Kurze Beschreibung der Methode
Primäre und sekundäre Quellen
Theoretische und praktische Begründung
Darstellung der Methode
Beispiele
Reflexion der Methode
Praxiserfahrungen

7. Praxiserfahrungen

Die Methode des biografischen Arbeitens ist eine äußerst variable Methode, die in vielen Lebensbereichen zum Tragen kommt. Aufgrund dieser Variabilität und der vielfältigen Einsetzbarkeit der Methode verfügt man beim biografischen Arbeiten über eine Reihe von Praxiserfahrungen. Eine von vielen Varianten des biografischen Arbeitens wird im Folgenden dargestellt. Weitere Anregungen sind unter Darstellung oder Beispiele zu finden. Generell ist es möglich, in allen Lebensbereichen die Methode des biografischen Arbeitens, zum Beispiel mit den hier vorgestellten oder auch selbst kreierten Übungen, anzuwenden.
Zur Darstellung der Praxiserfahrungen wird hier exemplarisch die Biografiearbeit aus einem erfahrungsbezogenen Seminar zum Thema „Zur persönlich richtigen Ernährung finden“ gewählt. Dieses Seminar fand im Sommersemester 1995 an der Bildungswissenschaftlichen Hochschule Flensburg-Universität statt und wurde unter die Rubrik gesundheitspädagogischer Schwerpunkte gegliedert. Es zählte zu den erfahrungsbezogenen Veranstaltungen, die biografisches Lernen einsetzen und gehörte Seminaren zu gesundheitlich bezogenen Schwerpunkten an, die Themen wie Naturerleben, Ernähren, Bewegen, Kleiden und Miteinander leben behandeln.

An dem wöchentlich vierstündigen Seminar, das in einem 1-2-wöchigen Rhythmus Freitagnachmittags vom 07. April bis 14. Juli 1995 stattfand, nahmen 25 Studierende, hauptsächlich aus dem Diplom- und Lehramtstudiengang, teil. Die Leitung der Veranstaltung übernahmen Dozentinnen und fünf Anleiterinnen. Diese führten das sorgfältig für die Seminartage vorbereitete Programm durch. Ein Auszug des Programms ist in Abbildung 7 aufgeführt.

Zu Beginn jedes Veranstaltungstages wurden zunächst einige Übungen zur Entspannung und zur Einstimmung auf den jeweiligen Themenschwerpunkt des Tages durchgeführt, der sich danach richtete, an welchem Standort sich der Kurs innerhalb des Themas befand. Demnach orientierten sich auch die Seminarmethoden und deren Durchführung an dem jeweiligen Standort. Das Ende eines jeden Seminartages war ebenso wie der Beginn festeren Regeln unterworfen und nicht mehr so variabel wie der Verlauf und die Übungen, die sehr stark auf die Interessen und die Situation der Teilnehmer abzustimmen waren. Zum Abschluss wurde von den Dozentinnen und den Anleiterinnen in jedem Fall ein Feedback an die Studierenden gegeben und neue Arbeitsaufträge als Hausaufgaben verteilt, die bis zur nächsten Veranstaltung bearbeitet werden sollten.
Im Verlauf dieses Seminars entstanden mit Hilfe des biografischen Arbeitens sehr unterschiedliche Ess- und Ernährungsgeschichten der einzelnen Studenten/Innen, die Teil der persönlichen Lebensgeschichte waren, und die sich in gesundheitsbezogenen Handlungen des Einzelnen ausdrückten. Es besteht zum Beispiel häufig der Fall, dass Essen und Trinken zu unbewussten Verhaltensweisen werden, die sich auch auf ganz andere Lebensgebiete ausweiten können, als sie normalerweise zum Stillen von Hunger und Durst dienen.

Leitfragen

Themenfelder

Methoden/ Mittel

Wie bin ich geworden?

Einführung in die Biografiearbeit:
-Aufspüren der Wurzeln  
 heutiger Essgewohnheiten

Sich-Erinnern:
- sich erinnern an  
  Esserlebnisse der Kindheit/
  Jugend
- sich erinnern durch
  Objekte, Bilder, Anlässe,
  Gespräche

Woher kommen meine typischen Essgewohn-heiten im Alltag?

Arbeit an der Ess-Biografie:
- Esserlebnisse aus Kindheit 
  und Jugend

Freie und gelenkte Fantasiereisen zur Ess-Biografie:
- Belebung vergessener  Innenbilder
- bildnerische Darstellung  der belebten Bilder

 

Arbeit an der Ess-Biografie:
- Erinnerung an Esserlebnisse
  Zeitleiste zur Ess-Biografie

Sinnesübungen zum Riechen und Schmecken:
- Geruch und Geschmack von  Nahrung erinnert
- Zeichnen einer Zeitleiste zur  Ess-Biografie, Einordnen
  der Erinnerungsbruchstücke

 

Arbeit an der Ess-Biografie:
- Einführung in die Arbeit mit
  der Lebenslinie

Entfaltung der Lebenslinie auf  3 Ebenen:
- typische Gewohnheiten des Essens und Trinkens im Alltag
- Entstehungszeitpunkte und  Zusammenhänge im Lebenslauf
- Verstehen aus der eigenen Geschichte und Bedeutung
  für gesundheitsbezogenes  Handeln heute

 

Standortbestimmung:
- Wie bin ich geworden?
- Woher kommen meine
  typischen Essgewohnheiten
  im Alltag?

Visualisieren und reflektieren der Ergebnisse:
- Bewegtes Bild, Szene, Gedicht, Lied usw.
- Wahrnehmen, verstehen und auswerten

Abbildung 7: Auszug aus dem Gesamtprogramm des Sommersemesters 1995 des erfahrungsbezogenen Seminars mit dem Schwerpunkt „Ernähren“ (Heindl, Rüth, Wilke in Schulz 1996, 104)

Um die Erfahrungen der Teilnehmer aus diesem Seminar deutlicher herauszustellen geben wir einige originalgetreu übernommene Auszüge aus der Geschichte des 26-jährigen Diplomstudenten Alex wieder.
Zu Beginn der Veranstaltung sollten die Studenten ungefähr ein bis zwei Wochen ihr Essverhalten beobachten, dieses in Protokollen, Tagebüchern oder ähnlichem festhalten und dann ihre Verhaltensweisen beim Essen und Trinken in Klein- und Kleinstgruppen diskutieren. Zunächst war Alex, der unter der Krankheit Gastritis leidet, gegenüber dem Seminar misstrauisch und zurückhaltend, obwohl er sich aufgrund seiner Krankheit eigentlich für dieses Thema interessieren müsste. Im weiteren Verlauf änderte sich Alex Einstellung gegenüber der Veranstaltung und er stellte bei der Bearbeitung der ersten Leitfrage „Wer bin ich heute in Bezug auf mein Essen und Trinken?“ in seinen Ausführungen fest: „Ich brauche alles, was ich kriegen kann. Mein Körpergefühl beim Essen kann ich mit ‚Loch im Bauch’ beschreiben“. Ebenso bemerkten die anderen Studenten bei sich solche Gegebenheiten und alle mussten feststellen, dass ihre Essgewohnheiten und deren Veränderungsmöglichkeiten auf biografische Aspekte zurückzuführen sind. Aus diesem Grund verfolgten die Teilnehmer ihren Lebensweg zurück, um sich Erinnerungen über ihr Verhalten im Umgang mit Essen und Trinken ins Gedächtnis zu rufen. Der Ausgangspunkt für diesen zweiten Schritt bildete die Leitfrage: „Wie bin ich geworden? Woher kommen meine typischen Essgewohnheiten im Alltag?“
Der Auftrag der Teilnehmer lautete daher, sich früh erworbene Erfahrungen des Ess- und Trinkverhaltens, mit Hilfe persönlicher Gegenstände wie zum Beispiel Kinderlöffel, Fotos, Gerüche und Geschmäcke in Erinnerung zu rufen. Diese sollten sie dann in Zeichnungen, Collagen, Gesprächen, schriftlichen Ausführungen usw. darstellen. Während des Rückblicks auf die Essgewohnheiten und deren Zusammenfallen mit bestimmten zeitlichen Lebenseinschnitten erfuhren die Studenten bewusst, dass zwischen den beiden Faktoren ein Zusammenhang bestand. Bei Alex trat zum Beispiel das erste Mal seine Krankheit zur selben Zeit auf, in der der Vater immer angespannter geworden ist und die Atmosphäre bei ihm zu Hause nicht sehr harmonisch war. Weiterhin wurde Alex deutlich, dass er bisher in seinem Leben verschiedene Stufen bezüglich seines Essverhaltens durchschritten hat. Essen hatte für ihn zunächst eine Existenz sichernde Bedeutung, dann übernahm es die Rolle des Stressfaktors, daraufhin wurde für Alex das Essen Entspannung und heute kann er genussvoll essen. Sein Verhalten gegenüber Nahrung ist Alex aber erst in diesem erfahrungsbezogenen Seminar wirklich bewusst geworden und er hat dabei etwas sehr wichtiges erkannt: „Durch das biografische Arbeiten wurde eine Ebene meiner Person berührt, die ich als Traurigkeit kenne, die ich jedoch nur selten nach außen lasse. Im Gegenteil, ich präsentiere mich anderen Menschen eher mit meinen fröhlichen Seiten. Traurigkeit und Geborgenheit sind für mich unauflöslich mit meiner Mutter verbunden. Meine Traurigkeit drückt meinen Wunsch nach Nähe aus. Ich verstehe jetzt besser, dass ich meinen Wunsch nach Nähe mit Nahrung abspeise, eine gefahrlose Möglichkeit der Zuwendung“.
In der letzten Phase des Seminars beschäftigten sich die Teilnehmer mit der Leitfrage: „Was will ich, kann ich verändern? Was kann ich tun?“ Diese Überlegungen richteten sich auf die Zukunft des Einzelnen, wie der Einzelne die gewonnen Erfahrungen für sich weiter einsetzen kann. Alex fragte sich zum Beispiel: „Inwieweit kann ich mit weniger- auch an Nahrung- auskommen, oder kann ich sogar ganz auf etwas verzichten?“
Jeder der Teilnehmer verließ das Seminar mit Vorsätzen und Entscheidungen für die Zukunft, wie sie besser mit ihrem Essverhalten umgehen sollten. Alex äußerte sich hierzu: „Mein Standort heute hat sich insbesondere durch die überraschenden Zusammenhänge aus meiner Ess- und Ernährungsgeschichte verändert. Ich bin neugierig geworden, denn der Zusammenhang von Traurigkeit, Geborgenheit mit meinem Essverhalten war mir nicht bewusst. Ich verstehe mein Viel-zu-viel-Essen, mein Abtöten von wirklichen Bedürfnissen, jetzt besser. Das führt mich an die Frage: Wo ist in meiner Ernährung  weniger mehr? Hierzu will ich weiter ausprobieren, will ich in kleinen Schritten Veränderungen weiter verfolgen. Mir ist auch klar, dass ich irgendwann durch Fasten erfahren möchte, zeitweilig ganz auf Nahrung verzichten zu können. Ich habe die Bedeutung dessen erfasst, es mir jedoch nicht als Ziel gesetzt….“ (vgl. Heindl/Rüth/Wilke in Schulz 1996, 100-113).