Musterklausur für Magister, Nebenfach, WS 1999/2000

zur Frage:

"Vergleichen Sie das aktual-genetische Modell der Aggressionsarten nach Kleiter mit anderen allgemeinpsychologischen Erklärungen der Aggression."

Aktual-genetische Modelle der Aggression befassen sich mit der Frage, wie in einer bestimmten Situation Aggression entsteht.

Nach Kleiter entsteht Aggression in Abhängigkeit mehrerer Variablen/Dimensionen. Er beschreibt z. B. verschiedene Motivationen, die zu einer aggressiven Handlung führen können: Die Hauptmotive sind das Erreichen eines Sachziels oder eines Emotionsziels (gutes Gefühl nach aggressiver Handlung).

Des weiteren unterscheidet er aggressive Handlungen, die eine Reaktion auf eine bestimmte Situation darstellen, von solchen, die vom Handelnden selbst initiiert wurden.

In Anlehnung an diese vier Hauptkriterien arbeitet Kleiter acht extreme Aggressionsarten heraus, wobei er grob zwischen anti-sozialer und pro-sozialer Aggression unterscheidet. Während es bei anti-sozialer Aggression immer zu einer Schädigung einer Person kommt, steht bei der pro-sozialen Aggression die "fürsorgliche Gewalt" im Vordergrund.

Im folgenden sollen zunächst die vier anti-sozialen Aggressionsarten beschrieben werden:

Bei einer reaktiv-instrumentellen Aggression handelt es sich um eine Reaktion auf eine vorausgegangene Schädigung gegen die eigene Person. So kann sich z. B. ein Kind das Spielzeug zurückerkämpfen, das ihm selbst vorher gestohlen wurde. Gibt es einen solchen Anlaß nicht, spricht man von einer selbstinitiierten-instrumentellen Aggression. Die aggressive Handlung erfolgt ohne Grund. In beiden Fällen steht ein Sachziel im Mittelpunkt des Interesses (instrumentell!).

Verfolgt der Handelnde ein Emotionsziel, so kann er auch dies als Reaktion auf eine vorausgegangene Schädigung tun. Dabei entsteht in der Regel der Wunsch nach Vergeltung oder Genugtuung. Eine Person zeigt selbstinitiierte emotionale Aggression, wenn sie ohne ersichtliche Ursache aggressive Handlungen vollzieht. Als Motivation kann hier nur "Spaß" am aggressiven Verhalten angenommen werden.

Ein Beispiel für eine pro-soziale Aggressionsart ist die Schadensverhinderung in der Kindererziehung. So kann eine Mutter ihr Kind vor einer konkreten Gefahr bewahren, indem sie es von der heißen Herdplatte wegreißt (reaktiv-instrumentelle Aggression). Ein anderes, haufig auftretendes Verhalten ist die präventive Schadensvermeidung, bei der z. B. dem Kind ohne konkreten Anlaß klargemacht wird, daß es die Herdplatte nicht anfassen soll (Selbst-initiierte-instrumentelle Aggression)

Pro-soziale emotionale Aggressionsarten zeigen sich in unerbittlichem Auftreten des Erziehers (reaktiv-emotionale Aggression) oder als "in Liebe verpackte" Aggression (selbstinitiiert-emotional).

In allen acht Fällen ist entweder ein Sachziel oder ein Emotionsziel als Motivation für die aggressive Handlungen gegeben. Demnach geht Kleiter bei der Aggressionsentstehung von einer Zugmotivation aus. Auch Selbstinitiierte Handlungen sind durch antizipierte Ziele bestimmt.

Dies steht in einem klaren Gegensatz zu einer der ursprünglichsten Aggressionstheorien, der Triebtheorie von Freud. Für Freud ist Aggression immer das Ergebnis eines Triebes (Schubmotivation). Zunächst (vor 1920) sah er Aggression als Folge von nicht-integrierten Partialtrieben an. Später stellte er die Theorie auf, daß ein Aggressionstrieb vorhanden sei, der vom Todestrieb und der Destrudo (?) abgeleitet wird.

In beiden Fällen reagiert der Mensch relativ "hilflos" auf die Forderungen seiner Triebe. Eigeninitiative, sowie selbstgewählte Ziele, kommen in diesem Modell nicht vor.

Eine weitere allgemeinepsychologische Aggressionstheorie ist die Frustations-Aggressionstheorie von Dollard und Miller. Hier wird postuliert, daß eine Aggression immer eine Folge von Frustration sei. So habe jede Frustration eine Aggression zur Folge. Ist dies nicht der Fall, kann dies nur mit einer Aggressionshemmung durch soziale Kontrolle erklärt werden.

Im Vergleich zu Kleiters Modell wird Aggression hier zu einseitig gesehen. Einige der von Kleiter beschriebenen Aggressionsarten ließen sich in diese Theorie nicht integrieren. Eine selbstinitiierte emotionale Aggression kann zwar z. B. Folge einer Frustration sein, muß aber nicht. Genauso gut könnte die Person allein aus "Spaß am Quälen" handeln.

Die Aronsal-Attributionstheorie von Schachter und Singer wirft andere Probleme auf. Während bei Kleiter eine Emotion klar das Ziel einer Handlung sein kann, ist sie bei S. & S. etwas, das der Handlung voraus geht. Es wird angenommen, daß die Intensität einer Emotion auf den Grad der vorhandenen physiologischen Erregung zurückzuführen ist. Die Qualität der Emotion (Freude, Ärger, ...) iwrd dann durch die kognitive Bewertung der Situation bestimmt.

Diese Theorie ist insofern den Triebtheorien ähnlich, als daß nicht erklärt wird, woher überhaupt die physiolog. Erregung (aronsal) kommt. Diese ist aber Grundlage der weiteren "Emotionsentwicklung" bei Schachter und Singer. Folglich kann eine auf diese Art entwickelte Emotion nicht – wie bei Kleiter – das Ziel einer aggressiven Handlung sein; die Emotion ist hier immer nur die Folge von Erregung und kognitiver Bewertung.

Die Ärger-Attribution-Theorie von Ferguson/Rule stellt eine Weiterentwicklung der Schachter und Singer-Theorie dar. Hier wird nicht auf die physiologische Erregung, sondern auf den "Ärger" attribuiert. Ist eine Person aufgrund einer bestimmten Situation verärgert, stellt sie zunächst eine IST-Betrachtung an. Es wird überprüft, ob die Schädigung absichtlich ausgeführt wurde, ob die Motivation boshafter Natur war und ob die Folgen für den "Schädiger" vorhersehbar waren.

Diese subjektiv gewonnenen Überzeugungen werden in einem zweiten Schritt (Soll-Betrachtung) mit "normalen" zu erwartenden Verhaltensweisen in einer ähnlichen Situation verglichen. Besteht nun eine Diskrepanz zwischen IST- und SOLL-Zustand, wird der "Schädiger" für (mehr oder minder) schuldig erklärt. Entsprechend entsteht ein mehr oder minder starker Ärger, der zum Instigator zur Aggression werden kann.

Die Emotion der Ärgers ist hier ein zentrales Element bei der Entstehung von Aggression. Im Gegensatz dazu sieht Kleiter den "Ärger" nur als einen von mehreren möglichen Instigatoren zur Aggression an.

Das Emotions-mal-Kognitions-Aufschaukelmodell von Berkowitz basiert auf der Annahme, daß neun verschachtelte Komponenten die Aggressionsentstehung beeinflussen. Diese Komponenten sind sowohl kognitiver als auch emotionaler Art. Sie wirken parallel, kummulativ zusammen, d.h. in dieser Theorie wird weder die Emotion noch die Kognition an die erste Stelle des Entwicklungsprozesses gestellt. In Anlehnung an Leventhals Drei-Stufen-Emotionstheorie zeichnet Berkowitz folgendes Bild der Aggressionsentstehung: Auf ein Ereignis reagiert der Mensch mit einer Orientierungsreaktion. Wird das Ereignis als unangenehm eingestuft, entsteht automatisch ein unangenehmes Gefühl, welches wiederum den Prozeß des Priming zur Folge hat. Dabei werden nacheinander (automatisch) bestimmte Schemata im Langzeitgedächtnis aktiviert. Daraufhin entsteht ein diffuses Gefühl von Ärger (oder Furcht). Danach setzen die nicht-automatischen reflektorisch-konzeptuellen Prozesse ein. Hierbei handelt es sich um höhere kognitive Prozesse der Bewußtmachung. Es folgt die Differenzierung des Gefühls "Ärger" und die entsprechende Etikettierung ("Ich ärgere mich"). Der Ärger kann dann ein Instigator für aggressives Verhalten (Performanz) sein, muß aber nicht. Ob es tatsächlich zu einer aggressiven Handlung kommt, wird durch diverse performanz-hemmende und –fördernde Faktoren bestimmt.

Eine aggressive Handlung wird z. B. wahrscheinlicher (performanz-fördernd), wenn der Handelnde eine Belohnung für seine Tat erwartet oder wenn er z. B. generell ein eher impulsiver Mensch ist.

Den gegenteiligen Effekt (performanz-hemmend) haben entsprechend eine erwartete Bestrafung oder auch ein hoher Grad von Reflexivität/Selbstkontrolle.

Kleiters Aggressionsarten lassen sich größtenteils in dieses Modell integrieren. So können z. B. klar definierte Sach- oder Emotionsziele als performanz-fördernde Faktoren angesehen werden. Etwas problematischer ist die Frage, ob Berkowitz‘ Modell die Auffassung von der selbstinitiierten Aggression zulässt. Dies ist aber insofern der Fall, als daß Schemata und Skripts nicht nur durch ein Ereignis aktiviert werden. Der Mensch ist durchaus in der Lage (so z. B. bei jedem Prozeß des Nachdenkens!), diese selbst durch Fokussieren zu aktivieren.

Im Gegensatz zu den bisher beschriebenen Aggressionstheorien ist Banduras sozial-kognitive Selbststeuerungs- und Lerntheorie eine phylogenetische Betrachtung. Aggression wird hier nicht als eine momentane Reaktion verstanden, sondern als gelerntes Verhalten.

Aggressives Verhalten wird in sozialen Interaktionen durch Modellernen oder durch eigene, positive Erfahrungen gelernt. Die Motivation ist bei Bandura (in Anlehnung an Heckhausen) immer eine antizipierte Folge. Folgendes Modell soll dies verdeutlichen:

Situation > > Handlung > > Ergebnis > > Folge

                                          Ziel 1              Ziel 2

z. B. Streit > > z. B. Kampf > > z. B. Sieg Macht/ Prestige

Im Hinblick auf die angestrebte "Macht" wird klar, daß der Handelnde siegen muß (Ziel 1), was er durch einen Kampf (Handlung) erreichen kann. Es wird also von der antizipierten Folge rückwirkend auf das "Jetzt" geschlossen. Unter Berücksichtigung der eigenen Kompetenzerwartung werden dann Ziele anvisiert und entsprechende Handlungen ausgewählt.

Die besondere Betonung liegt in dieser Theorie auf der Selbststeuerung. Ein Ziel kann von einem Menschen selbst .. ? ... werden. In der Auswahl seiner Mittel ist der Mensch frei.

Werden Schemata wiederholt erfolgreich aktiviert, hat man eine (aggressive) Verhaltensweise erlernt und so eine "Disposition zu aggressivem Verhalten" erworben.

Kleiters aktual-genetisches Modell läßt sich gut mit dieser umfassenden phylogenetischen Betrachtung in Einklang bringen.

Die bei Kleiter beschriebene Eigeninitiative basiert ebenfalls auf antizipierten Sach-/ Emotionszielen. Kleiter weist selbst ebenfalls darauf hin, daß die verschiedenen Aggressionsarten bei einem Menschen durch Erfolg gefestigt werden. Durch die Stabilisierung der zugehörigen Schemata wurde das aggressive Verhalten gelernt.

Zusammenfassend kann man sagen, daß Kleiters Modell der Aggressionsarten sich in die neueren Aggressionstheorien (Berkowitz und Bandura) gut einfügen lässt.

In allen drei Ansätzen sind die Variablen – Situation, Disposition und Motivation – von zentraler Bedeutung. Die gemeinsame Basis ist die Annahme einer Zugmotivation, so wie die Überzeugung, daß Aggression keine monokausale Erscheinung sein kann.

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