Die Beobachtung, dass sich
Biografien zunehmender Beliebtheit erfreuen, ist mittlerweile fast
zu einem feuilletonistischen Gemeinplatz geworden. So widmete etwa
der “Spiegel“ in seinem Special-Heft zur Buchmesse 2002 einen
Schwerpunkt dem „Boom der Lebensbeschreibungen“ (S. 4) und in den
Literaturbeilagen der Zeitungen nehmen Rezensionen zu Biografien
stets einen großen Raum ein. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit
Biografien ist dagegen ausgesprochen spärlich. Zwar setzt sich im
deutschen Sprachraum allmählich eine verstärkte Akzeptanz der
Biografik als wissenschaftlicher Arbeitsform durch, doch selbst ein
allgemein anerkannter Historiker wie Joachim Fest, sieht sich nach
wie vor dazu gezwungen, seine biografische Methode zu rechtfertigen
(vgl. Die Zeit vom 20.03.2003). Gerade im Zuge von Veränderungen in
der aktuellen Kunstszene, die die performativen Anteile von
künstlerischer Produktivität unterstreichen, kommt der
Persönlichkeit des Künstlers wieder eine verstärkte Bedeutung zu.
Die Biografik erlangt vor diesem Hintergrund eine besondere
Aktualität.
Entsprechend dieser Aufwertung der Biografik sind in jüngerer
Zeit einige Publikationen erschienen, die die Biografie als Genre
selbst zum Thema machen, wobei allerdings die Tendenz vorherrscht,
sich eher speziellen Aspekten der Auseinandersetzung mit
Lebensbeschreibungen zu widmen. So befasst sich der von Andreas
Schüle herausgegebene Sammelband zum Thema „Biographie als
religiöser und kultureller Text“ (Münster 2002) vor allem mit
religiösen Aspekten der Biografik und die von Irmela von der Lühe
und Anita Runge verantwortete Ausgabe von „Querelles. Jahrbuch für
Frauenforschung“ mit dem Titel „Biographisches Erzählen“ (Stuttgart
2001) diskutiert entsprechend des Fokus des Forums insbesondere
Geschlechter- und Genderfragen des biografischen Arbeitens.
Große Hoffnungen setzte der biografisch interessierte Leser in
den von Christian von Zimmermann edierten Band „Fakten und
Fiktionen. Strategien fiktionalbiografischer Dichterdarstellungen im
Roman, Drama, Film seit 1970“ (Tübingen 2000), ist doch der Aspekt
der Fiktionalität einer der umstrittensten Aspekte hinsichtlich der
Glaubwürdigkeit biografischer (und auch autobiografischer) Texte.
Hier bietet von Zimmermann durchaus anregendes Material. Leider
blendet er die faktischen Biografien vollständig aus und enttäuscht
insgesamt die Erwartungen an eine pointierte Biografik-Diskussion,
wobei besonders die Einleitung des Herausgebers verärgert, der die
Gelegenheit ungenutzt verstreichen lässt, das Thema seines Bandes in
einen größeren Kontext einzubetten und historische Entwicklungen
nachzuzeichnen, statt über große Strecken die aufgenommenen Beiträge
nachzuerzählen.
Es schien fast so, als würden sich die Geistes- und
Sozialwissenschaften angesichts eines offensichtlichen
Theorie-Desiderats, vor einer Diskussion, die für eine breitere
Öffentlichkeit von Interesse scheint, in Experten-Runden
zurückziehen. Mit Skepsis musste man daher dem von Christian Klein
herausgegebenen Sammelband „Grundlagen der Biographik“ begegnen,
schien doch bereits der im Titel formulierte Anspruch
außerordentlich anmaßend. Klein unternimmt den Versuch, einen
systematischen Überblick über „Theorie und Praxis des biographischen
Schreibens“ (so der Untertitel) zu bieten. Dieser Versuch ist
zweifellos entstanden aus der Erkenntnis der mangelnden
wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Genre, die dazu
führte, dass es bislang kaum grundsätzliche Arbeiten zum Thema gibt.
Der vorzustellende Sammelband erhebt den Anspruch, diese Leerstelle
zu füllen und eine Art Einführung in die Biografik zu bieten, d.h.
relevante theoretische Tendenzen aus den verschiedenen biografisch
arbeitenden Disziplinen zusammenzufassen, Berichte aus der Praxis
des Biografen zu bieten, anhand von literaturwissenschaftlichen
Fallbeispielen die Chancen einer modernen Biografik zu
veranschaulichen sowie die rechtlichen Probleme des biografischen
Arbeitens zu klären. Das Ergebnis dieses Versuchs kann als überaus
gelungen bewertet werden.
Die Einleitung von Klein bietet ausgehend vom gegenwärtigen Boom
der Biografien eine prägnante Einführung in das Genre. Wesentliche
Positionen der Geschichte und theoretischen Entwicklung der
Biografie werden nachgezeichnet, was auch für Nicht-Spezialisten
durchaus verständlich ist. Dabei räumt Klein en passant mit einigen
fundamentalen Fehleinschätzungen dem Genre gegenüber auf, das von
jeher mit einer Position zwischen den Wissenschaften, zwischen
Primär- und Sekundärliteratur zu kämpfen hatte. Klein legt seinen
Finger auf den wunden Punkt eines modernen
Wissenschaftsverständnisses, das sich nämlich allerorten dazu
bekennt, den Auszug aus dem Elfenbeinturm zu unterstützen und
interdisziplinär zu arbeiten, das jedoch unmittelbar im Anschluss
zum Althergebrachten zurückkehrt. In diesem Sinne ist auch Kleins
Einleitung zu lesen, die nicht als enzyklopädischer Überblick
missverstanden werden sollte, sondern als Positionierung des Bandes
in der aktuellen Biografie-Debatte. Die Sichtachsen, die Klein in
das Unterholz der Biografik schlägt, sind breit, und der Weg, auf
den er seine Leser mitnimmt, wird bisweilen sehr schnell
beschritten. Doch es gelingt ihm hierdurch nicht nur, das Potenzial
des Themas unmittelbar und begeisternd zu vermitteln, sondern sich
auch von seiner wissenschaftlichen Konkurrenz klar abzugrenzen. Dem
biografischen Arbeiten, so verdeutlichen die Beiträge des Bandes
insgesamt, ist vor dem Hintergrund der verschiedenen
biografisch arbeitenden Disziplinen ein interdisziplinärer
Ansatz inhärent und die Beschäftigung mit Biografik führt
unmittelbar in zentrale, aktuelle Problembereiche der Geistes- und
Sozialwissenschaften.
Die Aufsätze des Bandes, verfasst sowohl von biografisch
arbeitenden Wissenschaftlern als auch von theoriebewussten
Literaten, widmen sich, größtenteils auf hohem Reflexionsniveau,
verschiedenen Aspekten biografischen Schreibens und lassen sich in
drei Gruppen aufteilen: Den ersten Schwerpunkt bilden Beiträge, die
eine Übersicht über den gegenwärtigen Stand der Biografie-Theorie
vermitteln wollen, beginnend mit den „Überlegungen zu einer Theorie
der literaturwissenschaftlichen Biographik“ von Peter-André Alt.
Weitergeführt und disziplinär aufgefächert wird die Frage nach der
Theoriefähigkeit des biografischen Arbeitens im Beitrag von Sigrid
Weigel, die, ausgehend von postmodernen Ansätzen, das postalische
Prinzip biografischer Darstellungen erörtert. Im Anschluss an
Derridas Konzept der „Carte Postale“ definiert Weigel, in nicht
immer leicht lesbarer Diktion, die Biografie eines Autors als ein
Netz aus „Korrespondenzen und Konstellationen“. Ulrich Rauff widmet
sich in einem äußerst instruktiven Aufsatz dem oftmals gespannten
Verhältnis von Biografik und Geschichtswissenschaft, wobei er vor
allem Wert darauf legt, dass die Legende, die ein Mensch im Laufe
seines Lebens aufbaut, mitreflektiert werden müsse. Christian Klein
überprüft den Nutzen biografischer Ansätze aus der Soziologie für
die Literaturwissenschaften.
Die originär soziologischen Konzepte hält Klein für
undifferenziert, da sie nicht zwischen autobiografischen Primär- und
biografischen Sekundärtexten unterschieden, betont jedoch die
besondere Bedeutung des Bourdieu´schen Habitus-Ansatzes für eine
Form der Biografik, die die Inszenierungstendenz eines Menschen
hinterfragen will. Anregend ist die Verbindung, die Klein zwischen
Biografik und kulturellem Gedächtnis zieht, weist er damit doch auf
eine herausragende epistemologische Relevanz von Biografien hin.
Thomas Anz eröffnet ausgehend vom großen Interesse an
Krankheitsgeschichten Einblicke in das Verhältnis von Psychoanalyse
und biografischem Schreiben. Aufschlussreich sind hierbei auch die
Reflexionen, die Anz auf einer Meta-Ebene anstellt, wenn er nach der
Funktion des biografischen Schreibens für den Biografen fragt und
aufzeigt, inwieweit psychoanalytische Biografik relevant für die
aktuellen Diskussionen um den Zusammenhang von Identität und
Narration sein können. Es folgen einige Aufsätze, die sich weniger
am Theoriestand einzelner Disziplinen abarbeiten, sondern vielmehr
spezielle Fragen thematisieren, die im Rahmen des biografischen
Arbeitens bedeutsam sind: Das stets prekäre Verhältnis von
Genealogie und Biografik wird von Giorgi Maisuradze bestimmt; die
Wirkung einer selbstreflexiv erfassten Geschlechterdifferenz in der
literaturwissenschaftlichen Biografik arbeitet Anita Runge heraus.
Dass durch mediale Innovationen die Informationen über menschliches
Leben und damit auch die Biografik beeinflusst werden,
betonen David Oels und Stephan Porombka in einem Beitrag zu den
Problemen der Biografik im digitalen Zeitalter. Überraschenderweise
gelangen sie letztlich zu dem Fazit, dass ungeachtet aller
technologischen Fortschritte die Biografik im Cyber-Zeitalter nicht
über den bereits in den 1970er Jahren von Biografen wie Dieter Kühn
erreichten Stand hinaus gelangt: Schon damals hätten die Biografen
ein Leben virtuell in verschiedenen Versionen durchgespielt und dem
Leser eine Möglichkeit zur Mitgestaltung des Ergebnisses ermöglicht.
Damit wäre bereits der zweite Schwerpunkt des Bandes angerissen, der
sich einerseits in zwei Aufsätzen anhand der Analyse verschiedener
Biografik-Beispiele der Relevanz der Biografie für die
literaturwissenschaftliche Arbeit widmet. Gary Schmidt vergleicht
die verschiedenen Biografien von Thomas Mann am Beispiel ihres
Umgangs mit der Entstehung der Novelle „Der Tod in Venedig“. Werner
Altmann geht der Frage nach, inwieweit die Tabuisierung von Lorcas
Homosexualität auf die Rezeption von Leben und Werk einwirkte. Drei
Berichte von den eigenen Erfahrungen beim Schreiben von Biografien
erlauben andererseits Einblicke in die Chancen und Schwierigkeiten
biografischen Arbeitens.
Hermann Kurzke, Dieter Kühn und Sander L. Gilman plädieren einmal
mehr für die Aufhebung der fragwürdigen Grenze zwischen Literatur
und Wissenschaft, die angesichts eines Genres wie der Biografie
nachgerade kontraproduktiv wirkt. So könnte der wissenschaftliche
Biograf vom literarischen Biograf viel lernen, vor allem wenn es um
die Teleologie der biografischen Darstellung geht, die in der
Wissenschaft noch allzu häufig bedient wird, wenngleich jeder Mensch
aus eigener Erfahrung die fundamentale Auswirkung der Kontingenz auf
den Lebensweg kennt. Den abschließenden Schwerpunkt des Bandes
bilden zwei beeindruckende Aufsätze von Andreas von Arnauld, in
denen erstmals eine Übersicht über die Rechtsfragen des
biografischen Schreibens geliefert werden für den Gebrauch in
der Praxis handhabbar gemacht durch die Unterteilung in Probleme bei
der Recherche bzw. Zu-Beachtendes im Rahmen der Publikation.
Das Buch von Christian Klein muss wirklich als frischer Wind im
Blätterwald der Biografik bewertet werden. Es sei aufgrund der Fülle
der angesprochenen Aspekte und Thesen jedem, der sich mit dem Genre
Biografie beschäftigen will, nachhaltig zur Lektüre empfohlen
ob als Orientierung zum Einstieg oder zum Nachschlagen bei
spezifischen Fragen. Bleibt zu hoffen, dass die hier versammelten
Beiträge die wissenschaftliche Diskussion auf dem Feld der Biografik
nachhaltig beleben.