbezogenes normatives Regelwerk, das von der europäischen bis zur lokalen Ebene eine Vielzahl von Akteuren in den politischen Entscheidungsprozess einbindet, eignet sie sich in besonderem Maße zur Analyse aus geographischer und politik-wissenschaftlicher Perspektive:

Innerhalb der Geographie stellen ‚Raum' und ‚Natur' traditionelle Schlüsselbegriffe dar, deren Verständnis sich in jüngerer Zeit in starkem Wandel befindet. Das Agieren des Menschen im ‚Raum' und der menschliche Umgang mit ‚Natur' wird nicht mehr auf physisch-materielle Komponenten beschränkt. Vielmehr kommt subjektiven Perzeptionen, ‚Konstruktionen' und den damit einhergehenden Kommuni-kationsstrategien eine entscheidende Rolle zu. In ähnlicher Weise wird in der politikwissenschaftlichen Debatte seit der ‚konstruktivistischen Wende' die Existenz objektiv gegebener handlungsleitender Interessen in Frage gestellt und in zunehmendem Maße der Einfluss von normativen Ideen- und Überzeugungssystemen auf Politikgestaltung untersucht. Die Zusammenführung dieser beiden konstrukti-vistischen Perspektiven und die Nutzbarmachung für die Analyse politischer Entscheidungsstrukturen im europäischen Mehrebenensystem stellt die zentrale Aufgabe des Forschungsprojektes dar.

Der FFH-Prozess und insbesondere die von den Bundesländern zu treffende Auswahl der zu schützenden Gebiete geht mit vielfältigen Konflikten einher, die u.a. den divergierenden Perspektiven der Akteure aus so unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen wie dem verbandlichen Naturschutz, der Agrarwirtschaft, der kommunalen Bauleitplanung oder auch dem Natursport geschuldet sind. Mit einem besonderen Schwerpunkt auf der Umsetzungsproblematik in Nordrhein-Westfalen wird der sich über mehrere Ebene erstreckende Implementationsprozess rekonstruiert und analysiert. Zum einen werden dabei die Handlungs- und Interaktionsmuster der relevanten (staatlichen, zivilgesellschaftlichen, ökonomischen) Akteure erfasst, wobei institutionell bedingte Pfadabhängigkeiten und Strukturen von Policy-Netzwerken aufzudecken sind. Zum andern werden diskursive Muster herausgearbeitet, derer sich politische Akteure bewusst und strategisch oder auch unbewusst bedienen. Hier wird danach zu fragen sein, welche Raum- und Naturbilder mit welchen Nutzungsinteressen verknüpft und anhand welcher ‚story-lines' sie etabliert werden. Die Rekonstruktion naturbezogener Raumbilder sowie die Analyse ihrer Relevanz im Politikprozess wirft die Frage auf, inwieweit diese zyklischen Entwicklungen im Sinne einer ‚Biographie' unterworfen sind. Des Weiteren stellt sich die Frage, welche Konsequenzen die ausgehandelte Raum- und Naturkonzepte in Bezug auf materielle und soziale Verwertungsmöglichkeiten haben.

Insgesamt verfolgt dieses Projekt somit zwei Ziele:  Zunächst wird aus konstruktivistischer Perspektive die Existenz und Relevanz der diskursiven Kategorien ‚Raum' und ‚Natur' im politischen Entscheidungs-prozess rekonstruiert. Neben diesem konzeptionellen Erkenntnisinteresse zielt das Projekt zugleich darauf ab, auf einer anwendungsbezogenen Ebene die Erweiterung der EU-bezogenen Implementations-forschung um den bislang nicht berücksichtigten Faktor der ‚naturbezogenen Raumbilder' empirisch zu prüfen.