ENTWICKLUNG und EVOLUTION der Tiere

                           
                               

Bildung und Entladung der Nesselkapseln

"Stenoteles are my favorite cells" Pierre Tardent, 1994

Die Nesselkapsel der Nesseltiere gehört zu den kompliziertesten Organellen im Tierreich. Innerhalb von wenigen Mikrosekunden kann bei Stenotelen eine Art Stilett ausgestossen werden. Das Beutetier wird durchbohrt und letztendlich durch Gift getötet.
Bisher war man der Meinung, dass ein hoher osmotischer Innendruck von ca. 150 bar die schnelle Entladung und die hohe Durchschlagskraft ermöglicht. Der  Druck soll durch in der Kapsel nachgewiesene poly-gamma-Glutaminsäure (ca. 20 Untereinheiten pro Molkül) erzeugt werden. Bei neutralem pH kommen etwa 2M/l (vorwiegend) K+-Ionen dazu. Der kolloidosmotische Druck wurde leider falsch berechnet. Jedes Molekül poly-gamma-Glutaminsäure trägt nur einfach zum Druck bei. Der berechente Druck reduziert sich damit auf einen Wert von unter 5 bar.
Wir fanden, dass
im Inneren der Kapsel ein sehr niedriger pH herrscht. Die Glutaminsäure ist protoniert (nicht dissoziiert). Zudem aggregiert sie bei tiefem pH. Beides reduziert den osmotischen Druck. Wir vermuten, dass nur eine vernachlässigbar kleine Druckdifferenz zwischen dem Kapselinhalt und dem umgebenden Zytoplasma liegt.        

Die Entladung wird nach unserer Vorstellung durch eine Coulombexplosion hervorgerufen.
In einer schussbereiten Kapsel herrscht ein tiefer pH und daher sind die poly-Glutaminsäure Moleküle entladen und dicht gepackt. Durch das Auslösen der Entladung bricht der Protonengradient zum Zytoplasma der Zelle zusammen. Protonen verlassen die Kapsel. Viele Säuregruppen der poly-Glutaminsäuren sind gleichzeitig und schlagartig geladen, sie stoßen sich ab: eine sog. Coulombexplosion findet statt. Ursache ist, dass im Wasser die Protonen sich erheblich schneller bewegen als andere Ionen und dass der Protonengehalt im Zytoplasma und in der Kapsel sich um  mehrere Zehnerpotenzen unterscheidet. Die Coulombexplosion führt zum Ausstoßen des Stiletts. In der zweiten, längeren Phase strömen Ionen und Wasser in die Kapsel und bewirken einen weiteren, relativ langsamen Druckanstieg durch osmotische Kräfte. Jetzt wird der Nesselschlauch an der Spitze des Stiletts ausgestülpt. In einer dritten, möglicherweise mit der zweiten gleichzeitig stattfindenden Phase, könnten durch den pH Anstieg Proteine der Schlauchwand ihre Konformation so ändern, dass sie die Ausstülpung des Schlauches unterstützen. Der hohe Innendruck ist also nicht permanent vorhanden, sondern wird erst im Moment des Auslösens erzeugt.

Nach unserer Vorstellung ist für die Bildung und Funktion der Kapsel eine Ansäuerung der Kapselmatrix von zentraler Bedeutung. Wir vermuten daher, dass die Nesselkapseln ihren Ursprung in Lysosomen oder ähnlichen Zellorganellen haben. Allerdings muss in der Kapsel ein pH erreicht werden, der niedriger ist als der in Lysosomen. Unser Modell bietet auch eine Erklärung für die sog. Kleptocniden (gestohlenene Kapseln). Nacktschnecken, Plattwürmer und anderer Organismen, die Nesseltiere fressen, versuchen auch die (unfertigen) Nesselkapseln zu verdauen. Dabei werden die Kapseln angesäuert und werden so -unfreiwillig- abschussbereit gemacht. Wie diese Kapseln an den Abschussort gelangen, ist ungeklärt.

Berking S, Herrmann K  (2005) Formation and discharge of nematocysts is controlled by a proton gradient across the cyst membrane.  Helgol. Mar. Res (pdf-file)

Die Ansäuerung bei der Reifung der Nesselkapseln/Kleptocniden wurde kürzlich gezeigt:
D Obermann, U Bickmeyer, H Wägele (2012)
Incorporated nematocysts in Aeolidiella stephanieae (Gastropoda, Opisthobranchia, Aeolidoidea) mature by acidification shown by the pH sensitive fluorescing alkaloid Ageladine A, Toxicon 60 (2012) 1108–1116



 
 
 
 neselkapsel      

             
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aktualisiert: 30. August 2012 von Klaus Herrmann