Universität zu Köln
Philosophische Fakultät

Institut für Deutsche Sprache und Literatur II


Projektbeschreibung


Das im Folgenden dargestellte Teilprojekt verfolgt das Ziel, allen Erwachsenen eine möglichst umfassende Teilhabe am demokratischen Gemeinwesen zu ermöglichen, indem ihre literale Kompetenz (engl. literacy) entwickelt wird. Literacy verstehen wir dabei als die Fähigkeit, in einer durch Schriftlichkeit geprägten Gesellschaft sprachlich-kommunikativ in Wort und Schrift angemessen zu handeln.
Des Weiteren soll das vorgeschlagene Teilprojekt einen besonderen Schwerpunkt in sprachübergreifender Forschung haben. Fehlende literacy liegt nicht nur bei einsprachigen Menschen vor, sondern insbesondere auch bei Personen mit Migrationshintergrund, die durchaus in ihrer ersten Sprache literal kompetent sein können, für die allerdings Schriftlichkeit in der Zweitsprache Deutsch oder gar das lateinische Schriftsystem (etwa bei muttersprachlichem Schriftsystemen wie Kyrillisch, Griechisch etc.) ein Hindernis darstellen. Die Evaluation und Analyse des erstsprachlichen und -schriftsprachlichen Hintergrunds dieser besonderen Lernergruppe wird in der ersten Projektphase im Vordergrund stehen. Sprachstandserhebungen der oralen sowie der literalen Kompetenz sollen helfen, eine für diese Lernergruppe adäquate Förderung zu ermöglichen und auf bestehenden Kenntnissen der Erstsprache aufzubauen.
Das Teilprojekt Literacy entwickeln zielt insgesamt darauf, die Entwicklung der individuellen Literalität in den Kontext einer umfassenden Entwicklung der Person zu stellen, an der ganz unterschiedliche Beteiligte teilhaben. Sie gilt es zu verknüpfen. In Köln geschieht das über das Konzept des Sozialraums, das die verschiedenen Institutionen und Angebote strukturell und dauerhaft vernetzen soll. Für die konkrete Schriftvermittlung - als Kernstück der Literalisierung - ergeben sich daraus folgende Aufgaben:
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Unser Ansatz ist eindeutig kompetenzorientiert, d.h. wir gehen von dem aus, was die Lerner schon können und was sie noch lernen wollen, und nicht von ihren sog. Defiziten. Für mehrsprachige Lerner heißt dies beispielsweise, dass ermittelt werden muss, ob und inwieweit literacy bereits in der Erstsprache erworben wurde. Dann kann mit der Förderung in der deutschen Sprache auf bereits vorhandene Kompetenzen aufgebaut werden.
Eine Weiterentwicklung des Konzepts der Alphabetisierung sehen wir somit in zweifacher Hinsicht: Zum einen bedeutet es eine Überwindung der Defizitorientierung, die ihren deutlichsten Ausdruck vielleicht in dem Begriff des Funktionalen Analphabetismus findet. Hier wird genau auf das Personenmerkmal abgehoben, das nicht vorhanden ist, nämlich die Schreibfähigkeit. Und zum anderen stellt unser Konzept auch insofern eine Weiterentwicklung dar, als es - auch theoretisch - über die basalen Schriftkenntnisse hinausweist und mit dem Begriff der literacy bzw. Literalität ein internationales Konzept aufgreift, das in der Beherrschung der Schrift eine umfassende Fähigkeit sieht, die weit über die Fähigkeit zum Verschriften hinausgeht. Ein derart differenzierter Begriff von literacy ist grundlegend für das vorgeschlagene Teilprojekt und stellt zusammen mit Überlegungen zu Motivation und Perspektiven am Arbeitsmarkt den theoretischen Rahmen dar.
Ein weiterer theoretischer Ausgangspunkt unseres Projekts sind die Forschungen zum Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, die wesentlich durch die Arbeiten von Wygotsky und Ong angeregt wurden. Sie haben deutlich gemacht, dass sich mündlichen bzw. oralen Gesellschaften die gleichen Aufgaben stellen wie solchen, die über Schrift verfügen. Allerdings bewältigen sie diese mit anderen sprachlich-kommunikativen Mitteln bewältigen; so spielen, um es an einem Beispiel zu verdeutlichen, Gedächtnisleistungen und Memorierungstechniken hier eine ungleich größere Rolle, die in schriftbasierten Kulturen dann teilweise verloren gehen. Mit der Entwicklung der Schrift ändert sich - bildlich gesprochen - der kommunikative und kognitive Haushalt einer Gesellschaft. Bestimmte Aufgaben und Funktionen werden nun von der Schrift übernommen; hier sind vor allem die Kommunikation über Raum und Zeit hinweg - in Form geschriebener Texte - sowie die Externalisierung kognitiver Prozesse zu nennen. Schrift ermöglicht es uns also, sprachliche Handlungen und Denkprozesse dauerhaft und außerhalb unseres Gehirns und Gedächtnisses zu realisieren. Das stellt für viele Aufgaben eine erhebliche Ausweitung unserer Möglichkeiten bereit, wie es - um ein nicht-sprachliches Beispiel zu nehmen - das schriftliche Rechnen zeigt. Das Gleiche gilt in analoger Weise auch für orale Menschen, ein Ausdruck, der anders als Analphabet kein Defizit als Definitionsmerkmal nutzt. Sie bedienen sich oraler Verfahren für sprachlich-kommunikative Aufgaben und verfügen damit über Fähigkeiten, die es auszubauen gilt.
Damit verknüpft sich diese linguistische Sichtweise mit einer seit einiger Zeit in der Sprachdidaktik und Lernpsychologie vertretenen Lehr-Lern-Theorie, die ebenfalls den Lerner mit seinen Fähigkeiten zur Entwicklung in den Fokus stellt. Nicht die Defizite bilden den Anknüpfungspunkt für Lehr-Lern-Prozesse, sondern die vorhandenen Fähigkeiten. In diesem Sinne geht es immer um die (Weiter-) Entwicklung von Fähigkeiten, nicht um das Beheben von Defiziten. Eng verbunden damit ist die Lehr-Lern-Theorie des gemäßigten Konstruktivismus, der das Individuum als wesentlichen Träger seiner Entwicklungsprozesse sieht - mit erheblichen Konsequenzen auch für Vermittlungsprozesse.
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Ausschließlich die Teilnehmer der Alphabetisierungskurse in den Blick zu nehmen greift zu kurz. Alphabetisierung der Teilnehmer wirkt immer auch auf das nähere und weitere Umfeld zurück. Ein solcher Transfer lässt sich an verschiedenen Stellen ausmachen:
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Letzte Änderung: 19.09.2008