GIN & CHIPS


 
 



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1. Einleitung

 Das Curriculum "Produktive Intelligenz" will die Möglichkeit eröffnen, produktives Denken systematisch zu lehren. Es setzt sich aus zwei Teilen zusammen:

Gleichzeitig zielt das Curriculum auf die Förderung des sozialen Lernverhaltens und des Selbstkonzepts ab.

Das Curriculum "Produktive Intelligenz" stellt die integrative Anwendung der Summe der Erfahrungen dar, die sich aus vorangehenden Forschungen ergeben haben. Diese Forschungen begannen mit einem Versuch zur systematischen Intelligenz- und Denkförderung. Er basierte auf der Entwicklung und Erprobung von kognitiv orientierten Spielen zur Ausbildung eines repräsentativen Satzes von Denkstrategien (vgl. RÜPPELL 1975, 1982). Diese Spiele wurden nach einer Sichtung des kulturellen Spieleangebots zusammengestellt, wobei auch neue Spiele entwickelt wurden.

Die empirische Erprobung ergab, daß Spiele allein nicht ausreichen,

  1. weil sie es in den meisten Fällen nicht ermöglichen, Denkstrategien zuverlässig aufzubauen und
  2. weil sie in den wenigen Fällen, in denen die Strategien vermittelt werden, den Transfer dieser Strategien auf andere Bereiche nicht gewährleisten können.
Das erste dieser beiden unbefriedigenden Ergebnisse leitete die Entwicklung des sogenannten "Adaptiven-Lehr-Lern-Systems" (ALLS) ein. Diese Entwicklung geschah auf der Grundlage des Konzepts von Lernumwelten (vgl. RÜPPELL 1977). Zahlreiche lernfördernde Bedingungen von unterschiedlicher theoretischer Herkunft wurden mit dem Ziel zusammengefügt, den Aufbau einzelner Denkstrategien bei jedem Schüler planmäßig unterstützen zu können.

Das Kernstück des ALLS sind die sogenannten "Situationstypen". Ein Situationstyp ist ein Vorschrift für das Lern- und Kommunikationsverhalten einer Kleingruppe. Diese Vorschrift besteht aus unterschiedlichen Aktivitätszuweisungen, um bei den einzelnen Gruppenmitgliedern bestimmte Lernprozesse gezielt auslösen zu können.

Die empirische Erprobung zeigte, daß der o.g. Anspruch, Lernstrategien zu vermitteln, weitgehend erfüllt werden kann (vgl. RÜPPELL 1982).

Das zweite unbefriedigende Ergebnis, also das ungelöste Transferproblem, rückte die aktuelle Theorie der menschlichen Informationsverarbeitung, insbesondere die Theorie der kognitiven Schemata (siehe S.) in den Blickpunkt. Diese Theorien belegen die Notwendigkeit, nicht nur spezifische Strategien zu lehren, sondern darüber hinausgehend auch sogenannte kognitive Schemata. Diese tragen von ihrer Definition her den Transfermechanismus bereits in sich (vgl. NIEGEMANN 1983), weil sie die Bestimmungstücke der Strategien ganzheitlich und in verallgemeinerter Form vor Augen führen und damit eine Planungsgrundlage für aktuelle Strategieentwicklung bereitstellen.

Von dieser theoretischen Grundvorstellung ausgehend, wurde das Konzept der sogenannten "Simultan-Vergegenwärtigers" entwickelt (vgl. KLIEME & RÜPPELL 1983; RÜPPELL & RÜSCHSTROER 1985).

Mit der Entwicklung des ALLS und mit der lehr-lerntheoretischen Umsetzung der Theorie der Informationsverarbeitung waren die beiden Hauptprobleme, die aus dem ersten Versuch der systematischen Intelligenzförderung sichtbar wurden, gelöst. Damit waren die praktischen und theoretischen Voraussetzungen gegeben, um den Versuch einer systematischen Intelligenz- und Denkförderung neu zu beginnen.
 

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2. Das Konzept der produktiven Intelligenz

 Unter der produktiven Intelligenz verstehen wir mit SELZ (1935), DÖRNER & KREUZIG (1983) u.a. diejenigen Aspekte der menschlichen Intelligenz, die komplexes Lernen und kreatives Denken unterstützen.

Dabei gehen wir mit DUNCKER (1935), SELZ (1935), WERTHEIMER (1945), PIAGET (1972), LOMPSCHER (1972), AEBLI (1980, 1981), STERNBERG (1983), HUNT (1980), SIMON (1980), SNOW (1980) u.a. davon aus, daß diese Aspekte im wesentlichen durch sogenannte kognitive Operationen gegeben sind. Solche Operationen sind etwa:

Allgemein kann die Intelligenz aus dieser Perspektive folgendermaßen definiert werden:
  • "Intelligence is understood in terms of the functioning of various kinds of information-processing components, and in terms of the interactions among and automatization of these components" (STERNBERG 1983, S. 44).

  •  

     

    Weiter gehen wir mit SNOW, FEDERICO & MONTAGUE (1980) u.a. davon aus, daß diese Operationen das komplexe Lernen und das kreative Denken dann maximal unterstützen, wenn sie in der aktuellen Situation zu effektiven Problemlösungsstrategien zusammengestellt werden können. Plausibel ist, daß derjenige, der über eine Vielzahl solcher nützlicher Operationen verfügt und sie in Abhängigkeit von der jeweiligen Problemstellung schnell und flexibel zu effektiven Strategien der Informationsverarbeitung zusammenstellen kann, auch Vorteile hat, um neue konzeptuelle Systeme schnell zu verstehen und neue Zusammenhänge zu erkennen. Intelligenz ist

  • "... in large part the ability to aquire and reason with new conceptual systems" (vgl. STERNBERG 1981, S. 4).

  •  

     

    Nach AEBLI (1980, Bd. 1) befähigen die Operationen zum innerlichen und abstrakten Probehandeln, dem Operieren. Dadurch

  • "werden die wesentlichen Beziehungen rascher und sicherer geknüpft. Die Struktursicherung und -verbesserung gelingt eher, als in der schwerfälligen, praktischen Handlung." (vgl. AEBLI 1980, Bd. 1, S. 23)

  •  

     

    Wenn kreative Operationen hinzukommen, entsteht die Fähigkeit, etwas originell und effektiv machen zu können, z.B. neue Spielzüge in einem Strategiespiel entdecken, neue Lösungsmethoden erfinden, neue Wege, die eigene Informationsverarbeitung zu verbessern (d.h. das Aufnehmen, Einspeichern, Verarbeiten und Verwerten von Informationen).

    In Intelligenztests wird durch die sorgfältigen Test-Instruktionen das Erfassen der Situation, also der Denkakt, der die "strukturellen Erfordernisse" der Aufgaben deutlich macht, ausgeklammert (vgl. WERTHEIMER 1945). Während die strukturellen Erfordernisse spezifiziert werden, sind die durchzuführenden Operationen damit weitgehend vorgeschrieben bzw. nahegelegt (vgl. DÖRNER & KREUZIG 1983).

    Dies ist ein Grund dafür, daß die Beziehung zwischen Intelligenz und Denken empirisch nicht existiert. Die Leistungen von Intelligenztests und Problemlösungen korrelieren meist nicht miteinander.

    Wenn man diesen funktionalen Aspekt des Denkakts betrachtet, läßt sich die produktive Intelligenz auch definieren als die Kompetenz, das, was man durchdenken will, auch präzise und schnell durchdenken zu können, z.B. klare Vorstellungsbilder anzufertigen, Zwischenergebnisse ökonomisch abzuspeichern, schnelles Schlußfolgern.

    Wenn produktive Wissensstrukturen ausgebildet sind, geschieht dies weitgehend schemagesteuert.

    Schemata können die Information

    Die schemagesteuerte Informationsverarbeitung ist solange schnell, zuverlässig, präzise und teilweise auch kreativ, wie differenzierte inhaltsspezifische Schemata vorhanden sind. Diese Art der Informationsverarbeitung findet ihre Grenze dort, wo inhaltliches Neuland betreten wird, wo also neue konzeptuelle Systeme entdeckt, repräsentiert und flexibel modifiziert werden müssen. Die vorhandenen Schemata können nur begrenzt aktiviert werden. Hier ergibt sich die Notwendigkeit des produktiven Denkens bzw. des kreativen Problemlösens, und damit beginnt für die meisten Menschen ein mühevoller Prozeß der Informationsverarbeitung. Aus der schnellen, präzisen und teilweise kreativen Informationsverarbeitung wird eine langsame, unsystematische und durch Versuch und Irrtum gekennzeichnete, denn die Teilfunktionen können jetzt nur noch sehr unzureichend erfüllt werden.

    Die produktive Intelligenz ist ausgebildet, wenn man diese Funktionen dennoch erfüllen kann. An dieser Stelle kommen die Operationen ins Spiel. Dieses sind verallgemeinerte Prozesse der Informationsverarbeitung, die die genannten Funktionen inhaltsübergreifend erfüllen können. Dazu gehören:

    Ihre volle Produktivität entfalten die Operationen, wenn sie vielfältige Wechselwirkungen miteinander eingehen können, d.h. wenn sie zu Operationssystemen zusammengeschlossen werden.

    Die produktive Intelligenz kann man sich in Übereinstimmung mit SELZ (1924, 1935) also als ein System vorstellen, das sich aus Operationssystemen für diejenigen Bereiche der menschlichen Intelligenz zusammensetzt, die das komplexe Lernen (das Entdeckungslernen) und das kreative Problemlösen ermöglichen.

    Allgemein kann die produktive Intelligenz damit als die Kompetenz bezeichnet werden, Informationen auch dann effektiv verarbeiten zu können, wenn inhaltsspezifische Verarbeitungsmechanismen (kognitive Schemata) nicht zur Verfügung stehen.

    Die inhaltsspezifische Verarbeitung durch Operationen, d.h. die Annahme einer allgemeinen Problemlösekompetenz, ist aktuell nicht unumstritten ( NORMAN & RUMELHART 1981; RUMELHART & ORTONY 1977; ANDERSON et al. 1981; NEISSER 1983; ANDERSON 1983), weil sich in vielen Untersuchungen gezeigt hat, daß inhaltsspezifisches Wissen ausschlaggebend für das Zustandekommen von Problemlösungen ist. Diese Arbeiten sind in folgender Hinsicht zu kritisieren:

    Um das Problemlösen zu erforschen, wurden meist keine professionellen Problemlöser untersucht, sondern allenfalls Experten für bestimmte Inhaltsbereiche (z.B. aus der Physik oder der Geometrie). Da die produktiven Operationen sich aber gerade dadurch herausbilden, daß man sich mit vielen unterschiedlichen Problemstellungen beschäftigt, ist es zwangsläufig, daß spezifische Wissensstrukturen in den o.g. Untersuchungen immer mehr in den Vordergrund treten.

    Kurz: Die Existenz der produktiven Operationen läßt sich nicht bei allen Menschen nachweisen, sondern nur bei denjenigen, die zahlreiche Erfahrungen in vielen unterschiedlichen Aufgabenbereichen gemacht haben.

    Entsprechend haben wir aktuell begonnen, das Problemlösungsverhalten von professionellen Erfindern zu untersuchen.
     

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    2.1 Das Konzept der produktiven Mikrooperationen

     Eine produktive Mikrooperation ist mit STERNBERG (1983) u.a. ein Informationsverarbeitungsprozeß, der eine kognitive Repräsentation

    Die Mikrooperation ist also eine kognitive Operation, die eine definierte kognitive Funktion erfüllt. Diese Operation läuft dann als Einheit im Arbeitsgedächtnis ab. Wir unterscheiden drei Arten von Mikrooperationen: Die elementaren Mikrooperationen lassen sich auf unserem Analyseniveau konzeptuell nicht weiter aufschlüsseln, dagegen sind die zusammengesetzten Operationen als Ketten von elementaren Mikrooperationen beschreibbar. Da die zusammengesetzten Mikrooperationen aber genauso wie die elementaren stabile Funktionseinheiten sind, die nach dem Alles-oder-Nichts-Gesetz ablaufen, gehören beide zur Gruppe der Mikrooperationen.

    Die automatisierten Mikrooperationen bezeichnen wir als "Komponenten". Automatisiert bedeutet, daß diese Operationen in bestimmten Situationen unwillkürlich ablaufen und dabei die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses kaum beanspruchen.

    Beispiele für Mikrooperationen aus dem Gedächtnisbereich:

     Wer z.B. die Ziffernfolge 1 4 9 2 hört oder liest, wird automatisch an das Jahr der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus denken. Das heißt, die Mikrooperation "Assoziative Verknüpfung von Ziffernfolgen mit bekannten Geschichtsdaten" geschieht bei vielen Menschen automatisch, ohne daß sie es verhindern könnten. Wer dagegen das Datum der Entdeckung noch nicht kennt und es sich einprägen möchte, kann sich beispielsweise vornehmen, die Mikrooperation "Redundanz in Ziffernfolgen" auszuführen, indem er sich sagt "Noch 8 Jahre bis 1500".

    Wenn eine solche elementare Operation nicht gelingt, kann man sich entschließen, eine zusammengesetzte Mikrooperation durchzuführen, etwa eine Geschichte zu erfinden und ein entsprechendes Vorstellungsbild anzufertigen, z.B. "Von 92 Seefahrern erreichten nur 14 ihr Ziel, die anderen starben an Skorbut".

    Ein komplexeres Beispiel für eine zusammengesetzte Mikrooperation ist das Einprägen einer Wortliste durch das Erfinden einer Geschichte. Dieser Prozeß des Erfindens kann in elementare Mikrooperationen aufgeschlüsselt werden:

    1. eine semantische Beziehung zwischen zwei Worten zu erkennen,
    2. dazu ein entsprechendes Vorstellungsbild zu erzeugen und
    3. überprüfen, ob ein drittes Wort dazu paßt; wenn nicht
    4. eine neue Linie der Ideenproduktion einschlagen usw.
    Diese Schritte laufen im allgemeinen automatisch ab, weil das Geschichtenerzählen bei fast allen Kindern als Einheit abläuft.
     

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    2.2 Das Konzept der produktiven Makrooperationen

     Die Makrooperation ist konzeptuell ein Oberbegriff für Klassen von funktional verwandten Mikrooperationen. "Funktional verwandt" bedeutet, daß ähnliche Funktionen bei der Informationsverarbeitung erfüllt werden, z.B. kann man die Mikrooperationen "Geschichten erfinden", "reimen", "einfache Analogien bilden" usw. unter den Oberbegriff " Elaboration" subsumieren, weil sie alle dazu beitragen, neue Informationen an stabile Inhalte des Langzeitgedächtnisses anzuknüpfen.

    Die Makrooperation, also etwa der Oberbegriff " Elaboration", muß im Gedächtnis als kognitives Schema repräsentiert werden, damit die Bestimmungsstücke dieser Makrooperation ganzheitlich vergegenwärtigt werden können und damit jede kleine Mikrooperation im jeweiligen Situationskontext jederzeit abrufbar ist.
    Zu den Bestimmungsstücken einer Makrooperation gehören:


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    2.3 Das Konzept der Operationssysteme

     Die Operationssysteme bestehen aus mehreren Makrooperationen, die zu einem Funktionssystem zusammengeschlossen sind.

    Auf der Leistungsebene können Operationssysteme als Fähigkeiten in Erscheinung treten. Umgekehrt entspricht aber nicht jeder Fähigkeit ein Operationssystem, denn die Fähigkeiten sind auf zu unterschiedlichen Komplexitätsebenen angesiedelt (vgl. Abb. 1) und in der Regel sind sie nicht durch Operationssysteme, sondern durch isolierte Operationen gekennzeichnet. Viele Fähigkeiten oder Dimensionen der Intelligenz können daher bestenfalls als Operationsbereiche angesehen werden.

    Die unterschiedliche Komplexität der Fähigkeiten veranschaulicht SNOW (1980) durch Abb. 1.

    Dieses Ordnungssystem von SNOW (1980) entspricht weitgehend dem verallgemeinerten Ergebnis der umfangreichen faktorenanalytischen Intelligenzforschung (THURSTONE; CATTELL u.a.). Allerdings sind die Bereiche "Kreativität" und "deduktives Denken" unterrepräsentiert.
    Das dargestellte Ordnungssystem hat gegenüber den faktorenanalytische Ergebnisse zwei Vorteile:

    1. Es wurde mit Hilfe der multidimensionalen Ähnlichkeitsskalierung erstellt (KRUSKAL & WISH 1978), die viele methodische Unzulänglichkeiten der Faktorenanalyse umgeht und
    2. die Abstände zwischen den einzelnen Tests repräsentieren direkt deren Ähnlichkeiten, so daß die verschiedenen Ähnlichkeitscluster funktional ähnliche Operationsbereiche definieren.
    Das System bildet eine umfangreiche Batterie von klassischen Intelligenztests im zweidimensionalen Raum ab. Je näher zwei Tests in diesem Raum zusammenliegen, desto höher ist ihre Interkorrelation. Die durch die geraden Linien verbundenen "Sternbilder" definieren die Bereiche der menschlichen Intelligenz, die den klassischen Intelligenzfaktoren 2. Ordnung entsprechen.
    Gc steht für die kristallisierte Intelligenz im Sinne von CATTELL (1971). Diese wiederum entspricht weitgehend dem "verbal-educational"-Faktor von VERNON (1969).
    Gf bedeutet flüssige Intelligenz im Sinne von CATTELL (1971).
    Gv steht für Visualisierungsfähigkeit, die weitgehend durch Tests zur Raumvorstellung definiert wird.

    MS. PS und CS bedeuten "Memory Span" (Gedächtnisspanne), "Perceptual Speed" (Wahrnehmungsgeschwindigkeit) und "Closure Speed" (Geschwindigkeit der Gestaltbildung).

    Die gestrichelten Konturlinien unterteilen die Gesamtstruktur in einen zentralen Bereich, der die komplexeren Tests enthält und einen peripheren mit den weniger komplexen.
     

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    3. Die Systematik der produktiven Intelligenz

     Die Systematik der produktiven Intelligenz setzt sich aus den Operationssystemen, den Makrooperationen und den Mikrooperationen zusammen.
     

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    3.1 Die produktiven Operationssysteme

     Die in Abb. 1 dargestellten Fähigkeits cluster definieren die Bereiche, aus denen sich die Intelligenz im klassischen Sinne zusammensetzt. Für die Begriffsbestimmung der produktiven Intelligenz können diese Bereiche nicht direkt übernommen werden, denn hierbei geht es weniger um die repräsentative Berücksichtigung aller verschiedenartiger Fähigkeiten (die möglicherweise zur Gesamtintelligenz beitragen), als vielmehr um die gezielte Berücksichtigung derjenigen Fähigkeiten, die komplexes Lernen und Problemlösen ermöglichen. Gleichwohl bilden die von SNOW (1980) genannten Intelligenzbereiche eine Orientierungsgrundlage. Die produktiven Operationssysteme schließen die Makrooperationen zusammen, die einen der typischen Intelligenzbereiche kennzeichnen. Bei der Festlegung der von uns definierten Operationssysteme haben wir uns auf die zentralen Bereiche, also Gf (fluid ability) und Gv (visualization) konzentriert, wobei wir Gf untergliedern in "induktives Denken" und "deduktives Denken". Dies führte zu den drei Kernsystemen:

    Ferner sind wir davon ausgegangen, daß diese Systeme nur dann wirklich produktiv sind, wenn in sie das Produkt aus Gedächtnisprozessen und Prozessen der Kreativität mit eingeht. Dieses Produkt wird als CM (= creativity x memory) bezeichnet oder kreatives Gedächtnis.

    ICM (= induction x creativity x memory)
    DCM (= deduction x creativity x memory)         Systeme 1. Ordnung
    SCM (= space x creativity x memory)

    SICM
    IDCM         Systeme 2. Ordnung
    SDCM

    SIDCM         Gesamtsysteme der produktiven Intelligenz

    Damit waren die drei übergeordneten Operationssysteme definiert (= Systeme 1. Ordnung; vgl. Abb. 2):

    Aufgrund des Systemanspruchs der produktiven Intelligenz sollten diese Systeme schließlich zu einem einzigen Funktionssystem (SIDCM) zusammengeschlossen werden. Auf dem Wege dahin entstehen die System 2. Ordnung:


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    3.2 Die Systematik der produktiven Operationen

     Die Systematik enthält die produktiven Makro- und Mikrooperationen für die Bereiche der menschlichen Intelligenz, die das komplexe Lernen und das kreative Problemlösen ermöglichen. Hierbei wurden die Mikrooperationen in funktional verwandte Klassen zusammengefaßt und der jeweiligen Makrooperation untergeordnet.

    Auf der Makroebene wurden die folgenden Operationen unterschieden:

     A. Gedächtnisoperationen (M)

    1. Kodierung
    2. Chunking
    3. Rehearsal

     B. Operationen des kreativen Denkens (C)

    1. Brainstorming
    2. Elaboration
    3. Allgemeine Heuristiken

     C. Operationen des bildlichen Denkens (S)

    1. Visualisierung
    2. Orientierung
    3. Rotation
    D. Operationen des induktiven Denkens (I)
    1. Hypothesen-Bildung
    2. Hypothesen-Prüfung
    3. Spezielle Heuristiken
    E. Operationen des deduktiven Denkens (D)
    1. 1. Mentale Modell-Bildung
    2. 2. Schlußfolgerung
    3. 3. Kontrolle
    Im folgenden werden die Gedächtnisoperationen exemplarisch dargestellt. Auf eine detaillierte Beschreibung der restlichen 12 Makrooperationen mit den jeweiligen Mikrooperationen wurde aus Platzgründen verzichtet. Die Abb. 4-7 bieten einen Überblick über diese Operationen. Schließlich zeigt Abb. 8 (S.) eine zusammenfassende Darstellung der Systematik der produktiven Operationen.
     

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    3.2.1 Die Gedächtnisoperationen

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    3.2.1.1 Die allgemeine Theorie
    Im vorliegenden Ansatz gehen wir nicht von einem klassischen Mehrspeichermodell des Gedächtnisses aus (vgl. ATKINSON & SHIFFRIN 1968; POSTMAN 1975), sondern unterscheiden funktional zwischen Arbeitsgedächtnis (working memory) und dessen Inhalt beeinflussendem Langzeitgedächtnis (vgl. SHIFFRIN 1975). Das Arbeitsgedächtnis besitzt eine begrenzte Speicher- und Verarbeitungskapazität (vgl. STEINER 1980, S. 43 ff.; KOSSLYN 1980, S. 268 ff.). Man kann sich das Arbeitsgedächtnis als Funktionseinheit vorstellen, wo externe und interne (aus dem LZG abgerufene) Informationen miteinander verknüpft werden und wo bestimmte Operationen mit diesen Informationseinheiten ablaufen.

    Ferner läßt sich das Arbeitsgedächtnis als  epheme Gedächtnisstruktur darstellen, die an jedem beliebigen Ort des LZG aufgebaut werden und wieder zerfallen kann (vgl. DÖRNER/KREUZIG/REITHER/STÄUDEL 1983, S. 413; AEBLI 1963).

     Die effektive Arbeitsweise des Arbeitsgedächtnisses wird normalerweise durch kognitive Schemata ermöglicht, die im Langzeitgedächtnis gespeichert sind. Ihre Aktivierung führt dazu, daß ein Arbeitsgedächtnis entsteht, in dem die Objekte bzw. Situationen mit Hilfe dieser Schemata interpretiert werden (vgl. RUMELHART 1980).

    Hierdurch werden die speziellen Merkmale der konkreten Objekte bzw. Situationen im Arbeitsgedächtnis zusammenhängend repräsentiert. Diese Repräsentation ist um so vollständiger, je mehr Merkmale im jeweiligen Schema enthalten sind. Der hier beschriebene Prozeß kann zusammenfassend als Kodierung bezeichnet werden.

     Je umfassender solche kognitiven Schemata sind, je größer also die Vernetzung der Teilschemata, um so größer ist die Möglichkeit zur Bildung einer zusammenhängenden Informationseinheit. Wenn solche Einheiten (chunks) aus dem LZG abgerufen werden, wird für die Verarbeitung im Arbeitsgedächtnis wenig Kapazität verbraucht. Die Kapazität im Arbeitsgedächtnis ist also um so größer, je größer solche Einheiten sind, je höher also die Anzahl der relational verknüpften Teilschemata.

    Auf diese Weise wird beispielsweise auch ein Schachmeister mit der begrenzten Speicher- und Verarbeitungskapazität des Arbeitsgedächtnisses fertig. Durch seine Erfahrung mit sehr vielen wiederkehrenden Figurenkonstellationen hat er die Fähigkeit zur Bildung von sogenannten "chunks" erworben. Dieser Prozeß kann zusammenfassend als Chunking bezeichnet werden.

     Ein Problem der Funktionsweise des Arbeitsgedächtnisses besteht darin, die Verarbeitung so intensiv zu gestalten, daß die Produkte ins LZG übergehen. Wenn vertraute Inhalte bearbeitet werden, geschieht dies durch schemagesteuerte Reaktivierungsprozesse. In der Terminologie der Schematheorie ist hiermit die wiederholte Aktivierung von Schemata gemeint; sie ist in den Prozeß der Schemaaktivierung eingebaut.

    Die Anzahl der Reaktivierungszyklen (top-down/bottom-up-Zyklen) ist um so größer, je größer der Vernetztheitsgrad des jeweiligen Schema.

    Konkret bedeutet die Reaktivierung, daß Denkprozesse im Rahmen eines Denkvorgang mehrfach mit geringfügigen Modifikationen wiederholt werden. Ausgangsinformationen und Zwischenergebnisse werden dadurch mehrfach im Arbeitsgedächtnis repräsentiert und mit jeder Repräsentation steigt die Wahrscheinlichkeit, daß die Produkte ins LZG übergehen.

    Allgemein können die systematischen Reaktivierungsprozesse zusammenfassend als Rehearsal bezeichnet werden.

    Diese Gedächtnistheorie stellt drei Gedächtnisfunktionen in den Vordergrund:

    1. Kodierung
    2. Chunking
    3. Rehearsal
    Diese schemagesteuerten drei Prozesse laufen so lange automatisch, schnell und präzise ab, wie differenzierte inhaltsspezifische Schemata verfügbar sind. Wenn, wie in Bereichen des Produktiven Denkens, solche inhaltsspezifischen Schemata nur ansatzweise vorhanden sind, müssen statt dessen verallgemeinerte Operationen zur Verfügung stehen, um die o.g. Funktionen zu erfüllen. Dies sind die produktiven Makro- und Mikrooperationen des Gedächtnisses, die im folgenden beschrieben werden.
     

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    3.2.1.2 Die Kodierung und ihre Mikrooperationen
    Bei der Kodierung handelt es sich also um einen aktiven Vorgang, bei dem der Lernende vorhandene kognitive Schemata einsetzt.

    Da wir davon ausgehen, daß die meisten Personen nicht für alle Objekte und Situationen über hinreichend differenzierte Schemata verfügen bzw. sich in ihrer Gewohnheit unterscheiden, Schemata bis auf sehr niedrige Niveaus von Subschemata zu entfalten ( s. STEINER 1980, S. 215) und darüber hinaus auch häufig irrelevante Schemata aktivieren, ergibt sich die Notwendigkeit, die automatisch ablaufende schemagesteuerte Kodierung durch eine planmäßige zu ergänzen. Dieser planmäßige Kodierungsvorgang kennzeichnet die von uns definierte Makrooperation "Kodierung". Sie ist dann ausgebildet, wenn die Gewohnheit besteht, die Objekte und Situationen explizit zu beschreiben. Die Anwendung der Operation führt dazu, daß detaillierte  Kodierungen auch dann entstehen, wenn keine differenzierten Schemata aktiviert werden können.

    Beispiel: Der Anblick eines Würfels kann z.B. dazu führen, daß man an bestimmte Würfel-Spiele denkt, also Merkmale von Spielsituationen aktiviert, die für eine detaillierte Repräsentation des Würfels irrelevant sind. Nur wenige Menschen werden automatisch daran denken, daß der Würfel 12 Kanten, gegenüberliegende Kanten, 8 Ecken, Raumdiagonalen, benachbarte Flächen etc. hat. Wenn nun die Aufgabe besteht, einen Würfel in Gedanken zu rotieren, wie viele Intelligenztests es fordern, so hat offensichtlich derjenige, der diese Würfelmerkmale gestalthaft vor Augen hat, erhebliche Vorteile.

    Der Kodierungsprozeß wird aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven betont, z.B. aus der Perspektive der Komponententheorie der menschlichen Intelligenz (vgl. STERNBERG 1983).

    Beispiel nach STERNBERG (1983): Die Lösung der Analogieaufgabe "Rechtsanwalt verhält sich zu Klient wie Arzt zu (a) Medizin, (b) kranke Person?" erfordert zunächst die Speicherung der Attribute der verschiedenen Begriffe im Arbeitsgedächtnis (s. S. ff).

    STERNBERG (1983) stellte fest, daß Personen mit guten Leistungen beim Schlußfolgern in Analogien relativ mehr Zeit auf die Kodierung der Aufgabenteile verwenden als auf deren Kombination und Vergleich. Dieses Verhalten wurde auch in anderen Bereichen, wie etwa im Bereich der Raumvorstellung, empirisch gestützt (RÜPPELL et al. 1985, in Vorb.; SNOW 1980). Allgemein liegt der Betonung des sorgfältigen Kodierungsprozesses die Annahme zugrunde, daß eine differenzierte  Kodierung die Basis für das weitere Planen und Ausführen von Strategien darstellt. Aus der Sicht von DÖRNER et al. (1983) ist die sogenannte "Komponentenanalyse" beim Kodierungsvorgang von großer Bedeutung. Dies ist

    "ein Informationsverarbeitungsprozeß, der auf die Frage 'Woraus besteht X' die Antwort gibt 'Aus x1, x2, x3 ... und den Relationen (r(x1; x2), r(x2; x3) usw'" (vgl. DÖRNER et al. 1983, S. 399).

    Diese o.g. Ausdrücke bezeichnen Teil-Ganzes-Relationen, also Relationen zwischen einem Ganzen und seinen Komponenten.

    Beispiel: Wasser === (besteht aus) Wassermolekül === Sauerstoffatom - Wasserstoffatom === Kern, Schale === Proton - Elektron - Neutron.

    Die Mikrooperationen der  Kodierung

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