Kersten Reich: Die Ordnung der Blicke. Band 1: Kapitel 1

   

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I. Der Beobachter 

 

1. Die „Ordnung der Dinge“ und die Heraufkunft der Beobachter
                 
Die Ordnung der Blicke ist in der Wissenschaft mehr als ein spontanes Schauen: In ihr sind die Perspektiven von Beobachtern eingefangen, die sich zu dem verdichten, was in historischer, systematischer, vergleichender oder je gewählter Perspektive als Beobachtung gilt. Solche Beobachtung wird zur Ordnung eines Diskurses, der die Blicke hin zu Aussagen überschreitet, der – wie Michel Foucault es formulierte – in eine „Ordnung der Dinge“ übergeht. Und in dieser Verdinglichung zeigt gerade die von uns ständig neu erfundene Geschichte dieser Ordnungen, dieser Diskurse, dieses Ringens um Wissen und Wahrheit, dass die Augen-Blicke, die Über-Blicke, der Fokus der Blicke in ihrer Tiefe und Breite, die Schärfe des Blickens und die Unschärfe der Ränder, die dabei übersehen werden, eine Metapher für alle Versuche wissenschaftli­cher Arbeit überhaupt sind: Einen Anfang, einen Ursprung, ein intuitiv richtiges Schauen bis hin zu einem exakten, eindeutigen Beobachten zu begründen.
Das Buch die „Ordnung der Dinge“ von Foucault beginnt mit einer minutiösen Beschreibung der Meninas von Velazques (siehe nächste Seite), genauer mit Blicken in den Raum eines Bildes, in dem ein Maler vor einem Bild steht, in dem der äußere Betrachter – also wir – einen Maler vor einer Leinwand beobachtet, deren bloße nichtssagende Rückseite für uns sichtbar ist, obgleich ein Spiegel im Hinter­grund den König und die Königin als scheinbar wirkliches Modell dieser Leinwand für uns ebenfalls schemenhaft abbildet. Im Vordergrund aber spielen die Hoffräulein mit der Infantin, seitlich von ihnen steht der Maler, den Pinsel in der Hand und mit forderndem Blick, der uns, den Beobachtern dieses Werkes, als Botschaft von Perspektiven erhalten bleibt. Aber unser Blick flieht auch in den Hintergrund des Bildes, wo ein Mann in ausgewiesener Perspektive in einer hellen Tür steht, die auf andere Räume des Blickens verweist.1
Warum beginnt Foucault die „Ordnung der Dinge“ mit diesem Bild und einer sehr ausführlichen Interpretation? In den Dingen selbst scheint mit dem Beginn der Mo­derne eine Art der Repräsentation hervorzutreten, die als System von Identität und Differenz, als Verdopplung ihrer selbst und als Reflexion durch einen Betrachter erscheinen. Die Leerstelle ist das gemalte Bild, dessen Rückseite wir an den Rand gerückt sehen, obgleich der König doch noch das Zentrum aller Repräsentation hätte sein sollen und hier auch in der Spiegelung erscheint: So aber – durch Markierung dieser Leerstelle – zeigt sich dieses Bild als Ausdruck eines neuen Blickens und neuer Möglichkeiten: als Repräsentation. Die Repräsentation mag eine Gefangenschaft sein, denn sie ist ein Kontext, aber sie ist auch eine Befreiung, seit wir aus dem Zeitalter des Souveräns und einseitiger Verfügungs­gewalt über das richtige Blicken hinausgetreten sind. Die Blicke und Spiegelungen rücken jetzt vor die traditionelle symbolische Mitte – den König.

Velazquez: Meninas

Das Wissen im klassischen Zeitalter – zwischen Renaissance und Moderne – ist zunehmend durch solche Repräsentation bestimmt: Mit dem 17. Jahrhundert bildet sich ein neuer Raum des Blickens, in dem der Raum der möglichen Zeichen stetigzugunsten eines Raumes von Repräsentationen verschwindet.2 Erneut ein Bild: Don Quichotte ist für Foucault ebenfalls eine Perspektive, den Bankrott der Zeichen von Meistern und Helden, von bloß mächtigen Männern aufzuweisen und die Welt der Repräsentation einzuführen. Don Quichotte ist eine komische Figur, die als Abbild wirklicher Heldentaten nicht mehr taugt, sondern der Vernunft selbst zu einem Spiel mit Zeichen und Ähnlichkeiten verhilft, um daraus die Souveränität der Sprache, die sich von den Dingen löst, hervortreten zu lassen. Don Quichotte, der die Dinge für das nimmt, was sie nicht sind, der die Vertrauten verwechselt und die Fremden wiedererkennt, der demaskiert, obwohl er selbst zur Maske wird, er erscheint als Narr dessen, was das positive Wissen begehrt. Denn nur die Welt des positiven Wissens weiß sich in den Dingen sicher: Als Naturgeschichte, die die Kontinuität und Verzahnung von Welt sich konstruiert; als Theorie des Geldes und des Wertes, die sich auf den Tauschakt gründet und zwischen Bedürfnissen und Wünschen von Menschen ein Gleichgewicht erfindet; schließlich als Grammatik, die als Zeichentheorie die Besonderheit der Wahrnehmungen ordnen und die Bewegung der Gedanken zerschneiden soll (vgl. Foucault 1993 a, 109 f.). Solche repräsentative Ordnung der Dinge hat sich als Wissen differenziert, in Wissen­schaften institutionalisiert und ist als Schul­wissen in disziplinierender Hinsicht in die Bemühungen zurückgekehrt, um für richtiges Blicken bei den Heranwachsenden zu sorgen. Solche Sorge ist von Ausschließungen begleitet, von dem Wahn eines Diskurses, der sich selbst als positiv und empirisch abgesichert gegenüber allem wähnt, was an ihm bestritten werden könnte. Er lebt in Klassifikationen, in Auf- und Unterteilungen von Wirklichkeit, im Erscheinen von Disziplinarmächten, um das zu repräsentieren, was als Ordnung der Dinge „wirklich“ ist.
Aber wie wirklich ist diese Wirklichkeit? Die klassische Ordnung wirkt bis in die heutige Zeit fort, obgleich diese gegenüber dem klassischen Zeitalter der Repräsentation durch einen Riss geteilt ist. Die Repräsentation hatte über die letzten Jahrhunderte nicht die Kraft, in den unterschiedlichen Bereichen des Blickens ihre endlosen Ketten, Zerlegungen, Spezialisierungen wieder zu vereinigen, um sich als Tableau des Blickens zu rechtfertigen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde – insbesondere in der Naturgeschichte, der Theorie des Geldes und Wertes und der Sprache: Also in den Beobachterbereichen Leben, Arbeit und Sprache – erkennbar, dass es gegenüber den Repräsentationen eine Art Hinterwelt geben musste, die „tiefer und dicker als sie selbst ist. Um den Punkt zu erreichen, an dem sich die sichtbaren Formen der Wesen verknüpfen – die Struktur der Lebewesen, der Wert der Reichtümer, die Syntax der Wörter –, muss man sich jenem Gipfel, jener notwendigen, aber nie zugänglichen Spitze zuwenden, die sich außerhalb unseres Blicks in die Richtung der Herzen der Dinge gräbt.“ In dieser Essenz entgehen die Dinge jedoch in ihrer nunmehr veränderten Wahrheit dem Raum des Tableaus: „Anstatt nichts weiter als die Beständigkeit zu sein, die gemäß denselben Formen ihre Repräsentationen einteilt, drehen sie sich um sich selbst, geben sich ein eigenes Volumen, definieren sie einen inneren Raum, der für unsere Repräsentation außerhalb liegt. Ausgehend von der von ihnen verborgenen Architektur und der Kohäsion, die ihre unangefochtene und geheime Herrschaft über jeden ihrer Teile aufrechterhält, geben vor dem Hintergrund dieser Kraft, die sie entstehen lässt und gewissermaßen unbeweglich, aber noch vibrierend in ihnen bleibt, die Dinge sich in Fragmenten, Profilen, Stücken, Splittern, wenn auch stückweise, der Repräsentation.“ (Ebd., 295)
Der Ordnungsraum der Moderne verändert also die Tableaus der Wahrheit, indem er sie als zeitliche Abfolge, als Stückwerk einer arbeitenden Subjektivität, als Zerrissenheit eines Bewusstseins wiedergibt, das sich die Wirklichkeit und sein Wissen hierüber aus dem Grund seiner Geschichte und Traditionen anzueignen bemüht, so dass ein Riss zwischen die Dinge „da draußen“ und dem Wissen dieses Subjekts getreten ist. So wird die Identität zwischen Dingen und Menschen gespalten, zerrissen, um die Repräsentationen zu verändern: Die Dinge „da draußen“ und der Mensch scheinen in eine Koexistenz zu treten. „Was dann in dieser Koexistenz des Menschen und der Dinge durch die große räumliche Ent­faltung, die die Repräsentation eröffnet, hindurch entdeckt wird, ist die radikale Endlichkeit des Menschen, die Dispersion, die ihn gleichzeitig vom Ursprung fernhält und ihn ihm verheißt, der unumgängliche Abstand der Zeit.“ (Ebd., 406)
Mit dem Verlust der Unendlichkeit und eines sicheren Ursprungs in der Zeit werden alle Repräsentationen brüchig. Aber diese Brüchigkeit mündet nicht in reinen Subjektivismus. Denn für das Subjekt ist der Ursprung nie der Beginn, „eine Art erster Morgen der Geschichte, seit dem sich alle späteren Errungenschaften angehäuft hätten. Der Ursprung liegt eher in der Weise, in der der Mensch im allgemeinen, jeder Mensch sich nach dem bereits Begonnenen der Arbeit, des Lebens und der Sprache artikuliert. Er ist in jener Falte zu suchen, in der der Mensch in aller Naivität eine seit Jahrtausenden bearbeitete Welt bearbeitet, in der Frische seiner einmaligen jungen und prekären Existenz ein Leben lebt, das bis in die ersten organischen Formationen zurückgeht; in der er Wörter in noch nie gesprochenen Sätzen (selbst wenn Generationen sie wiederholt haben) zusammensetzt, die älter sind als jede Erinnerung. In diesem Sinne ist zweifellos die Ebene des Ursprünglichen für den Menschen das, was ihm am nächsten ist: jene Oberfläche, die er unschuldig, stets zum ersten Mal be­schreitet und auf der seine kaum geöffneten Augen ebenso junge Gestalten wie sein Blick entdeckt, – Gestalten, die nicht älter sind als er, aber aus einem entgegengesetzten Grund. Nicht, weil sie ebenso jung sind, sondern weil sie einer Zeit angehören, die nicht das gleiche Maß und die gleichen Grundlagen haben wie er.“ (Ebd., 398) Solche Gestalten existieren sowohl im Nach- wie Nebeneinander: Sie entstammen den Nebeln der historischen wie multikulturellen Welten.
Der Verlust des Ursprunges ist der Gewinn der Endlichkeit. Und aus dieser Endlichkeit entspringt dem Denken eine neue Aufgabe: Sowohl die Unendlichkeit als auch die zeitlos gültig scheinenden Ursprünge der Wahrheit des Wissens sind ständig in Frage zu stellen, um sie hieraus neu zu begründen, „indem die Weise wiedergefunden wird, auf die sich die Möglichkeit der Zeit gründet, jener Ursprung ohne Ursprung und Anfang, von wo aus alles seine Entstehung haben kann.“ (Ebd., 400) Auch wenn diese Entstehung wieder im Laufe der Zeit zerfallen mag, so bleibt sie als ständiger Rest einer Suche nach Wissen und Wahrheit, wie sehr diese Suche selbst als eine Aufgabe denunzierbar ist, weil sie eine Konstruktion von Wirklichkeit ist. Damit aber verwandelt sich die Koexistenz der Menschen und Dinge auch in den Blick, der vom Menschen ausgeht, und der all sein Handeln stets als ob­jektivierende Suche nach Perspektiven, Sinn und Verständnis begleitet. Und fallen Menschen und Dinge auch nicht zusammen, und bleibt auch Differenz zwischen dem Denken und der Wirklichkeit, so erscheint die Differenz dem Menschen verstärkt als Ausdruck des Blickens und Sagens selbst.
Ein solcher Wendepunkt des Denkens ist bereits bei Kant zu erkennen, wenn er seine drei kritischen Fragen stellt: 1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen? In diesen Fragen ist, wie Foucault folgert, eine vierte Frage impliziert: Was ist der Mensch? (Vgl. Kant 1922, 343, Foucault 1993 a, 410).
Diese Fragen nach dem Menschen durchziehen das 19. Jahrhundert und bestimmen bis heute insbesondere das Denken der Humanwissenschaften. Und obgleich Kant die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis durch die wesentliche Unterscheidung von Empirischem und Transzendentalem zutreffend für nachfolgende Forschungen bestimmt, so nimmt die Fragestellung, wie Foucault schließt (1993 a, 410), unter der Hand eine Vermengung vor: Nur nach der Seite der schönen Seele erscheint eine Anthropologie, die dem Menschen sein endliches Reich im allgemein Menschlichen wiederfindet, doch weniger poetisch und moralisch bleibt am Ende eine empirisch-kritische Reduplizierung des Menschen übrig, in der man ihn aus der spezifischen Sicht der Natur, des Warentau­sches oder der Reichtümer in eine endliche Geltung mit unendlichen Ansprüchen verstrickt sieht.
Solche Verstrickungen sind zahlreich und keineswegs beliebig. Insbesondere die ökonomischen, sozialen, kulturellen, politischen und religiösen Kräfte im Wider­streit von Interessen und hegemonialer Durchsetzungen bestimmen auch die gedanklichen und geistigen Konstruktionen der Epochen bzw. das Vergessen, das jenen Zuteil wird, deren Konstruktionen nicht in den Plan der hegemonialen Geschichte und ihrer Politik zu fallen scheinen. Abweichungen sind immer möglich, teilweise auch reizvoll, solange sie nicht den Gang der Interessen und ihrer Machthaber zu stark tangieren. Dort, wo die differenzierenden Wissenschaften des 19. Jahrhunderts bis ins 20. Jahrhundert sich bemühen, vor solchen Hinter-Gründen empirische Orte als Wahrheitsansprüche zu sichern, gebietet ihnen bereits die Macht der Interessenlagen die Deutung ihrer transzendentalen Urteile auf die Zeitkonfigurationen abzustimmen und die Auswahl ihres Schauens und die Gesten ihrer Interpretation in einem viablen Rahmen für bestimmte Interessen zu halten. So beginnt ein Ringen und Wechselspiel zwischen empirischen Positivitäten und transzendentalen Mutmaßungen, die einander ergänzen und doch allesamt eines auf lange Sicht ausdrücken: Die Endlichkeit von Sichtweisen wie sie den Endlichkeiten wechselhafter Interessen im kulturellen Wandel und unterschiedlichen gesellschaftlichen Verhältnissen entspricht.
Im 19. Jahrhundert hat die Aufklärung über die Interessenlagen ein sehr hohes Niveau erreicht. In umfassender philosophischer Reflexion misst Hegel den Kosmos philosophischer Bestimmungen ab, um einer enthistorisierenden Sicht seiner Vorgänger – insbesondere noch bei Kant – zu entkommen und das Wesentliche des Weltgeistes in seiner Entwicklung zu einer letzten großen Zusammenfassung zu führen, deren Scheitern als „letzte“ große Metaerzählung eine großartige Fundgruppe für die reflexiven Muster der bürgerlichen Moderne bis heute bietet. Die Vernunft dieser Moderne erscheint nun als selbst gewachsen und nicht a priori konfiguriert und immer schon vorausgesetzt, was einen kritischen Stachel für alle Zukunft von Philosophie bedeutet. Auch Hegels eigener Versuch muss sich daran messen, nur ein Beitrag im Nach- und Nebeneinander des Weltgeistes zu sein, auch wenn seine Intention eine größere in der Suche nach einer metatheoretischen Konfiguration dieses Weltgeistes selbst war – ein Versuch, der scheiterte, und ein Scheitern offenbart, das im Scheitern eine Größe zeigt. Hegels Reflexionen auf Grundmuster dieser Vernunft werden uns nachfolgend mehrfach beschäftigen, auch wenn ich aus dem großen idealen Gebäude in die Ruinen des Nachlasses wechsle und aus diesen nur einzelne Hinterlassenschaften betrachten werde.
Ludwig Feuerbach hat sich die Interessen der Religion vorgenommen und dabei eine Dekonstruktion betrieben, deren Wirkung die Emanzipation aus religiöser Denkgefangenschaft vorantrieb.3 Die Trennung von Glauben und Wissen wurde zu einem neuen Fundament, auf dem Wissenschaft bis heute erst frei gedeihen konnte. Und wenn Feuerbach hierzu Reflexionen des Zweifels und der Kritik bot, so vernichtete die Evolutionstheorie Darwins die gerechtfertigte Begründung einer biblischen Geschichte, die als Behauptung bis dahin nicht nachhaltig genug kritisiert werden konnte. Damit wurden nicht nur mythisch-religiöse Angaben kritisch hinterfragbar, sondern es konnte auch gefragt werden, aus welchen Interessen und Auswahlkriterien heraus, mit welchen Nutzen und welchen Wirkungen das Wissen oder der Glauben benutzt und konstruiert wurden.
Karl Marx und Friedrich Engels holten solche Reflexion dann auch noch aus der Theorie in die Praxis zurück. Nach Marx sind die ökonomischen Interessen der kapitalistischen Gesellschaft, die er nach ihren Wirkungsweisen zu analysieren versuchte, die letztlich bestimmenden Interessen, die Richtung und Ziel eines Handelns beschreiben, das letzten Endes meist auf Profitinteressen und Aus­beutung basiert. Hier wird ein Kernbestand von Interessen ausgemacht, der das kapitalistische Aneignungsmuster als „allgemein vernünftig“ sowohl re- als auch dekonstruiert: Aus der Differenz von Lohnkosten für die Arbeiter, die deren historisch kulturelle Reproduktion sichern (ein Betrag, der nur steigen kann, wenn die Arbeiterklasse eine solche Steigerung aktiv erkämpft), und den Einnahmen aus den von diesen Arbeitern produzierten Waren, die der Kapitalist verkauft, entspringt der ganze Reichtum der Gesellschaft, der ungerecht (im Blick auf die Produzierenden und Aneignenden) verteilt wird. Die Arbeiter produzieren diesen Reichtum selbst, indem sie Waren produzieren, aber dafür nur einen Teil – ihre Reproduktionskosten als Lohn – erhalten, wohingegen der Unternehmer sich den Rest oder das Plus als Mehrwert aneignet. Will man nicht den gesamten Reichtum der kapitalistischen Gesellschaft aus Betrugsverhältnissen erklären,4 so ist die Marxsche Analyse und Konstruktion der Ausbeutungsverhältnisse eine durchaus gerechtfertigte Behauptung, zu der bisher kaum eine schlüssigere Alternative eingefallen ist. Man mag Marx allenfalls in seinem engeren Rekonstruktions­versuch dort für überholt halten, wo es um die Abweichungen und Variationen des Aus­beutungsschemas geht, denn der Kapitalismus in all seinen Formen und Varian­ten schafft es immer wieder, den Betrug neben das Grundverhältnis von Ausbeutung zu schieben.5
Doch was nützt die Einsicht in die Rekonstruktion von Ausbeutungsverhältnissen, wenn jeder im Kapitalismus die Freiheit zu haben scheint, die Seite wechseln zu können? Das Geld als allgemeines Äquivalent für alle Interessenlagen erscheint als mächtiger als die Einsicht in die eigenen (beschränkten oder beschränkenden) Klasseninteressen, was weder Marx noch Engels vorhersehen konnten oder wollten, da sie an Vernunft und Einsicht stärker glaubten als viele Menschen heute, die durch die historischen Versuche selbst ernüchtert wurden. Die errichteten sozialistischen Gesellschaften zeigten schließlich in ihrem historischen Scheitern, dass die Bereitschaft zu einer Aufgabe unter­schiedlicher Aneignungen auf der gegenwärtigen Stufe der Menschheitsgeschichte offensichtlich zu viel Einsicht voraussetzt, als sie auf der Teilnehmerseite aufgebracht werden konnte. Macht und Interessen gehören sehr viel elementarer und fundamentaler zu den menschlichen Handlungen als es die Menschen in ihren aufgeklärten Reflexionen auf die eigene Vernunft und Geschichte oft akzeptieren wollen. Und warum sollten sie es auch akzeptieren, wenn in den Beobachtungen und Handlungen der Akteure die Ungerechtigkeit immer wieder zum Himmel schreit? So sind und bleiben wir in den Aneignungen und Enteignungen in der kapitalistischen Wirtschaftsweise bei gleichzeitiger Freisetzung von Freiheitsrechten einer flexibilisierten, dynamisierten und mobilen Arbeitswelt durchgehend ambivalent auf den Nutzen und die Nutznießung unserer Chancen und Grenzen: Einerseits suchen wir die Gerechtigkeit unserer eigenen Durchsetzung von Leistungen gegen andere, um andererseits im nächsten Moment die Ungerechtigkeit von immer schon gegebenen Ungleichheiten zu beklagen.
Wie immer man zu Marx und Engels heute stehen mag, weitsichtig sahen sie – auch wenn sie politische Optimisten waren – bereits voraus, dass die Verschleierung von Interessen und egoistischen Bedürfnissen unter kapitalistischen Bedingungen zwangsläufig erscheinen und sich entwickeln müssen. Als Teilnehmer sind wir immer schon in bestimmten ökono­mischen Verhältnissen gefangen und bestimmten Interessen ausgesetzt, die unsere Aktionen und Beobachtungen leiten. Auf politischen, kulturellen, sozialen und anderen Feldern jedoch scheinen wir frei zu sein, was einen Liberalismus herausfordert, der unsere Vergesslichkeit gegenüber unserer Herkunft und „wahren“ gesellschaftlichen Stellung betont. Hier verwandeln wir uns in liberale Beobachter, die ihre eigene Freiheit als Beobachter – auch frei von den ökonomischen Lagen und Interessen – gerne überschätzen. Aber als Akteure werden wir immer wieder auf den Boden der Tatsachen, unserer wirklichen (und hier unterschiedlichen) Abhängigkeitsverhältnisse zurückgeholt.
Historisch ist die liberale Sichtweise insbesondere in der Kultur und Wissenschaft wesentlich geworden. Hier wurde der liberale Geist der freien Beobachtung idealisiert. Sein Hauptfeind wurde die Unendlichkeit von Bemühungen, das Liberale in die alten Dogmen und Gefangenschaften zurückzuführen, die den Beobachter zur Ordnung, den Akteur zur Disziplin, den Teilnehmer zur Akzeptanz des Bestehenden zwingen. Dabei waren die Ordnungen, die Disziplin und die Anerkennung bestimmter Verhältnisse durch die historisch-kulturelle Entwicklung, durch die Dynamisierung der kapitalistischen Verhältnisse und ihre politischen Verwerfungen selbst immer wieder fragwürdig geworden. Überall wurden die Beobachter, Teilnehmer und Akteure gezwungen, ihre eigene Endlichkeit zu sehen.
In der Anthropologie insbesondere errichtete sich solche Endlichkeit bis weit ins 20. Jahrhundert ein scheinbares Reich der Sicherheit, das für alle Menschen gelten soll und das Denken einschläfert: Es ver-all-gemeinert einen Menschen, der für alle steht, es fällt in Repräsentationen zurück, deren Versuchungen uns psychologisch zwar immer verständlich erscheinen mögen, die wir darum aber in ihrem Absolutheitsanspruch doch nicht mehr teilen sollten, weil wir so das Diverse, Multiple, Plurale vorschnell vereinheitlichen. Das Empirische wird so immer wieder durch die transzendentale Überhöhung vernichtet: Es ist die Suche nach dem Menschen, der ganzheitlichen Sicht, der letztgültigen Begründung, der universellen Wahrheit, die allen empirischen Untersuchungen vorauseilt und sie damit gefangen nimmt, bevor wir kritischer und offener schauen können. Aber wie offen können wir überhaupt schauen?
Nietzsche war verengenden Versuchungen gegenüber einer der wesentlichen Weg­bereiter einer umfassenden Kritik und wieder stehen die Interessen der Menschen im Zentrum seiner Reflexionen. Seine philologische Kritik, sein realistischer Nihilismus enthüllten die durchquerende Stelle, an der sich Mensch und Gott (auch Gott ist eine der immer wieder gesetzten Universalien transzendentalen Bewusstseins) als Einheit finden, ein Ort, an dem der Tod Gottes mit dem Verschwinden des Menschen korrespondiert und wo das Erscheinen des Übermenschen den Tod des im Mitleid an sich selbst erstickten – in seinen Repräsen­tationen gefangenen – Menschen erscheinen lässt. Mit Nietzsche tritt ein nunmehr denkbares und damit mögliches Wechselspiel der subjektiven Tat und ihrer Verallgemeinerung, ihrer eigenen Vergöttlichung auf. So wird Gott vom Himmel auf den Boden, in die Konstrukte menschlicher Wirklichkeiten geholt. Und zugleich blitzt in dieser Entheiligung als helles Licht eine Wiederkehr des ewig Gleichen auf, die sich auch gegen eine Anthropologie des zählenden Fortschritts stemmt, der sich immer sicherer die von Kant gestellten Fragen zu beantworten versucht. Nietzsches Philosophie wird so zum Wegbereiter einer neuen Sicht: Der Mensch tötet Gott. Wie macht er dies? Er klärt sich auf, er übt seine eigenen Kräfte und befreit sich hierin vor der Übermacht der äußerlichen Natur, die bereits durch ein fremdes Wesen vordefiniert scheint. Er errichtet die Macht des Wissens, die an die Stelle des Glaubens rückt. Aber damit zerstört er zugleich auch alle die Fragen, die zuvor den Sinn der Welt verhießen. Er entleert diesen Sinn, zerreißt die Schleier der Werte, er nähert sich der Bedeu­tungslosigkeit (nicht seiner, aber jener von außen gegeben scheinenden). Damit zerstört diese (sich selbst bewusst werdende) Vernunft alle absoluten Werte höchster Götter, einer erklärenden Substanz, eines letzten Wissens oder einer besten Idee. Solcher Nihilismus ist Wegbereiter einer skeptischen Vernunft, die sich in ihren Beobachtungen von Wahrheit neu situieren muss. Sie hat sich nicht nur eines letzten Wissens zu entsagen, sondern auch eines Glaubens, der diesem Wissen noch einen letzten Sinn hätte geben können. Die Feierlichkeiten eines letzten Ursprungs­denkens zwingen uns nur noch zum Lachen (vgl. Foucault 1987, 71). Wie aber könnte der Glaube das Lachen aufhalten, wenn er durch das Wissen der Menschen getötet wurde?
Unabhängig von Nietzsche werden die Vielzahl und Gegensätzlichkeiten der Versuche der Anthropologie selbst zum Beleg für eine Leere, die der Leere im Bild von Velazques entspricht: Wenn es um Repräsentationen geht, dann ist selbst der maßgebliche Souverän nur noch eine der denkbaren Perspektiven. „In unserer heutigen Zeit kann man nur noch in der Leere des verschwundenen Menschen denken. Diese Leere stellt kein Manko her, sie schreibt keine auszufüllende Lücke vor. Sie ist nichts mehr und nichts weniger als die Entfaltung eines Raums, in dem es schließlich möglich ist, zu denken.“ (Foucault 1993 a, 412) In ihr aber kann und wird der verschwundene souveräne Mensch in konkreten, widersprüchlichen, in unterschiedlich begehrten Perspektiven zwischen Beobachtern als Möglichkeit von Beobachtung wieder erscheinen.
So ist die Leere schon wieder ein täuschendes Bild, denn der Raum ist voller Subjekte, die in ihrem Denken widerstreiten. Es ist ein Raum der Moderne, die sich in ihren zivilisatorischen Vergegenständlichungen feiert und die Heraufkunft der Beobachter beschwört. Nach der Zerstörung absoluter Souveränität in je einer Person und durch das Zerreißen der Schleier einer illusionären Repräsentation von Dingen „da draußen", geraten die Feierlichkeiten allerdings in die Krise eines Verlustes von alten Werten und in den Gewinn einer eher willkürlich erscheinenden Mächtigkeit der Beobachter. Das Welt-Bild eines Subjekt-Objekt-Verständnisses wandelt sich, es wendet sich von der Vorstellung eines Ab-Bildes ab, es kehrt sich gegen eine Widerspiegelung oder instruktive Aneignung von Welt als Ein-Prägung, als Über-Nahme, als Internalisierung eines scheinbar klaren Draußen und Drinnen. Der Beobachter als aktiver, handelnder, sich selbst bewusst werdender Mensch feiert seine Ankunft. Er ist angekommen,

  • weil alle aktiven Tätigkeiten von Menschen immer genauer möglichst exakten Wahr-Nehmungen von Perspektiven, Selbst-Beschreibungen, Visionen und Illusionen einer Beobachtung unterliegen, die die gewonnene Freiheit der Subjekte – im verschwundenen Raum früherer Souveränität und im Mangel eines schlechthin Repräsentativen – in Maß-Nahmen der Selbst-Beobachtung überführen; aus diesen Beobachtungen erwachsen die Selbst-Bespiegelungen und Gespräche der Moderne; dies ist die Basis zunehmender Konstruktionen: In der Architektur, in den Theoriegebäuden, im Konstruktivismus selbst, in der Technik soll dieser Beobachter ausmessen, was herstellbar ist; in den Geisteswissenschaften soll er ermessen, was denk- und verstehbar ist;
  • weil die Produktionen der Moderne als Vergegenständlichungen nichts ohne den Genuss des Blickens sind; solcher Genuss reicht bis in das Gehör der Moderne, das als bewegtes Bild-Denken seine Wahr-Nehmungen in den Massenmedien kauft und ins Unendliche multipliziert; solche Multiplikation kann nur über Klischees gelingen, denn diese Bild-Welten setzen auf Wiederholung bewährten Genusses und banalisieren diesen damit; damit reichen sie hin bis zum Geschmack; im Hintergrund aber weben die abstrahierten Beobachtungsleistungen von Spezialisten einer arbeits­teiligen Welt einen Teppich technischen Stückwerks, der auf Zeit seine Wahrheit im Gültigkeitsrausch von Beobachtern findet, die produzieren, um zu kaufen, die kaufen, um zu produzieren, wobei beide Perspektiven an den Zirkulationen des technisch Machbaren teilnehmen; die Welt der Moderne produziert und verkauft sich über die Zur-Schau-Stellung, was die Heraufkunft der Beobachter in einer zusehends marktorientierten und voyeuristischen Kultur immer mehr beschleunigt;
  • weil die Realität einer Welt der „Dinge da draußen“ ihre Macht dadurch verliert, dass Beobachter simultane Realitäten erfinden und konstruieren, die als neue Realitäten (z.B. Illusionswelten in den Massenmedien) erscheinen, um so die „Dinge da draußen“ in unendliche Vorder- und Hinter-Gründe zu verwandeln; in allen Realitäten scheint nur die Macht der Beobachter, sie in ein für sie passendes Nach- und Nebeneinander zu setzen, eine Konstante zu bilden, die Genuss und Lebenssinn verspricht;

  • weil in diesem Genuss und der Unübersichtlichkeit des Rädchenwerks systemischer Zusammenkunft Selbst-Gespräche zu einer massenhaften, passiv orientierten Beobachtungsmaschinerie verführen, wie sie die Massenmedien der Moderne anbieten; hier amüsiert sich die Masse der Beobachter und erstickt zunehmend an der Fülle der Beobachtungsmöglichkeiten, die eine neue Leere des Denkens durch die Rezeptivität produziert;
  • weil Beobachtung so zum durchquerenden Medium einer sozialen Kultur wird, die über sich nur etwas aussagen kann, wenn sie auf etwas im Hören und in ihrem Geschmack schaut, um sich selbst zu spiegeln und darin sinnlich zu erleben: Als Fortschritt, als Illusion, als Repräsentation von immer neuen, wechselnden, widerstreitenden Möglichkeiten, als Konstrukte der eigenen Mächtigkeit.

Diese Skizzen der Heraufkunft des Beobachters sind bloß unvollständige, phänomenologische Bilder, die einen Akzent auf ein Blicken setzen, das selbst verwoben in unendliche Praktiken von Menschen ist. Es ist damit ein neuer Ausschluss und so die Frage nach einem neuen Wissen. Aber es ist wissentlich erschüttert, denn es hat sich des einen Beobachters beraubt, der uns seine Wahrheiten delegieren und uns so zum Missionar einer Wahrheit machen könnte. Was aber bleibt dann als wirkliches Wissen?

 

2. Beobachter und Beobachtung

Seit der französischen Revolution und in Vermittlung durch die klassische deutsche Philosophie Kants, Fichtes und Hegels ist das Subjekt als ein Subjekt der Aufklärung differenziert erörtert worden. Dieses Subjekt wurde aus seinem kontemplativen, bloß beobachtenden Schlaf geweckt und in die Handlungen, die Welt der Aktionen, gestellt. Darin hat es bis heute eine Radikalisierung erfahren, weil und insofern es in allen Feldern der Handlung, in allen Praktiken der Lebensformen, in den Routinen als auch den Institutionen der Lebenswelt als Aktor, als Akteur, als aktiver Teil gesehen wird. Dieses Primat des Akteurs wirkt auf allen Ebenen seines Handelns: In der Planung, in der Durchführung, in der Rechenschaft, die er sich über dies alles rational abzugeben hat, in der Zurechnungsfähigkeit, die ihm von anderen darüber ausgestellt wird. In der Moderne sagt man als Akteur nicht: „Ich bin bloß ein Subjekt, ich kann nichts dafür“, sondern haftet für seine Subjektivität im Blick auf alle Handlungen. Mitunter reicht dies bis in die Selbstüberschätzung einer reinen Autonomie oder einer grenzenlos erscheinenden Freiheit.

Solche Autonomie und Freiheit aber ist immer begrenzt, weil jedes Subjekt als Akteur immer auch Teilnehmer ist: Von bestimmten Verständigungsgemeinschaften, von Gruppen und deren Interessen, in funktionalen Systemen, in bestimmten Strukturen, mit einem Habitus, mit Selbst- und Fremdzwängen, in bestimmten Kulturen, Nationen, Rassen, Geschlechtern usw. Mitunter scheint die Teilnehmerperspektive in der des Akteurs aufzugehen, oft aber fallen beide auseinander. Der Akteur wünscht sich seine Freiheit, aber als Teilnehmer wird er an Regeln gebunden. Der Akteur wünscht sich andere Beziehungen, aber Beziehungen unterliegen bestimmten Mustern. Der Akteur will sich einer Institution nicht unterwerfen, aber Institutionen bilden Strukturen der Teilnahme.
In dem Wechselspiel von Akteur und Teilnehmer drückt sich ein Grad von Beteiligung aus, der zwischen Engagement und Distanz schwankt (vgl. Elias 1990). Der Akteur ist als Teilnehmer nicht immer gleich engagiert. Oft ist er distanziert. Diese Wahl bleibt seinem Freiheitsraum einverleibt und drückt seine Autonomie als Relativierung seit der Moderne aus. Die Beteiligungen mit oder gegen bestimmte Teilhaberschaften schwanken jedoch in ihren Graden erheblich und sie zeichnen sich auch durch unterschiedliche Bereiche aus: In imaginärer oder symbolischer Beteiligung müssen die Akteure gar nicht bemerken, dass sie teilnehmen und die Teilnehmer noch nicht begreifen, inwieweit sie zu Akteuren wurden. Der unfreiwillige Augenzeuge der Taten eines Akteurs ist zunächst eher unbeteiligter Teilnehmer, um später vor Gericht zum Hauptakteur der Anklage zu werden. Der fiktive Akteur, der uns in einem Roman begegnet, kann unbemerkt unsere Imaginationen leiten, damit wir so werden sollen wie er. Bemerken wir später diese fiktive Teilnahme, werden wir uns unterscheiden, wo wir noch Teilnehmer oder schon Akteur geworden sind. Der virtuelle Akteur in einem Film mag als Teilnehmer einer Story völlig unbeteiligt an den bösen Eigenschaften und Verhaltensweisen seiner Rolle erscheinen, um von anderen doch immer wieder auf diese Rolle festgelegt zu werden: „Sie also waren der Bösewicht, der...“ Dies mag bis in sein Unbewusstes reichen, wenn er von den bösen Eigenschaften träumt, die ihn diese Rolle so au­thentisch spielen ließen. Diese Zirkel der Betrachtung ließen sich unendlich fortfüh­ren. Sie sind so unendlich wie die Wechsel in unseren Beobachtungsmöglichkeiten.
Dabei kommen wir zu einem Resultat, das in unseren bisherigen Überlegungen schon eingeschlossen war und das ich nun explizit formulieren möchte. Wann immer wir Akteure, Teilnehmer oder eine Beteiligung mit oder gegen uns oder etwas analysieren wollen, so tun wir dies als Beobachter. Dies behauptet nicht, dass wir es nur als Beobachter tun. Wir tun es auch z.B. als Wahrnehmende, Empfindende, Fühlende, kurzum in allen denkbaren Lagen und Vorstellungen, aber auch darin tun wir es letztlich, wenn wir es in dem, was wir dabei perspektivisch in den Blick nehmen wollen, als Beobachter.
Hier scheint es mir berechtigt zu sein, von einem Primat der Perspektiven, die vor jeder „Ordnung der Dinge“ liegen, zu sprechen. Wenn Akteure agieren, Teilnehmer sich in bestimmten Situationen befinden, Beteiligte zu bestimmen haben, in welchen Graden sie beteiligt sind, so können sie dies nur über die Vermittlung ihrer Beobachtungen, die sie sich bewusst machen. Dies geschieht entweder als Selbst- oder als Fremdbeobachter.
Sofern eine Theorie nur Akteure, Teilnehmer oder Beteiligte zulässt, aber nicht ausdrücklich den Beobachter hierbei thematisiert, entsteht der Verdacht, dass diese Theorie meint, die beste und letzte Beobachterposition schon gefunden zu haben (vgl. Band 2, III. 2.6.). Demgegenüber will der interaktionistische Konstruktivismus durch die Betonung des Verhältnisses von Beobachter und Beobachtung in jedem analytischen Einzelfall gerade dies vermeiden und die vorgängige, vermittelnde und beeinflussende Bedeutung von Perspektiven bei der Bestimmung dessen, was Akteure, Teilnehmer oder Beteiligte sind, möglichst umfassend thematisieren. Aus dieser Sicht werde ich viele Theorien kritisch betrachten, weil sie diese Thematisierung in der Regel verweigern.

Hier sind wir am Ausgangspunkt einer Fragestellung, die, im Unterschied zu Foucault, sich stärker der Ordnung der Blicke als Möglichkeit von Diskursen zuwendet, als direkt jene Diskurse aufzuspüren, die man als schon erblickte und scheinbar notwendige Ordnungen des Denkens verhandeln könnte. Es ist eine zunächst kleine Unterscheidung, die jedoch folgenreich sein wird. Denn wenn jeder Mensch sich in seiner Endlichkeit ein neuer Ursprung dessen wird, was in einem Zeitalter als Konstruktion von Wirklichkeit bereitsteht, dann bleibt über das Nach- und Nebeneinander solch subjektiver Ursprünge in ihren Endlichkeiten das Problem, mit der Unendlichkeit von Ursprüngen und Endlichkeiten umzugehen. Wenn dies als Problem anerkannt wird, dann erscheint nicht mehr nur das Subjekt als Konstrukteur seiner Objektivität, sondern die Ordnung dieses Konstruierens auch als Ordnung der Blicke: Das Subjekt als Beobachter von anderen und seiner selbst. Dann bedarf es einer Beobachtertheorie, um diese Ordnung zu thematisieren.
Es gehörte noch zu den Versöhnungsversuchen des 19. Jahrhunderts, dass Hegel in der „Phänomenologie des Geistes“ drei Vernunftweisen innerhalb des subjektiven Bewusstseins unterschied: die beobachtende, die tätige und die produzierende Vernunft. Darin erscheint die Beobachtung (von sich und der Welt) nur als eine erste Möglichkeit, die durch das Tun des Menschen und durch seine Produktivität selbst erhöht wird. Im Drama der französischen Revolution blieb es nicht bei kontemplativer Betrachtung: Tätiges Handeln veränderte die Welt. Im Prozess der industriellen Revolution vergegenständlichte sich solches Handeln zu einem Reichtum und Armut von Welt, die immer differenzierter und subtiler, meist vorgängig menschliches Leben bestimmen, so dass eine Veränderung dieses Lebens selbst zunächst immer Veränderung des geschaffenen und anzueignenden Wohl-Stands einer zunehmend sich materiell produzierenden, d.h. produzierten Welt zu sein scheint. In all diesen Handlungs- und Vernunftweisen aber ist die Beobachtung stets eingeschlossen, weil weder Handlungen noch Produktionen ohne einen Maßstab, der ihnen zugrunde liegt, ohne Perspektiven und einen subjektiven Fokus – im Blick auf die Möglichkeiten und Bedingungen – auskommen.
So entwickelte sich unter unterschiedlichsten Namen ein implizites Wissen von Beobachtung, das teilweise als Teil einer Theoriebildung über Wirklichkeit – z.B. als Beobachtungsmethode in verschiedenen Wissenschaften – unterschiedlich fixiert wurde, das teilweise unter anderen Begriffen wie Tätigkeit, Handlung, Ordnung usw. eingeschlossen und verborgen wurde. Die Arbeiten Foucaults sind dafür ein sehr eindrucksvolles Beispiel: In ihnen ist ständig von Blicken, Perspektiven, Bildern, der Differenz zwischen Sichtbarem und Sagbarem usw. die Rede, ohne jedoch dabei eine Theorie des Blickes explizit zu entwickeln.
Was aber wäre der Vorteil einer solchen expliziten Theorie? Zunächst scheinen sich die eben vorgebrachten Argumente unter der Perspektive einer Ordnung der Blicke bloß wiederholen zu lassen: Beobachter und Beobachtung unterscheiden sich, auch wenn die Wissenschaft allen Eindruck zu erwecken versucht, dass ihre Beobachter in „wahrer“ Beobachtung aufgehen. Der Beobachter scheint für Individualität, damit auch Singularität und Widersprüchlichkeit, für Diskontinuität und Endlichkeit im historischen Prozess zu stehen, auch für die Unübersichtlichkeit des Beobachtens, die durch die Festlegung auf ein Maß von Beobachtung zu regeln ist. So gilt das Paradox: Alle Beobachtung zerfällt in unterschiedliche Beobachter, aber alle Beobachter nutzen Maß-Gaben von Beobachtung.

Die Wissenschaft rettet sich, indem sie Beobachtungstheorien konstruiert, die die Individualität, Singularität, Endlichkeit usw. von Beobachtern mindern, wenn nicht ausschließen sollen. Beobachtung ist aus der Sicht solcher Ausschließungen eine notwendige Arbeit der Weitergabe und Überlieferung. Aber die Beobachter entdeckten nach und nach in allen Wissenschaften, dass die Beobachtung keinen Anfang hat, denn sie entstammt den unendlichen Bemühungen um Fixierung von Perspektiven und Linien, von Punkten, Gegenständen und Dingen, von Sachverhalten und Subjekten, die als Aussagen geformt, die als Identitäten konstruiert, die als Rollen beschrieben, die als Systeme usw. bezeichnet und voneinander unterschieden wurden. Beobachtungsvorräte sind unendlich vorhanden, so dass das Wagnis, sich dem Thema des Beobachters in der Beobachtung hinzugeben, als zu groß erscheinen muss; man nimmt daher lieber mit den ausgewiesenen Linien und Punkten, den Gegenständen, den Dingen, Personen usw. vorlieb, die durch die Vorgängigkeit einer (nicht näher explizierten?) Beobachtungstheorie selbst gesichert erscheinen.
Aber wie gesichert ist diese Vorgängigkeit? Welche Archäologie von Aussagen erscheint, wenn der Archäologe des Wissens beobachtend in die Geschichte eingreift? Welche Genealogie sollte sich ein Schema von Entwicklung in der Beobachtung entwickeln, wenn sie selbst doch schon das darstellt, was dieses Schema hergeben soll: Beobachtungen bilden ja gerade die Perspektiven, die als Entwicklung entlang einer Linie, als Imagination, als Fabrikation einer Idee oder als Konstrukt eines Ideenlieferanten erscheinen. Jeder Beobachter ist ein solcher Konstrukteur. Jeder Beobachter realisiert in seinem Beobachten aber zugleich Kräftelinien, Spannungsverhältnisse, ein ganzes Netz von ausgeworfenen Blicken, von Augen-Blicken, Momentaufnahmen, von intuitivem Verstehen, und jetzt exakter und in wissenschaftlicher Wendung: Scheinbar sicheres Verstehen, das ins Erklären übergleitet, dies alles durch-schauend. Auch hier die Frage des Ursprungs: Lernt ein Mensch gewöhnlich nicht sein Sehen, ohne sich die Bedingungen des Sehens thematisieren zu müssen? So stehen wir von vornherein in einem Gegensatz: Beobachter oder Beobachtung?

Ein Beobachter beobachtet möglicherweise, ohne dafür eine Theorie der Beobachtung zu benötigen. Gleichwohl entlarvt ihn der Wissenschaftler, denn er konstruiert jeden Beobachter stets aus der Perspektive der Beobachtung. Und geschieht dies jetzt nicht auch in diesem Text, indem wir die Differenz von Beobachter und Beobachtung festhalten? Was können wir auch mehr tun? Was sollte es auch bringen, sich dem Beobachten – was ist es denn? –  selbst zuzuwenden? Ist dieses nicht bereits hinreichend in all jenen Versuchen problematisiert, die selbst die Perspektiven entwerfen, die Linien ziehen, die Punkte fixieren, die Gegenstände und Dinge bestimmen, die Subjekte konstruieren, die Welten definieren? Und steht nicht zu vermuten, dass ein solches Vorhaben im Grunde zu allgemein auslaufen wird, weil es ja doch nur Wiederholung der schon bekannten Perspektiven, der bestimmten Blickrichtungen und damit verbundener Weltbilder sein wird? Und weiter noch: Ist die Ernüchterung nicht unangemessen groß geworden angesichts des Umstandes, dass die beobachtende Vernunft, wie wir sie in reflektierter Form von Hegel her kennen, sich ihrer Wahrheit entsagen musste, die sie bis in die Moderne hinein zu retten glaubte? Denn die Moderne ist gekennzeichnet durch einen Kampf um Wahrheiten, gleichzeitig charakterisiert durch eine List der Wahrheit, die sie sich selbst konstruiert hat. Beobachter und Beobachtung – diese Unterscheidung impliziert immer die Frage nach der richtigen, der wahren Beobachtung. Die Aufklärungsideale der Französischen Revolution, die in die Wahrheitsformeln eines richtig geführten Lebens münden, die marxistische Perspektive eines Klassenkampfes, der Gerechtigkeit für alle erbringen soll, sie alle berufen sich auf solche Wahrheitsansprüche. Und solche Wahrheit ist notwendig, denn nichts „ist unbeständiger als ein politisches Regime, das der Wahrheit gegenüber gleichgültig ist“ (Foucault 1989c, 30). Wahrheit ist so etwas wie ein Beobachtungsgarant für konstante Aussagen, für Stabilität und Vertrauen in ein politisches System. Solche Wahrheit wird jedoch schnell zu einer gefährlichen politischen Gefangenschaft, denn „nichts ist gefährlicher als ein politisches System, das die Wahrheit vorzuschreiben beansprucht. Die Funktion des ‚Wahr-Sagens‘ hat nicht die Form des Gesetzes anzunehmen – und ebenso eitel wäre es zu glauben, dass sie im freien Spiel der Kom­munikation ‚natürlich‘ beheimatet ist. Die Aufgabe des Wahr-Sagens ist eine endlose Arbeit: Sie in ihrer Komplexität zu respektieren, ist eine Verpflichtung, die sich keine Macht sparen kann. Es sei denn, sie verhängt das Schweigen der Knechtschaft.“ (Ebd.)
Auch Wahrheit tritt damit in den Kreis der Bescheidenheit ein. „Die Arbeit eines Intellektuellen besteht nicht darin, den politischen Willen der anderen zu model­lieren. Sondern durch die Analysen, die er in seinen Bereichen anstellt, die Evidenzen und die Postulate wieder zu befragen, die Gewohnheiten des Handelns und des Denkens aufzurütteln, die eingebürgerten Selbstverständlichkeiten zu sprengen, die Regeln und die Institutionen neu zu vermessen und von dieser Reproblematisierung aus (in der er sein spezifisches Intellektuellenhandwerk ausübt) an der Bildung eines politischen Willens teilzunehmen“ (ebd., 27 f.). Foucault steht hier programmatisch für eine Denkweise, die man teilweise gerne als Postmoderne charakterisiert, deren Etikettierung aber dadurch erschwert ist, dass sie durch den Charakter des Nichtvorschreibens von Wahrheit die Blicke in alle Richtungen erlaubt, alle möglichen Per­spektiven zulässt, das heißt aber auch keine bestimmten Blicke und Perspektiven mehr vorschreiben oder untersagen kann. Deleuze sieht dabei in der Philosophie immer noch jene Disziplin, die die Arbeit von Intellektuellen inspirieren kann. Sie erfindet Begriffe. Sie ist im Grunde eine konstruktive Form der Auseinandersetzung mit Wirklichkeit, ein Arbeitsfeld, das Begriffe schafft und Konzepte kreiert. Sie ist, so setze ich hinzu, ein Feld der Beobachtungen auf einer sehr allgemeinen und methodologisch reflektierten Ebene, die heute vielleicht mehr denn je angegriffen wird: „Gewiss hat die Philosophie immer ihre Rivalen gehabt, von den Rivalen Platons bis zum Narren Zarathustras. Heute sind es die Informatik, die Kommunikation, das Marketing, die sich die Wörter ‚Konzepte‘ und ‚kreativ‘ aneignen, und diese ‚Kreativen‘ bilden eine unverschämte Rasse, für die der Akt des Verkaufens der höchste kapitalistische Gedanke ist, das Cogito der Ware.“ (Deleuze 1989, 34) Dies aber nun gilt gewiss nicht nur für die Philosophie, sondern für etliche andere Disziplinen, die ihre eigene Entwertung dadurch herbeigeführt haben, dass sie ihre Werte einer unumstößlichen Wahrheit verloren und preisgegeben haben. Und welche Disziplin sollte sich hier noch ausnehmen können, wenn sie nicht bloß auf engen Wahrheiten beharrt (wie z.B. in den Techniken), sondern auch deren Kontexte, Wirkungen und Folgen bedenkt? Deleuze setzt hinzu: „Die Philosophie fühlt sich klein und allein angesichts solcher Mächte; aber wenn sie sterben sollte, dann weil sie sich totlachen wird.“ (Ebd.) Es ist wieder das Lachen Nietzsches, das hier erinnert wird, um sich als ein letztes Aufbäumen in einer Welt zu behaupten, in der an die Stelle der Wahrheit das Handeln um die Wahrheiten gerückt ist. Und darin erscheint auch schon ihr Widerspruch: Denn Deleuze situiert die Wörter „Konzepte“ und „kreativ“ in einem Rest von Wahrheitsanspruch der Philosophie, den sie längst an die Informatik, Kommunikation, das Marketing usw. abgegeben hat, und jene angegriffenen Perspektiven mögen zudem antworten, dass auch die Philosophie nie frei vom Cogito der Waren war, von denen sich der Philosoph in seiner abge­hobenen Beobachterperspektive im Elfenbeinturm seiner Institution ernährte.

Die Wahrheit hat sich vervielfältigt. Sie ist spürbar in den Konstruktionen jener Beobachter, die wir alle sind, die aber auch keinen betroffen machen mögen außer den Autor selbst. Insoweit ist die Frage nach der Wahrheit mit dem Problem der Beobachtung – und hierbei mit der Frage nach Kontexten – verschmolzen. Es mag einem Beobachter zwar subjektiv erscheinen, als würde seine Beobachtung nur seine sein, aber die Wahrheit eines Beobachtens, die auftritt, wenn er hierüber Verständigung sucht, wirft ihn auf ihre eigenen Vervielfältigungen und Begründungszwänge in Kontexten zurück.
Der implizite Konstruktivismus bei Foucault und Deleuze wie auch bei anderen Denkern, auf die ich im Gange der Argumentation zurückkommen möchte, verhilft gleich zu Beginn, einen Anspruch festzuhalten, der für diese Arbeit bestimmend sein wird: Sie ist ein Konstrukt für alle, an die sie sich wendet, d.h. genauer, für alle diejenigen, deren Beobachtungen dieses Konstrukt erreicht und die damit für sich etwas beobachten können, und zugleich für keinen, da nicht vorhersehbar ist, wen sie überhaupt erreichen wird. Und hierin bleibt nicht einmal die Fantasie eines Erreichenmüssens, das unabdingbar oder notwendig wäre, da diese Arbeit sich von vornherein auf der Höhe einer Argumentation weiß und situiert, die solche Vorgängigkeit selbst als problematisch ansieht.6 Dennoch sind die Argumente damit nicht beliebig, denn alle Aussagen haben ihre re/de/konstruierten Kontexte, die ein Mindestmaß an Begründung (an gerechtfertigter Behauptbarkeit) weiterhin beanspruchen, weil es zum Argumentieren gehört, Argumente vorzubringen.7 Diese Paradoxie ist der Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen, und ihr gegenüber gibt es weder ein Entweichen noch eine Lösung. Allenfalls kann soviel gehofft werden, dass eine Beobachtertheorie gefunden werden mag, in deren Topik ein Beobachter sich jenen Raum vorzustellen vermag, in dem das Problem selbst situiert ist, und dass dabei zugleich eine Dynamik sichtbar werden mag, die in den Bewegungen der je konkreten Blicke und Subjekte eine Kinetik erscheinen lässt, die das schöne Bild der topischen Mimesis schon wieder hinterfragt. Dies ist zunächst der Vorteil, den ich in einer konstruktivistischen Argumentation mehr als in anderen Möglichkeiten sehe, und den zu differenzieren mir die Arbeit zu lohnen scheint.

 

3. Der Beobachter als Konstruktivist

An der Bruchstelle dieser Fragen zwischen dem Paradox von Beobachter und Be­obachtung, die sich unendlich ausdifferenzieren lassen, wenn wir uns auf die tausend und abertausend Plateaus des theoretisch Möglichen begeben, haben sich neue erkenntnistheoretische Bestimmungen eingenistet, die sich als konstruktivistisch bezeichnen lassen.8 Sie alle gehen von der Grundannahme aus, dass der Mensch in seinen subjektiv vielfältigen Positionen Perspektiven und Gemeinsamkeiten mit anderen in diesen Gesichtswinkeln findet, die sein Beobachten, seine Tätigkeiten und Produktionen ausmachen. Dieses Aus-Machen ist ein Konstrukt9, ein selbst geschaffenes und erzieltes Resultat von Subjekten, die sich über solchen Konstrukten zu Verständigungsgemeinschaften zusammenschließen. Dabei kann die Beobachtung all dieser Perspektiven sehr unterschiedlich sein. Die eben angesprochenen französischen Autoren lieben die Dekonstruktion, andere explizit konstruktivistische Autoren eher die Konstruktion von Theorien, die wie ein neues Netz Wirklichkeiten einfangen oder schlicht erfinden sollen. Der Konstruktivismus ist zu einer Alternative gegenüber einem Wissenschaftsverständnis geworden, das immer noch nach Abbildungen einer reinen Vernunft, einer reinen Wirklichkeit, nach Widerspiegelungen oder wertfreier Wiedergabe des Wirklichen schlechthin sucht. Zwar mag man aus kon­struktivistischer Sicht Gründe dafür erkennen, warum diese Suche ein so großer Wunsch ist, aber man will wissentlich diesen nicht mehr teilen.
Das 20. Jahrhundert ist von unterschiedlichsten expliziten Konstruktivismen geprägt, die die alten Versuchungen direkt bekämpften: Piaget versuchte nachzuweisen, wie sich das Weltbild von Kindern hin zu Erwachsenen in konstruktiver Weise entfaltet; Bateson betonte die Konstruktion von Wirklichkeit in ihrer Dialektik von Erfahrung und Geist, um eine Kritik am Umgang mit unseren erdachten und erschaffenen Konstruktionen zu üben; der methodische Konstruktivismus der Erlanger Schule kritisierte die empirische Wissenschaftstheorie als Suche nach Wahrheitsabbildung oder universeller Wahr­heitsfindung, um demgegenüber die Konstrukti­vität auch empirischer Wahrheitssuche zu differenzieren; der radikale Konstruktivismus schließlich hob die Konstruktion von Wirklichkeit hervor, indem er eine Erkenntnistheorie vorschlug, die vor allem biologische als auch psychologische – in den Setzungen von Luhmann auch soziologisch gedeutete – Voraussetzungen vereint; ein sozialer Konstruktionismus will schließlich Grundideen solcher Konstruktivismen für menschliche Gruppenprozesse zur Erklärung heranziehen.10 Der Konstruktivismus hat – über diese ­erwähnten hinaus – viele Gesichter und ist auch in den eben bezeichneten Ansätzen sehr vielgestaltig, teilweise widersprüchlich. Ich werde versuchen, ihm ein weiteres Gesicht hinzuzufügen: den interaktionistischen Konstruktivismus.
Was fasziniert an der Idee des Beobachters und was an der Vorstellung der Konstruktion? In explizit konstruktivistischen Arbeiten hat sich die Faszination des Beobachters festgesetzt, in impliziten Arbeiten, wie wir sie z.B. besonders bei Foucault finden, wird sie stillschweigend unterstellt. Die Idee der Konstruktion soll darauf aufmerksam machen, dass menschliche Ideen, das Denken und Erfinden von Wirklichkeiten – in welchen Formen auch immer – einen Beobachter einschließt, der sich selbst oder andere in den Fokus einer Betrachtung nimmt, um daraus zu einer je spezifischen Sicht von Welt, d.h. seinen Konstruktionen von Welt zu kommen. Allerdings ist der Sachverhalt komplizierter, als ich ihn hier zunächst andeute: Jeder Beobachter setzt voraus, dass bereits beobachtet wurde. Jede Konstruktion baut bereits auf Konstruktionen auf. Zudem scheint die Beobachtung nur eine der menschlichen Fähigkeiten im Spektrum von Empfindun­gen, Wahrnehmungen, sensomotorischen und intelligenten Handlungen, von Rückkopplungen in allen Arten von geistigen oder materiellen Tätigkeiten zu sein, so dass die Frage entsteht, warum ihr ein besonderer Status zugeschrieben werden sollte.
Konstruktivistische Autoren unterschiedlichster Prägung verweisen hier neuerdings vor allem auf das biologische Modell der Autopoiesis, um die Beobachterposition zu begründen. Aus dieser Sicht erscheint der Mensch als eine Art sich selbst bewegende Maschine, wie es schon Thomas Hobbes mutmaßte, nun genauer als ein selbst organisiertes und autonomes biologisches Lebewesen, dessen Kopp­lungen mit der Umwelt zugleich ein Bedürfnis nach Situierung in dieser Umwelt und hier spezifisch gegenüber anderen Menschen entstehen lässt, für die der Begriff der Beobachtung geeignet erscheint.
Eine solche Herleitung ist möglich, aber zugleich sehr verengend. Im Sinne der augenscheinlichen Relevanz vor allem naturwissenschaftlicher Erkenntnisse wird so im Konstruktivismus ähnlich wie in der evolutionären Erkenntnistheorie11 letztlich immer noch eine Begründung in einem Bereich eines „da draußen“, eines objektiven Zusammenhangs gesucht, um daraus dann vor allem die Subjektivität und Auto­nomie menschlichen Beobachtens und Handelns abzuleiten.12 Eine solche Argumentation ist von vornherein in ein Konstrukt verstrickt, das sie bemerken sollte, um nun nicht etwa aus neuen objektivistischen Gründen sich ein Weltbild zusammenzubauen, das aus der Konstruktion eines Blickwinkels der Biologie auf alles andere schließen will. Es ist ja nur ein Blickwinkel innerhalb biologischer Argumentationen, von Autopoiesis zu sprechen und keinesfalls ein unumstrittener. Ähnlich ließen sich die Argumentationen der Chaostheorie anführen, aus denen derzeit auch oft vorschnell Schlüsse für alle Wissenschaften abgeleitet werden.
Solche Wege und Schlüsse sind möglich und im Einzelfall sinnvoll und anregend. Aber sie verführen, wenn ich die explizit konstruktivistische Literatur durchsehe, auch leider zu vorschnellen Schlussfolgerungen und unnötigen Auseinandersetzungen, weil sie abgekoppelt vom Diskurs der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften mit rigider Reduktivität und mitunter erschreckender Naivität vorgehen. Aus dem Dualismus der eigenen, naturwissenschaftlich scheinbar heilig gesprochenen, Sichtweise gegenüber den überholt erscheinenden bisherigen Perspektiven über den Menschen und sein Verhältnis zur Welt, entspringt so leicht ein neues Abbild einer Wahrheit, die sich als konstruktivistische Kritik auf einem sicheren Fundament wähnt.13 Nimmt man hingegen die erkenntnistheoretischen Auffassungen des Konstruktivismus und wendet sie gegen die eigene Begründung dieser Theorie, dann ist nichts mehr sicher. Dann steht selbst das autopoietische Be­gründungsmuster in Frage, denn in ihm ist ein biologischer Reduktionismus enthalten, der sich ebenso gut bestreiten wie begründen lässt.
So halte ich die Begründung konstruktivistischen Denkens aus der Sicht der bio­logi­schen Grundlagen, wie sie für bisherige Arbeiten typisch ist14, nur für einen möglichen Weg, der jedoch in dem Maße Sinn und Berechtigung verliert, wie der Anschluss an jenes große symbolische Andere gesucht wird, das vor allem in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften als Beobachtungsvorrat über menschliches Sein und Handeln und als Modi des Beobachtens bereits entwickelt wurde. Eine Negation dieses kulturellen Verständnisses ist – das ist meine These – weder erforderlich noch hinreichend begründet. Es erscheint mir umgekehrt sinn­voller, den Diskurs dieser Wissenschaften selbst zu befragen, inwieweit in ihm bereits ein Bild des Konstruktiven enthalten und ein Beobachter situiert ist, auf dessen Höhe wir uns stellen könnten, um uns umzuschauen.15
Damit bin ich allerdings von vornherein in einem ganz anderen Dilemma, als wenn ich aus naturwissenschaftlichen Einzelperspektiven mir eine neue Welt­sicht fokussiere. Ich befinde mich auf einmal im Fluss eines Geschehens, dessen imaginative Kräfte mir in unendlichen Gestalten von Denkvorräten entgegentreten, in Theorien und Praktiken, die zu überschauen unmöglich ist. Welche Archive sollte ich öffnen, um darin den (und überhaupt: welchen?) Beobachter mir zu situieren? Wie gehe ich mit der Mimesis der Beobachter der Vergangenheit um, wenn ich sie mir selbst mimetisch re-konstruiere? Wie konstruiere ich die Kinesis des Flusses des Beobachtens über mehrere Generationen hinweg, wenn ich dabei am Ende wohl wieder in eine Mimesis zurückfalle?
Beobachte ich die Dinge in ihrer Bewegung, dann verschwimmt mir alles zu einer zunehmenden Intuition. Halte ich sie mir bildlich fest und versprachliche ich dieses Bild, dann schaffe ich Inseln, an denen der Fluss Rei­bungen, Strudel, Ungewässer bildet. Und darin, als letzte aufragende Geltung meiner Behauptungen, gipfelt meine Annahme, überhaupt Beobachter zu sein, dessen Blicke jenen Über-Blick schaffen, jenen Augen-Blick und jenes An-Schauen, Blick-Punkte von Welt und Welt-Bilder von Wirklichkeit, aus denen Mittelpunkte menschlichen Denkens, Handelns, Fühlens usw. symbolisch vermittelt entstehen.
So gesehen ist der Beobachter, bin ich als Beobachter eines solchen Beobachters, bereits eine Konstruktion aus bestimmten Beobachtungen heraus. Beobachter sind hierbei nur noch die Fiktion eines objektiven Schauens, sie haben die eine sichere Perspektive verloren und in dieser auch den eindeutigen Fokus, der auf alles passen kann. Beobachter stehen in Kontexten von Beobachtungen, die sich vor allem aus den überlieferten Erfahrungen in der menschlichen Geschichte interpretieren lassen. Insoweit ist die biologische Begründung hierzu eine mögliche ergänzende, aber reduzierende Erklärung. Soll aber die Beobachterposition des Menschen von allgemeinerer Art sein, dann ist sie auch allgemein bereits in dem enthalten, was Menschen in ihrer Geschichte und aus ihrer Geschichte heraus fühlen, denken und tun, dann ist sie potenziell in dem eingeschlossen, was je aktuell werden oder in vorliegenden Konstruktionen geworden ist. Insoweit müsste jede Perspektive im Blick auf den Menschen, seine Geschichte, seine Interessen, eine Relevanz des Beobachtens enthüllen, die dann für eine Konstruktion einer Beobachtertheorie zur Begründung bestimmter Bevorzugungen und von Ausschließungen wird. Eine Beobachtertheorie enthält Annahmen über Standorte, Zeit­verhältnisse, soziale und je subjektive Vorannahmen von Beobachtern. Sie wird von mir als Beobachter (und Anwender ihrer möglichen Perspektiven) im Sinne einer Motivierung und Reflexion gegenüber den Beobachtun­gen gebraucht. Können und sollten die Wissenschaften im Zeitalter des Wechselspiels von Beobachtern und Beobachtungen noch einer solchen Reflexion und Theoriebildung hierüber entkommen? Sie können es nur dann, wenn sie sich aus einer Teilnehmerperspektive definieren, die immer schon festlegt, was beobachtet werden kann und soll. Dies schränkt ihren Reflexionsraum allerdings erheblich ein und mag leicht dazu führen, die Wirkungen der eigenen Sichtweisen unkritisch zu verallgemeinern.
Eine Beobachtungstheorie ist die bereits gewählte Perspektive eines Beobachters aus den Möglichkeiten der Beobachtungen. Nun darf daraus allerdings nicht die Illusion abgeleitet werden, dass, wenn schon Beobachtungen notwendig wider­streitend sind, die Beobachtertheorie dies überwinden könnte. In ihr kehren alle Konflikte wieder, sie nimmt aus meiner Sicht nur in Anspruch, diese möglichst breit und offen in den Blick zu bekommen und dabei möglichst viel über die Perspektivität von Beobachtern und Beobachtung auszusagen.
Über die Verbreitung einer solchen Beobachtertheorie und den möglichen Nutzen, den Menschen hieraus ziehen mögen, walten dann allerdings wieder Ausschließungsgründe, die eine solche Konstruktion aus bestimmten Interessen und Neigungen gegenüber einer anderen bevorzugen. Je massenhafter solche Bevorzugung wird, desto klarer mag die Relevanz und schließlich Akzeptanz der gewählten Konstruktion im Wechselspiel der Beobachtungen erscheinen. So wähnen sich die Menschen auf solchen erwählten Inseln sicher, bis sie erneut – gemessen in Zeit – in die Strömungen des Flusses gezogen werden. Ein Bleibendes entsteht nur, wenn wir dieses Bild in einem Zeitraffer betrachten, es entfaltet sich jenem Beobachter, der den Zeitraffer bedient, um sich seiner Situierung gegenüber den Inseln und Flüssen klar zu werden. Und dieser ist erneut Konstrukteur, ein Subjekt an einer Raum-Zeit-Stelle dieses Flusses und hockend in einer der Landschaften, die ihm scheinbar einen Über-Blick geben.
Ich gehe von der Grundthese aus, dass jeder Mensch zugleich in allem, was er fühlt, wahrnimmt, denkt, handelt usw. ein Beobachter ist. Von diesem Beobachter ist die Beobachtung wohl zu unterscheiden. Der Beobachter drückt die subjektive Identität des je singulären Ortes einer Beobachtung in einer Zeit aus, die Beobachtung hingegen die schon durch Verallgemeinerung beeinträchtigte Art der sozial-kulturellen Verwaltung dieses Beobachtens durch Beobachter, die sich in einem Zirkel mit ihren subjektiven Beobachtungen und dem befinden, was sie als zu Beobachtendes, als Art und Weise des üblichen Beobachtens bereits kennengelernt haben. Die Rede von der Freiheit des Beobachters darf deshalb nie übersehen, dass der Beobachter bereits beobachtend sozialisierter Beobachter ist. Dafür will ich kurz eine Begründung heranziehen.16
In der psychologischen Beobachtung der Entwicklung kindlicher Intelligenz, wie sie von Piaget unternommen wurde, wird verständlich, dass zum Zurechtfinden in der Welt und im Prozess der Weltveränderung durch ein Subjekt zugleich ein Beobachtungsvorrat in symbolischer Form notwendig ist. Auch wenn viele Autoren diesen am liebsten auf Sprache reduzieren wollen, um sich eine Übersicht zu bewahren, so betont Piaget hingegen auch Formen von Motorik und Affekten, die durch unser Lernen ebenso wie unsere biologischen Gegebenheiten im Zusammenspiel mit der Umwelt unser Welt-Bild strukturieren. Das Wechselspiel von Subjekt und Objekt, wie es die Philosophie oft ausgedrückt hat, erscheint hier im Licht der Konstruktivität, in der Situierung eines Beobachters, der als Ich nicht nur im Verhältnis zu seiner Außenwelt mit der Welt operiert, sondern dies auch im Blick auf seine Innenwelt vermitteln muss, indem er in sich Beobachtungsvorräte nach bestimmten Modi des Beobachtens abfragt und hierauf Handlungen aufbaut und kontrolliert. Entscheidend aber an dieser neuen Weltsicht im 20. Jahrhundert ist, dass dieser Beobachter nicht passiv, nicht kontemplativ und rezeptiv bloß beobachtet, was „wirklich“ geschieht, sondern aktiv, konstruktiv und widersprüchlich in den Beobachtungsprozess selbst eingreift. Und auch dies ist noch zu harmlos gesprochen: Mehr als eingreift, da diese Beobachtungen, wenn sie denn von Subjekten konstruiert werden, überhaupt erst die Voraussetzung, die Bedingung der Möglichkeit von all dem darstellen, was ein Subjekt der Welt und sich zuschreibt. So ist die im Beobachter situierte Beobachtung überhaupt Voraussetzung für Welt- und Selbst-Bilder, für das Gesagte und Gesehene ebenso wie für alles Sag- und Sichtbare (vgl. genauer Kapitel II. 1.3.).
Unterschiedliche Theorien über den Menschen betonen die Einsicht, dass menschliches Denken, menschliche Kreativität keinesfalls konditionierbar und durch instruktives Lernen eindeutig und gleichsam mechanisch übertragbar sind. Es war der große Irrtum des Behaviorismus, die aktive, konstruktive Beobachtungsposition des Menschen zu unterschätzen. Der Mensch ist nicht ein Fass, das ich mit Außenwelt oder reduzierten Reiz-Reaktions-Mustern anfülle, sondern ein beobachtendes Wesen der Außenwelt und seiner selbst, ein von Gefühlen und Interessen geleiteter Sachwalter seiner Beobachtungsvorräte und ein nach den Modi der Beobachtung sehr vielgestaltiger, oft widersprüchlicher Konstrukteur von Sichtweisen. Wenn in meiner Beschreibung dabei bisher der optische Aspekt sprachlich im Vordergrund stand, so hat dies seinen guten Grund in der enorm hohen Relevanz des Bildhaften für unsere Wahrnehmung und unser Welt-Bild. Dies kann und soll jedoch andere Möglichkeiten nicht ausschließen. So gibt es eine Gefühls-Welt, deren Beobachtung oft Empfindung oder Sinnlichkeit genannt wird. Bereits die Klassifizierung der fünf menschlichen Sinne ist nur eine Oberfläche von Beobachtungsmöglichkeiten, die wir aus Angewohnheit konstruieren. Und es gibt die Schwierigkeit, dass der moderne Mensch der Wissenschaft sich oft in der Lage wähnt, unter der verallgemeinerten sprachlichen Welt alle anderen Welten zu fassen, was die Illusion befördert, dass mithin die Sprache der Schlüssel der Welt überhaupt sein könnte.
Die menschliche Geschichte hat die Sprachen in einer Art entfaltet, die allerdings das Beobachten immer mehr verkompliziert und abstrahiert. Solche abstrahierten Beobachtungsvorräte erfordern neue Modi des Beobachtens, denn ich fasse auch das sprachliche Nachdenken als eine Art des Beobachtens auf. Nun mag man über den Sinn dieser begrifflichen Erweiterung streiten, sie ließe sich durch weitere Unterscheidungen oder neue Kunstworte gewiss auch vermeiden, aber der Begriff des Beobachtens erscheint mir als Ausdruck der Vielfältigkeit des Beobachters als hinreichend anschlussfähig, so dass ich ihn nicht nochmals zu differenzieren versuche. Beobachten ist mithin auch das sprachliche Vermögen, sich in einer beobachtend konstruierten Außen- oder Innenwelt zu situieren.
Damit aber ist Beobachten nicht alles, was Menschen ausmacht. Beobachtungen unterscheiden sich von Handlungen. Beobachtungen unterscheiden sich auch von dem, was sie motiviert. Aber bei näherem Hinsehen bedeuten diese Unterschiede nicht, dass Handlungen oder Motive des Handelns frei von Beobachtungen sein können. Sie sind zirkulär miteinander verwoben.17 Es wird das Ziel dieser Arbeit sein, diese Zirkularität näher aufzuklären, hierüber ein Konstrukt einer Beobachtertheorie aufzurichten, die bisher zumindest mir geholfen hat, sie mir besser als mein Welt-Bild vorstellen und kritisch in wissenschaftlichen Diskursen nutzen zu können.
Da ich nun aber nicht den Status des Beobachters aus dem Blickwinkel seiner vermeintlichen Natur biologistisch abstrahiere, muss ich die Modi meines Beobachtens im Blick auf die Beobachtungsvorräte, die hier möglich sind, anders beschränken. Mein Ziel ist es, die große Offenheit des beobachtenden Konstruierens zu verdeutlichen, meine Methode aber ist paradox hierzu die Begründung von Ausschließungen. Jede Methode, die etwas begründen will, steht in der Aufgabe einer Dekonstruktion, wie wir mit Derrida noch sehen werden18, weil sie durch ihre Konstruktion etwas anderes ausschließen muss. So schließt mein Wunsch nach Offenheit geschlossene Konzepte aus, aber es ist fraglich, inwieweit ich Offenheit als Konzept überhaupt aufrecht erhalten kann, denn ich werde nicht offen für alles sein können, um dadurch in einem Chaos der Verschwommenheit zu enden. Diesem Dilemma selbst will ich daher nachgehen, denn es scheint mir vielversprechend, Probleme des Konstruktivismus an der Stelle dieses grundsätzlichen Dilemmas zu ermitteln. Da ich jedoch nicht reduktionistisch verfahren möchte, um in einer Art neuen Objektivismus zu landen, gehe ich den umgekehrten Weg: Welche Kränkungen am Reduktionismus, an den Ausschließungsgründen beobachtender Weisen, an der Schärfe menschlicher Suche nach Wahrheit und Eindeutigkeit ihres Begründens selbst scheinen mir besonders relevant zu sein, um mein eigenes Dilemma beobachten zu können?19 Wenn ich diesen Kränkungs-Bewegungen im Kapitel II. nachspüre, dann verspreche ich mir darüber ein besseres Verständnis über die Möglichkeiten und Paradoxien meines Beobachtens.

 

4. Das Ende der großen Entwürfe

Zuvor will ich aber noch der Frage nachgehen, wieso im Fluss der sozialen Zeit gerade heute der Beobachter und der Konstruktivismus beanspruchen, stärker in den Vordergrund zu treten. Was macht die gegenwärtige Faszination am Konstruktivismus aus?
Es ist ein Umschlag im geistigen Verständnis, in der Selbstbestimmung und im Zusichselbstkommen innerhalb der Erkenntniskritik des 20. Jahrhunderts, was konstruktivistische Ansätze vorrangig ausdrücken. Damit stehen solche Ansätze durch­aus noch – wie übrigens auch die oben angesprochenen französischen Dekonstruktivisten – in der Tradition der Aufklärungsbewegung, die in der Französischen Revolution erfahren hatte, dass Veränderung gegenüber unumstößlich scheinenden sozialen Zuständen möglich ist. Die bürgerliche Gesellschaft gab Raum für Vorstellungen, in denen Menschen sich stärker selbst bestimmen lernen, indem sie die Lebensform mitbestimmen und ihr individuelles Leben – innerhalb der biologischen (physiologischen) Grenzen und gesellschaftlichen Bedingungen – nach freiem Willen führen. Dass diese Freiheit in der Dialektik des zivilisatorischen und kulturellen Fortschritts, mit dem sich die Moderne gerne auf der dinglichen und institutionellen Seite selbst charakterisiert, zugleich eine Dialektik von Fremd- und Selbstzwängen beinhaltet, wird allerdings erst bei näherem Hinsehen deutlich, wie weiter unten noch herausgearbeitet werden soll. Gleichwohl schien zunächst die aufge­klärte Überwindung alter Zustände oder Erklärungsweisen nur unter der Prämisse einer neuen Wahrheit möglich. Diese Wahrheitssuche verabsolutierte je nach Vorliebe entweder die objektiv scheinende Seite „da draußen“ oder die subjektive, inwendige Seite des Men­schen, um zu anspruchsvollen Setzungen zu gelangen. Hier konnten Natur- und Geisteswissenschaften sich über eine gewisse Wegstrecke einig wähnen, aber es war allein der Fort­schrittsglaube an eine gültig seiende und zugleich veränderbare Welt, der diese brüchige Einigkeit trug. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts mehren sich nun die Stimmen, die – hier wiederum nur beispielhaft genannt 20 – von einem „Ende der großen Entwürfe“ (so nach einem Kongress in Fischer u.a. 1992), von „Kontingenz“ (Rorty 1991), von „nachmetaphysischem Denken“ (Habermas 1992 a) sprechen.
Habermas zum Beispiel arbeitet als Aspekte des metaphysischen Denkens vor allem Identitätsdenken, Ideenlehre und einen starken Theoriebegriff heraus, die durch historische, gesellschaftliche Entwicklungen belegt erscheinen (vgl. ebd., 41 f.):

  • ein totalisierendes, sich auf Ganzheit und Einheit richtendes Denken sieht sich durch praktische Verfahrensrationalität erschüttert, die das Erkenntnisprivileg der Philosophie bricht 21; in den Naturwissenschaften wie in der Moral- und Rechtstheorie werden zunehmend eigene Wege beschritten;22
  • historisch-hermeneutische Wissenschaften spiegeln die komplexen „Zeit- und Kontingenzerfahrungen“ der bürgerlichen Wirtschaftsgesellschaft, was ein Bewusst­sein der „Endlichkeit“ von Ereignissen fördert und eine „Detranszendentalisierung der überlieferten Grundbegriffe“ in Gang setzt; 23
  • bereits im 19. Jahrhundert entsteht eine Kritik an der „Verdinglichung und Funktionalisierung von Verkehrs- und Lebensformen“, was den Glauben an die objektivistische Macht von Wissenschaft relativiert; die vorgängige, vorherrschende philosophische Bevorzugung einer Beschreibung der Wirklichkeit in Subjekt-Objekt-Beziehungen im Rahmen eines bewusstseinstheoretischen Paradigmas (Descartes bis Husserl) wird ebenfalls relativiert und geht über in das Paradigma der Sprachphilosophie, die in ihrer Entwicklung den konstruierenden, subjektiven – dabei aber zugleich auch konsensuellen bzw. interessebezogenen – Bereich von Wahrheitsfindung immer stärker be­tont; 24
  • die klassische Bevorzugung der Theorie vor der Praxis ist dem Drängen der modernen Industrie und den modernen Lebensformen nicht mehr gewachsen 25 und wird in Spezialbereiche zurückgedrängt; damit wird Raum frei, um Alltagskontexte und Kommunikationsprobleme differenzierter zu betrachten. Dies setzt allerdings voraus, dass sich Wissenschaft aus dem Logozentrismus befreit, dass sie nicht in „Selbstreflexion der Wissenschaften aufgeht“, dass sie ihren „Blick aus der Fixierung ans Wissenschaftssystem löst“, um sich „auf das Dickicht der Lebenswelt“ einzulassen (Habermas 1992 a, 59).26

Diese Bewegungsrichtungen sind jedoch keineswegs einhellig, Rückbewegungen zur Metaphysik (vgl. ebd., 267 ff.) beschreibt Habermas skizzenhaft, und sie korrelieren mit politischen Auseinandersetzungen. Ergänzend können wir hier auch die Bewegungen der kapitalistischen Entwicklung hinzufügen, die als Tauschgesellschaft eine ungeheure Dynamik mit unterschiedlichen Richtungswechseln nach Interesse, Macht, mit Produktions- und Reproduktionsdynamik, Verwertungs- und Entfaltungsschwierigkeiten ihres politisch-ökonomischen Systems ausdrückt. Die Reflexion solcher komplexer Bewegungen hat dazu geführt, dass es keine einheitsstiftende Philosophie mehr gibt, auch keine andere Disziplin, die diese Aufgabe übernehmen könnte.
Richard Rorty spitzt dieses Argument zu, indem er konstatiert, dass sich heute die meisten Intellektuellen bei „Fragen nach Zwecken – im Gegensatz zu denen nach Mitteln, also Fragen, wie man dem eigenen Leben oder dem Leben der Gemeinschaft Sinn geben kann – an Kunst oder Politik oder beide“ wenden, „kaum an Religion, Philosophie oder Wissenschaft.“ (1991, 21) Dies liegt daran, dass Veränderungen seit der Französischen Revolution und seit einer Kunstentwicklung, die sich nicht mehr als Imitation vorgegebener oder traditionell vorgesehener Werte versteht, in diesen Bereichen eher vollziehbar erscheinen, so dass hier ein Innovationspotenzial stärker vermutet wird als in den traditionell auf Beharrung oder Etablierung einer Sichtweise gerichteten symbolischen Weltsichten. Gleichwohl führte dies auch zu einer Spaltung der Philosophie. „Manche Philosophen sind der Aufklärung treu geblieben und haben sich weiterhin mit der Sache der Wissenschaft identifiziert. Sie sehen den alten Streit zwischen Religion und Wissenschaft fortdauern, nun in der neuen Form eines Streites zwischen der Vernunft und all jenen Kräften in der Kultur, die annehmen, Wahrheit werde eher gemacht als gefunden.“ (Ebd., 21 f.)
Aber welche gefundene Wahrheit steht nur für sich? Ist sie nicht immer auch gemacht? Eine gemachte Wahrheit aber ist eine menschliche Konstruktion. Rorty formuliert dies so: „Wahrheit kann nicht dort draußen sein – kann nicht unabhängig vom menschlichen Geist existieren –, weil Sätze so nicht existieren oder dort draußen sein können. Die Welt ist dort draußen, nicht aber Beschreibungen der Welt. Nur Beschreibungen der Welt können wahr oder falsch sein. Die Welt für sich – ohne Unterstützung durch beschreibende Tätigkeit von Menschen – kann es nicht.“ (Ebd., 24)
Wahrheit wird hier an Sätze geknüpft. Es ist dies jedoch eine Ansicht, die gar nicht so neuartig ist, wie sie erscheinen mag. Im philosophischen Diskurs der Moderne (vgl. Habermas 1991 a) ist eine Bewegung erkennbar, die die konstruktive Seite der Wahrheitssuche als Suche nach immer neuen Konstruktionen schon länger immer stärker hervortreten lässt, die dabei aber zugleich auch komplexe und widersprüchliche Probleme menschlicher Lebenswelt, menschlicher Kommunikation zur Erscheinung bringt. Die gemachte Wahrheit ist nicht einfach ein solipsistischer Vorgang einzelner herausragender Personen, sondern in einen Kreisprozess eingebunden. Habermas (1991 a, 398) interpretiert diesen Vorgang so:
„Die strukturellen Kerne der Lebenswelt werden ihrerseits durch entsprechende Reproduktionsprozesse, und diese wiederum durch Beiträge des kommunikativen Handelns „möglich gemacht". Die kulturelle Reproduktion stellt sicher, dass (in der semantischen Dimension) neu auftretende Situationen an die bestehenden Welt­zustände angeschlossen werden: sie sichert die Kontinuität der Überlieferung und eine für den Verständigungsbedarf der Alltagspraxis hinreichende Kohärenz des Wissens. Die soziale Integration stellt sicher, dass neu auftretende Situationen (in der Dimension des sozialen Raumes) an die bestehenden Weltzustände angeschlossen werden; sie sorgt für die Koordinierung von Handlungen über legitim geregelte interpersonale Beziehungen und verstetigt die Identität von Gruppen. Die Sozialisation der Angehörigen stellt schließlich sicher, dass neu auftretende Situationen (in der Dimension der historischen Zeit) an die bestehenden Weltzustände angeschlossen werden; sie sichert für nachwachsende Generationen den Erwerb generalisierter Handlungsfähigkeiten und sorgt für die Abstimmung von individuellen Lebensgeschichten und kollektiven Lebensformen. In diesen drei Reproduktionsprozessen erneuern sich also konsensfähige Deutungsschemata (oder ‚gültiges Wissen‘), legitim geordnete interpersonelle Beziehungen (oder ‚Solidaritäten‘) sowie Interaktionsfähigkeiten (oder ‚personale Identitäten‘).“

Habermas legt hier den Schwerpunkt seiner Beobachtung weniger auf die spontan gemachte Wahrheit als vielmehr auf jenes Wissen, das in solchen Wahrheitsprozessen bereits immer vorausgesetzt wird. Es ist dies ein rekonstruktiver Teil unserer Lebenswelt, die sich in diesem reproduktiven Kreisprozess aus jeweils unterschiedlicher lebensweltlicher Betonung beschreiben lässt. Der Mensch ist nicht vorrangig durch seine biologische Reproduktion charakterisiert, die ihm dann außerordentliche konstruktive Fähigkeiten mitgibt, sondern im historischen Prozess – aus dem kein Mensch beliebig aussteigen kann – sind für alle konstruktiven Tätigkeiten des Menschen rekonstruktive Voraussetzungen im Sinne der drei Reproduktionsprozesse zu beachten. Dabei stellt Habermas überwiegend auf soziologische oder sprachbezogen-kommunikative Prozesse ab. 27 Zudem argumentiert er dabei idealtypisch. Kulturelle Reproduktion erscheint nur einem distanzierten Beobachter, der selbst noch auf so etwas wie eine einheitliche Entwicklung hoffen kann, der noch eine einheitsstiftende Vernunft des kommunikativen Handelns zumindest am Horizont sich imaginiert, um seine Perspektive zu bewahren. Erst aus dieser lässt sich definieren, was soziale Integration im Sinne einer wünschenswerten Sozialentwicklung ist. Erst daraus lassen sich Bedingungen der Sozialisation erfassen. Aber Habermas gelingt es so nicht, so möchte ich hier nur andeuten und erst später näher ausführen 28, eine Blickrichtung im Sinne einer Dekonstruktion, einer Entlarvung auch seiner eigenen Perspektive einzunehmen. Umgekehrt gelingt dies auch jenen Kritikern nicht, die alles bloß noch dekonstruieren, weil sie jeden Blick für einheitsstiftende Tendenzen in der Postmoderne verloren haben. Der Konstruktivismus kann durchaus zwischen diesen Polen schwanken. Er gewinnt seine Bedeutung ohnehin nur aus der Sicht vieler Wissenschaften, die das Ende ihrer großen Entwürfe erleben. Aber er bleibt eine beliebige Theorieentwicklung mit eher willkürlichen Bedeutungshöfen, solange er nicht über eine Beobachtertheorie verfügt, die dies Schwanken selbst als beobachtende Perspektive und beobachtenden Fokus aufdeckt und sich hierin situiert. Dies ist der Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit.

 

5. Fremd– und Selbstbeobachtung als Konstrukt

So behaupte ich mich selbst, bin aber schon bei einem Anderen.29 Oder umgekehrt: die Anderen sind bei mir. So mag ich den vermeintlichen Leser beobachten, indem ich mir einbilde, was er denken mag, wenn er diese Zeilen liest. Er aber wird sich seinen Teil über sich und den Autor denken. Im Wechsel des Beobachtens wechseln die Möglichkeiten. Auch hier ist der Fluss, die Kinesis, die sich durch die Mimesis eines bestimmten Haltepunktes verstellt. Aber nur in diesem Verstellen erkennen wir. Bevor ich in Kapitel II. den Kränkungsbewegungen ausführlich nachgehe, möchte ich die Leserin und den Leser im Fluss zu einer Distanzierung dieses Bildes selbst einladen, indem wir so tun, als wären wir auf einem Boot auf dem Fluss. Wir suchen aus dieser neuen Perspektive den Flusslauf zu erkennen, Anlegepunkte auszumachen, uns selbst und den Anderen, die Selbst- und die Fremdbeobachtung hierbei zu situieren, indem wir fragen: Warum scheint es eigentlich genau jetzt an der Zeit, dass wir im Fluss uns selbst als Beobachter erheben wollen, uns Boote konstruieren, um zu sehen, wo wir sind, was wir tun, wie wir sind, statt uns einfach treiben zu lassen?
Zunächst geht es darum, hier kurz zu belegen, dass der beobachtende Standort im Fluss eines Geschehens, dass der gegen­wärtige Zeitpunkt und Ort konstruktivistischer Entwürfe nicht zufällig erfolgt, sondern sich in Interpretationen des Zivilisationsprozesses einfügen lässt. Als unseren Bootsmann wähle ich hierzu Norbert Elias. Der Koch auf dem Boot ist Michel Foucault. Ihre Interpretationen wechseln, je nachdem, was wir beobachten wollen. Für manch einen Beobachter wird auf einmal Foucault zum Bootsmann und Elias zum Koch. Mögen diese Interpretationsspiele auch wieder­um nur zwei Zugänge zu möglichen Wirklichkeiten sein, mögen wir also nur in einem Boot mit bestimmten Blickwinkeln sitzen, so rekonstruieren sie nach meiner Sicht hinreichend plausibel, warum wir gerade heute­ jene Autono­mie und Selbstbewusstheit erreichen, die uns als Konstrukteure des eigenen Schicksals erkennbar werden lässt.30 Zugleich führe ich das Verständnis über Beobachter so phänomenologisch weiter, indem ich zusätzliche Unterscheidungen einbringe. Diese werden im weiteren Text ständig wiederkehren und durch die Darstellung selbst immer neue Erweiterungen erfahren. Dies sollte nicht verwundern, denn auf dem Boot auf dem Fluss verändern sich die Blickwinkel ständig. Doch jetzt wird unsere Illustration, wird dieses Bild von Boot, Fluss und Blickwinkeln zu festlegend. Eine höhere Abstraktion soll helfen, einen großen Fluss – die Zivilisation – zu re/konstruieren.
In einer abstrahierenden Betrachtungsweise wird seit der Moderne das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft immer wieder fokussiert, um Teilnahmen und Beobachtungen zu klären. Die Beobachterposition erscheint auf den ersten Blick, besonders wenn ein Beobachter die biologische Autopoiesis zum Fokus erhebt, zunächst immer als eine Ich-Position. Ein zweiter Blick erweist auch in solchen Konzepten, wenn sie das Zusammenwirken menschlicher Gemeinschaften, hier sogar einer Zivilisation, erklären wollen, dass diese Position auf Dauer nie nur durch ein Ich allein geprägt sein kann. Der einsame, isolierte Mensch war immer eine bloße Fiktion und diente allenfalls Autoren dazu, auf bestimmte, zugeschriebene Natureigenschaften des Menschen hinzuweisen.31 In sie gehen Werte ein, die ein kulturell, sozial, zivilisatorisch – wie immer wir hier auch einen Beobachterbereich und Fokus wählen wollen – geprägtes Beobachten – mit Foucault könnten wir auch sagen: Eine Ordnung des Diskurses über alles das, was beobachtet wird – bestimmen. Hierin drücken sich Beobachtungsmaximen aus, die gesellschaftlich selektiert, sanktioniert und erwartet werden. In sehr kohärenten Gesellschaften sind solche Werte ein striktes Dogma der Lebensführung, in pluralistischen Gesellschaften streitbarer Teil der Lebensformen.
Wie das Ich sich in seinen, und das heißt zugleich auch in durch Interessen definierten, Beobachtungspositionen zurecht findet, dies ist seit langem Thema in der Entwicklung der menschlichen Wissenschaft, vom Mythos zum Logos, von religiösen Weltprojektionen bis hin zu philosophischen und politischen Weltabarbeitungen. Die Beobachterposition ist hierbei, das ist eine wesentliche These einer nicht naiven konstruktivistischen Theorie, niemals voraussetzungslos. Sowohl bei den Ansichten des Beobachters als auch bei Theorien über die Beobachtung muss grundlegend beachtet werden, dass der Beobachter bereits Beobachteter, ein in bestimmter Weise im wechselseitigen Spiel von Beobachtungen erzogener Beobachter ist, dass der Beobachtete zirkulär zugleich dabei Beobachtender ist. Sowohl die Inhalte als auch die Formen der Beobachtung erscheinen zwar für den einzelnen Beobachter als subjektiv, sind aber nicht vom kulturellen und sozialen Kontext abzulösen, mit dem sie vielfältig verwoben sind und in dem sie als Maximen der Beobachtung erscheinen. Der Konstruktivismus sieht sich also gezwungen, auf die kulturellen, sozialen, ge­sell­schaftlichen Interaktionen zu schauen, wenn er seine Wirklichkeiten besprechen will.
In diesen verwobenen Zuständen ist es sinnvoll, zwischen einer Selbst- und Fremd­beobachtung zu unter­schei­den, um zwei grundsätzlich unterschiedliche, wenngleich nicht trennbare, Be­obachtungsrichtungen anzuzeigen. 32
Wenn wir auf das ontogenetische Heranwachsen des Menschen sehen, dann hilft die Unterscheidung von Selbst- und Fremdbeobachtungen eine komplexe Dialektik 33, Wechselwirkungen, zirkuläre und entwicklungshafte Prozesse genauer zu beschreiben. Eltern oder Erzieher beobachten z.B. als ihrer­seits bereits Erzogene, sie beobachten ihre Kinder, so wie sie einst selbst beobachtet wurden, und, kom­plizierter hierin, auch noch während aller Erziehung sich selbst beobachten, sich selbst in Gedanken entgegentreten, um sich als Mensch unter anderen Menschen gewahr zu werden, d.h. die eigene Wahrnehmung an anderen und im Bild des Anderen in sich zu vergleichen. Dieser Beobachterstatus ist als Voraussetzung zu beachten, wenn wir uns überhaupt sinnvoll mit unserem Thema ausein­andersetzen wollen. Norbert Elias schreibt dazu treffend in seiner Einführung „Was ist Soziologie“: „Aber gegenwärtig bleibt man beim Nachdenken über sich selbst oft genug auf einer Stufe stehen, auf der man seiner selbst nur als jemand bewusst wird, der anderen Menschen wie anderen ‚Objek­ten‘ gegenübersteht, oft genug mit dem Gefühl, von ihnen durch eine unüberbrückbare Kluft getrennt zu sein. Das Empfinden einer solchen Trennung, das dieser Stufe des Selbstbewusstwerdens entspricht, findet seinen Ausdruck in vielen gebräuchlichen Begriffsbildungen und Redewendungen, die dazu beitragen, es als etwas ganz Selbstverständliches erscheinen zu lassen und es ständig zu reproduzieren und zu verstärken. So spricht man etwa von dem einzelnen Menschen und seiner Umwelt, von dem einzelnen Kind und seiner Familie, vom Individuum und von der Gesellschaft, von dem Subjekt und den Objekten, ohne sich immer wieder klarzumachen, dass der einzelne selbst auch zugleich zu seiner ‚Umwelt‘, das Kind zu seiner Familie, das Individuum zur Gesellschaft, das Subjekt zu den Objekten gehört.“ (Elias 1991, 9)
Die verdinglichende Form der Beobachtung, in der Begriffe zu Gegenständen werden, in der Subjekte mit Gefühlen, mit widersprüchlichen Empfindungen zu Dingen vereinfacht werden, die als Einstellungen, Werthaltungen, Vorstellungen sich vom Komplex des Mannigfaltigen eines Subjekts, eines zwischenmenschlichen Zusammenspiels, eines dynamischen Sachverhalts usw. lösen, ist zugleich Garant der Behauptung der Dinge und Subjekte in einem Beobachterstatus, der vereinfachen muss, um nicht in der Komplexität der Dinge selbst sich zu verlieren. Begriffe sind neben Bildern, die oft aber auch begrifflich gefasst werden, die wesentlichen Hilfsmittel einer Vernunft, die sich in ihren Beobachtungen Übersicht verschaffen will. Begriffe sind gedankliche Konstrukte, die einem jeweils unter­schiedlichen Abstraktionsniveau angehören. Worauf uns Elias aufmerksam macht, der bei der Beobachtung von Familien und sozialen Beziehungen von Verflechtungen spricht, das müssen wir uns zu Beginn unserer Überlegungen über den Beobachterstatus festhalten: Unsere Sprache drückt durch ihre Verdinglichung weniger diese Verflechtungen sowie uns und die Anderen als Beobachter in diesen aus, sondern vergegenständlicht begrifflich und lässt diesen Vorgang damit als etwas Statisches erscheinen. So sprechen wir dann von sozialen Zuständen der Interaktion und Kommunikation, die wir näher mit unterschiedlichsten Abstrakta füllen, obwohl wir bei näherem Hinsehen gar kein gegenständliches Verhältnis festmachen können. Für einige liegt hier die Versuchung nahe, diese scheinbar feststehenden Dinglichkeiten dann weiter dadurch verstehbar und kontrollierbar zu machen, dass sie enge und eindeutige gesellschaftliche Normen an sie heften, um dann aussagen zu können, dass beispiels­weise ein guter Mensch immer eine Person sein muss, die in erster Linie auf die Selbst­beherrschung zu achten habe.34 Je differenzierter dieses Normennetz gespannt wird, desto normativer wird die daraus resultierende Selbst- und Fremdbeobachtungsleistung. Foucault hat sich aus­führlich damit beschäftigt, wie die Normen einen Typ von Gesellschaft formieren, der für die Subjekte verbindlich wird. Aber er befreit uns hierin von der naiven Sicht einer Abbildung von Gesellschaft auf Normen oder Normen auf Gesellschaft, weil sein Blick ständig bereit ist, in widersprüchliche Richtungen zu schauen. Es sind Arbeiten der Rekonstruktion, der Archäologie und Genealogie, wie sie bei Foucault bezeichnet werden, zu leisten, um in dieser Widersprüchlichkeit Diskurse aufzuspüren, in denen lokale und regionale Geschichten wie „Wahnsinn und Gesellschaft“ (1973), „Die Geburt der Klinik“ (1991), „Überwachen und Strafen“ (1992 a), „Sexualität und Wahrheit“ (1989 a b, 1992 b) und anderes mehr lauern. Unsere archäologische und genealogische Arbeit kann uns helfen, den Wurzeln der Fremd- und Selbstbeobachtungen näher zu kommen, aus denen unsere Identität sich formt bzw. geformt wird. Es ist dies kein einheitlicher, sondern ein wechselnder Blick, ein sprunghafter mitunter, der durch Verschiebungen und stete Besonderheiten gekennzeichnet ist. Trotzdem gelingt es, Strukturen zu rekonstruieren, die verborgene und machtvolle Fremdzwänge entlarven, die unseren Selbstzwang als gesellschaftliches Machtspiel erkennen lassen. Gerade eine kultur- und gesellschaftskritische Sicht lebt von solchen Rekonstruktionen.
Da nun erscheint ein Widerspruch ganz eigener Art: Foucault sucht das Transitorische, das Singuläre und Sterbliche in jedem seiner perspektivischen Entwürfe, in seinen Archäologien, die Überreste aus Texten hervorkramen, und seiner Genealogie, die Verbindungen der Herkünfte erfindet und uns überantwortet. Je genauer aber diese Herleitung versucht wird, je geduldiger und minutiöser seine Archäologie voranschreitet, desto mehr wird auch er Gefangener seiner Beobachterpositionen. Zugleich weiß er, dass die Ausgewiesenheit solcher Positionen zur Vernichtung dessen führt, was er konstruktiv nur leisten kann – Transitorisches, Singuläres, Sterbliches zu erfinden und uns zu überantworten, die wir eben auch aus diesen Bedingungen nicht entfliehen können, weil sich die große Wahrheit in die vielen Möglichkeiten des konstruierten Lebens aufgelöst hat. Hat Foucault erst einmal in seinem Werk Beobachtungsräume erschlossen, dann hat er in der Regel kaum von diesen Besitz ergriffen, sondern seine Positionen immer wieder gewechselt. Er spricht von Langeweile, die er bemerkte. Sie korrespondiert mit der Einsicht in die Wahl von Beobachterperspektiven, die den ungeheuren Anspruch auf allseitige Beobachtung ebenso aufgegeben haben wie den Wunsch, alles richtig zu machen. Das Richtige, das Gute, das Wahre, sie haben sich als trügerische Schalen erwiesen, die das Denken richteten und die Blicke einseitig fixierten. Und gerade hierfür ist Foucault schon aufgrund seines Lebensweges sensibel gewesen.35
So sind alle Konstruktionen – obzwar notwendig in bestimmten Kontexten erscheinend oder als plausibel deutbar – immer auch schon brüchig.
Auf zwei Brüche will ich besonders hinweisen: Der erste wird vor allem von Nietzsche eingeführt. Seine Blicke und Entwürfe erschütterten umfassend das Denken im 20. Jahrhundert. Die Werte des Guten und Bösen, die wir als Konstruktionen von Menschen in ihren Lebensformen auffassen können, tragen eine materiel­le Schale, sie atmen die Praktiken, die in den Lebensformen gelten. Er verwies darauf, dass ein Gut zunächst jenes Landgut war, das einen weltlichen Besitz und damit Befriedigung der Bedürfnisse garantierte. Erst auf dem Überleben, der puren Selbsterhaltung baut sich für ihn die Moral auf, die eine neue Form des Gutes sich zu unterscheiden und zu begrenzen weiß. Darin bricht sich jede überhöhte Idealisierung, wie z.B. zivilisatorischer Fortschrittsglaube, denn es sind stets profane Gründe, auf denen „Gutes“ und Moral sich konstruieren.
Ein zweiter Bruch radikalisiert dies: Sigmund Freud hat die Selbsterhaltung an das Triebleben des Menschen gebunden gedacht, um hier die Motivation für die Wiederkehr des ewig Gleichen zu finden, das in menschlicher Leidenschaft begegnet. Die Moral, die zuvor noch als Ausdruck von Sittlichkeit und Auf­geklärtheit des Menschen erscheinen konnte, wird aus dieser neuen Perspektive vom Sockel ihrer Reiter- und Menschenstandbilder gestoßen; sie wird vom imaginierten Helden zurück in die Normalität ihres Scheiterns verwandelt. Der Mensch wird als triebgeleitetes Wesen entlarvt; sein Kopf ist nur eine Möglichkeit seiner Entkommensstrategien. Aber sein Entkommen scheitert, denn die Lust bleibt auch ideell begrenzt; die Triebnatur kann sich nur gelegentlich und begrenzt ausleben.
Gegen das Scheitern richteten sich Theorien und Ideologien auf, die über ihre Moralisierungen das Schuldgefühl maximieren wollten, wie Nietzsche sagte, oder eine psychische Abwehr gegen unbewusste, verdrängte Wünsche darstellten, wie Freud meinte. Wie aber lassen sich diese beiden Positionen auf eine Rekonstruktion der Zivilisation beziehen?
Dieser Bezug ist Norbert Elias gelungen. Er wahrt einerseits eine soziogenetisch realistische Position, ohne andererseits die psychogenetische Dimension auszublenden. In der zivilisatorischen Entwicklung hin zur bürgerlichen Gesellschaft zeigt sich für ihn – vermittelt über die Erziehung – ein zunehmender gesellschaftlicher Zwang, der aus den Beziehungsgeflechten der wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und weiterer Felder selbst ungeplant, aber gleichwohl effektiv hervorgeht. Norbert Elias betont, dass dieser Vorgang zwingender und stärker ist „als Wille und Vernunft einzelner Menschen“ (Elias 1976, 2, 314), die in ihn bewusst eingreifen mögen. In diesen Verflechtungszusammenhängen können wir bei einem sehr groben Betrachtungswinkel erkennen, dass in der Heraufkunft der bürgerlichen Gesellschaften aus Strukturen des Mittelalters, die durch feudale – überwiegend agrarische – Produktionsweisen gekennzeichnet sind, immer kompliziertere Aktionsketten, immer mehr Langsicht, stärkere Triebbeherrschung zur Gewinnung von aufgeschobener Lust und Triebbefriedigung erforderlich werden 36, d.h. dass die Selbstkontrollmechanismen, die Selbstbeherrschungsleistungen der Menschen zunehmen. Der Mensch verliert das, was in den frühen Zeitaltern das Ausleben der freien Natur zu sein scheint. Zwar gab es schon immer Beschränkungen der eigenen Triebe in der menschlichen Geschichte, da die Menschen in gegenseitiger Abhängigkeit seit jeher lebten 37, aber die Versachlichung der Lebensverhältnisse im Übergang zur Geldwirtschaft, zu längeren Handlungs- und Planungsketten, zur immer weiter voranschreitenden Arbeitsteilung, und zugleich die Selbstbewusstwerdung der Menschen über ihre eigenen Leistungen, ihre größere Gleichheit durch die Versachlichung der Lebensverhältnisse, durch die Gleichmacherei des Geldes, das keinen Geburtsadel kennt, dies alles führte – zunächst durchaus in Vermittlung mit der höfischen Gesellschaft und ihrer Tendenz der Höflichkeitssetzungen38 – zu einer neuen Selbstbeherrschungsapparatur, die eine komplexe Selbst- und Fremdbeobachtung vermittelt, die sich das Individuum anzueignen hatte und hat. Die Modellierung des Individuums ist dabei sehr differenziert, schwierig und kostet Zeit, was sich in der Verlängerung der Erziehungszeiten im Abendland auffällig dokumentiert.39 Solche Modellierungen sind gleichzeitig die Basis für eine Betrachtung der Selbst- und Fremdbeobachtungsleistungen.
Wenn Elias dabei verallgemeinernd Fremd- und Selbstzwänge betrachtet und in eine Art Archiv der Beobachtungsmöglichkeiten einträgt, dann verfährt Foucault an dieser Stelle durchaus ähnlich. Er sieht die Zwänge der Menschen an ihre Umwelt gebunden, an die materielle Umwelt, an Bräuche in der Kultur und an sprachliche Muster. Hierbei entsteht eine Paradoxie: Einerseits ist die Schöpfung von Produktionen, von Kultur und Sprache ein kreativer und subjektbezogener Vorgang, andererseits ist dieser Vorgang immer schon präskriptiv, da wir nie an einem Anfang dieser Schöpfung stehen, sondern uns der Institutionen, des Vokabulars usw. schon bedienen, das uns Muster des Sehens und Sprechens liefert, das uns Richtungen vorgibt und Grenzen aufweist, in denen bereits Ausschließungen verhandelt und beschlossen sind, so dass die Ordnung des Diskurses immer auch schon Voraussetzung dessen ist, was wir subjektiv vermögen. Im Gegensatz zu Elias interessierte Foucault dabei zunächst in seinem Werk nicht so sehr der innere Aufbau der Psyche, sondern vielmehr eine Sichtweise, die die Funktionsweise jener Institutionen beschreiben hilft, die in den letzten Jahrhunderten die Erforschung der Psyche betrieben haben. Hier wenden wir uns gegebenenfalls gegen die Ent­deckung jener unvermeidlichen Fremd- und Selbstzwänge als natürlicher Faktoren der Lebensform, weil der Wechsel des Blickwinkels sie zunächst nur als Ausdruck bestimmter festgeschriebener institutioneller Fixierungen von Ausschließung definiert, die selbst zu problematisieren ist. In „Wahnsinn und Gesellschaft“ zeigt Foucault auf, wie die Praktiken von Irrenärzten, die abweichendes Verhalten in der aufstrebenden bürgerlichen Gesellschaft kontrollieren wollten, zu einem öffentlichen Diskurs von gesund und krank führt, der auf dieser Basis dann ein Eigenleben produziert. Die Studien über die „Geburt der Klinik“ und „Überwachen und Strafen“ differenzieren diese Sicht, indem sie Verzweigungen einer Strategie aufzeigen, in der Verhalten, das von den Erwartungen gesellschaftlicher Zwänge abweicht, kontrolliert wird: Irrenhäuser, Hospitäler, Gefängnisse, Kasernen, Schulen und andere Agenturen der Kontrolle erscheinen als Disziplinarmächte, die weniger der Befreiung des Geistes im Zeitalter seiner Aufklärung entsprechen, als vielmehr den Versuch erkennen lassen, menschliches Verhalten umfassend unter Zwänge zu binden. Aus dieser Sicht, die Foucault im Zusammenhang mit politischen „Befreiungsbewegungen“ Ende der 60er Jahre bekannt gemacht haben, versteht er die menschliche Psyche als eine Abstraktion, die von öffentlicher Macht konstruiert wird und in der eine gesellschaftlich erwünschte Auffassung des Selbst etabliert ist. Dabei entsteht allerdings kein einfaches Bild von Repression: Die Fremdzwänge, die auf die Selbstzwänge der Menschen hinwirken, sind zugleich als Umwelt, Kultur und Sprache Sinn gebend für die Psyche des Selbst, sie sind daher immer Spannungsverhältnis und nicht bloßes Abbild vorgegebener Wirklichkeit. Hier erscheint eine Differenz des Sichtbaren und des Sagbaren: Im Wechselspiel der tatsächlichen Praktiken und der Aussagen über diese entsteht ein Riss im Selbstverständnis der Moderne, die sich in ihren Selbstdefinitionen gerne „natürlich" und eindeutig nach der Wahrheit des Wissens bestimmt sieht, ohne sich um die eigene Widersprüchlichkeit zu kümmern. Aber gerade diese entdecken wir, wenn wir uns den Ordnungen des Diskurses in ihrer Produktivität zuwenden: Die menschliche Psyche wird ja nicht nur durch Fremdzwänge bestimmt, sondern wirkt selbst an der Erzeugung von Ordnung aktiv mit, indem sie die Regeln der Formation des Diskurses durchführt, variiert, modifiziert und in Entwicklung hält. So werden die Irren zur Heilung angehalten, die Gefangenen zur Resozialisation ermahnt, die Soldaten zum kontrollierten Mord unter spitzfindiger Moral gedrillt, die Schüler zur aktiven Übernahme in einem System der passiven Geduld erzogen. Hier erscheint nach Foucault eine positive Ökonomie, die dazu anleitet, sprachliche und institutionelle Formen und Ordnungen zu finden, die die Beziehungen der Menschen regeln. Dies ist ein konstruktivistischer Vorgang, denn es gibt keine wahre Natur, die wir abbilden könnten, es gibt nur künstliche Welten – Sprache, Institutionen usw. –, die von Generation zu Generation modifiziert oder neu konstruiert werden, um das auszusagen, was Menschen in ihrer jeweiligen Zeit sind und wie sie sich sehen. Blicken wir aus der Gegenwart zurück, dann handeln wir wie Archäologen, die nicht mehr wissen können, was die anderen Generationen mit sich anfingen, wir rekonstruieren vielmehr, was uns die Funde über sie sagen. Insoweit erfinden wir uns auch die Geschichte der Fremd- und Selbstzwänge. So entdeckt Foucault jene gesellschaftlichen Ausschließungsgründe, jene repressiven Praktiken, die im Wechselspiel von Wahrheitssuche, Wissen und Macht sich verbinden. So führt ihn die Archäologie des Wissens zur Suche nach Formationsregeln, die das Abhängigkeitssystem des Subjekts definieren helfen. Zugleich aber ist das Werk Foucaults auch davon durchzogen, wie diese Formationsregeln sich im Diskurs verselbstständigen, wie sie zu Regeln im Zeitkontext werden, und in seinem Spätwerk verdichtet sich dies auf die Fragestellung, welche Selbsttechniken die Subjekte dazu bringen, sich selbst als Teil von Gesellschaft zu konstituieren.40
Ziehen wir ein erstes Fazit. Aus der Sicht der Zivilisierung des Menschen oder der Ordnung der Diskurse in der Moderne scheint es besonders auf die Verinnerlichung der äußeren oder gesellschaftlichen Fremdzwänge anzukommen. Es zeigt sich, dass es in der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft eine Zunahme an Fremdbeobachtungskompetenz wie auch an Selbstbeobachtungsleistungen gibt, die wir etwas genauer betrachten müssen, um die Entstehung bestehender Beobachtungsmaximen der Gegenwart näher in ihrer Herkunft zu begreifen. Zuerst will ich die Begriffe Fremd- und Selbstzwang mit Elias differenzieren, um dies dann auf die Begriffe Fremd- und Selbstbeobachtung zu beziehen: 41
a) Beobachter unterschiedlichster Zeitalter haben festgestellt, dass es immer allgemein menschliche Zwänge wie Hunger, Selbsterhaltung, Geschlechtstrieb gibt, die durch die animalische Natur des Menschen überhaupt bedingt sind; sie sind schwer abzugrenzen und bilden vielfach eine Einheit mit den Bedingungen der äußeren Natur, die der Mensch zu bewältigen hat: Nahrungssuche, Wohnung und Geborgenheit, soziales Beisammensein und vieles mehr. Im historischen Prozess reicht diese allgemeine Beschreibung menschlicher Zwänge aber kaum mehr hin, weil in jeder Form von Gesellschaftszuständen eine Differenzierung eintritt:
b) Menschen leben immer sozial komplex zusammen, so dass wir von gesellschaftlichen Zwängen sprechen. Hier handelt es sich um Zwänge, die Menschen auf Menschen im Alltag ausüben. Diese Zwänge können wir auch als Fremdzwänge bezeichnen; sie sind typisch für Paar- und Familienbeziehungen sowie für allgemeine gesellschaftliche Beziehungsgeflechte.
c) Von den animalischen oder triebbedingten Zwängen der ersten Stufe können wir einen „zweiten Typ von individuellen Zwängen“ unterscheiden, der durch den besonderen Begriff der Selbstkontrolle, einer Kontrolle durch den Verstand und die Vernunft, besonders aber durch das menschliche Gewissen 42 charakterisiert wird. Die daraus entspringenden Zwänge nennen wir Selbstzwänge. „Sie sind von den na­turalen Triebzwängen verschieden, da uns biologisch nur ein Potenzial zum Selbstzwang mit auf den Weg gegeben ist. Wenn dieses Potenzial nicht durch Lernen, also durch Erfahrung, aktuali­siert wird, bleibt es latent. Grad und Gestalt seiner Aktivität hängen von der Gesellschaft ab, in der ein Mensch aufwächst, und wandeln sich in spezifischer Weise im Fortgang der Menschheitsentwicklung.“ (Elias 1990, 48)
Wenn auch die erste Stufe des menschlichen Zwangs für alle Entwicklungsstufen der Menschheit gilt, so ändert sich im Laufe des Zivilisationsprozesses besonders das Verhältnis von Fremd- und Selbstzwängen. Selbstverständlich gibt es in allen menschlichen Gesellschaften, auch in sehr ursprünglichen und einfach erscheinenden Gesellschaften, Maßnahmen, die die Normen des Zusammenlebens, den Fremdzwang, in einen Selbstzwang der Gruppenmitglieder verwandeln. Aber diese Selbstzwangapparatur erscheint verglichen mit der von hochdifferenzierten, auf Interessengegensätzen beruhenden und mehrparteilichen Industriegesellschaften als relativ schwach und lückenhaft.43 Das heißt, dass die Mitglieder „einfacher“ Gesellschaften zur Selbstzügelung „in sehr hohem Maße der Verstärkung durch die von anderen erzeugte Furcht, den von anderen ausgeübten Druck“ bedürfen. (Ebd.) Solcher Druck kann direkt von Personen ausgehen, aber auch von Imaginationen wie Geistern, Ahnen, Göttern. Der Fremdzwang dient der meist ritualisierten Erfüllung eines Lebens- und Herrschaftsgefüges, das für das Überleben der Menschen erforderlich und damit notwendig erscheint. Moderne Industriegesellschaften haben demgegenüber vor allem eine Selbstzwangapparatur entwickelt, die auf die ständige Kontrolle durch äußeren, fremden Druck bis zu einem bestimmten Grad verzichtet bzw. solchen Druck durch Institutionenbildung versachlicht hat. Dies dokumentiert sich in einer Veränderung der Verhaltensstandards, die z.B. folgende wesentliche Aspekte aufweisen: 44

  • eine enorme Erhöhung des Nationalprodukts, eine damit einhergehende Verbesserung des Lebensstandards, eine zunehmende Abnahme von harter körperlicher Arbeit und eine Verkürzung der Arbeitszeit in den Spätphasen des Industrialisierungsprozesses führen zu breiteren und aktiveren Handlungsmöglichkeiten der Menschen; die Steigerung der Produktivität im Prozess der Industrialisierung, die zunehmenden Märkte und immer unüberschaubareren Tausch-, Konkurrenz- und Profitverhältnisse bedingen geradezu aktives, selbstständiges Handeln, um überleben und mitleben zu können;
  • Industriegesellschaften sind je nach Blickwinkel von Emanzipations- oder Apokalypsebewegungen erfüllt; zunächst besiegte das Bürgertum den Adel; der Klassenkampf zwischen Bürgertum und Proletariat konnte durch eine materielle Besserstellung der Arbeiter entschärft werden. Es bildeten sich vor dem Hintergrund der wissenschaftlich-technischen Revolutionen neue Machtbalancen. Die dabei erreichten Versöhnungen sind aber immer heikel, wenn die materielle Seite erschüttert, der Wohlstand der Massen gefährdet wird; es hat sich ein Bewusstsein entwickelt, dass dieser Prozess nicht abgeschlossen ist;
  • die Institutionalisierung der Gewaltenteilung in exekutive, legislative und judikative Mächte, wobei insbesondere ein relativ unabhängiges Rechtssystem zur Verhaltenssicherheit beitrug, festigte die jeweils erreichten Machtbalancen und stabilisierte die Herrschaftsverhältnisse durch Versachlichung; an die Stelle der persönlichen Unterwerfung rückte die versachlichte Unterordnung, was zu einer Erhöhung der Selbstzwänge als Einsicht in sachlich-rationale Fremdzwänge, unabhängig von der Autorität bestimmter Personen, führte;
  • im 20. Jahrhundert veränderten sich in den Industriegesellschaften besonders die Machtgefälle zwischen den Menschen:
    ° zwischen Männern und Frauen, wobei Frauen stärker berufliche Rollen einnahmen und mehr Freiraum gegenüber der patriarchalischen Struktur traditioneller Familien gewannen;
    ° zwischen der älteren und der jüngeren Generation, wobei eine Werteneuorientierung stattfand: Die Ideale der Älteren haben nicht mehr unbefragt Gültigkeit; Jugendideale werden von zahlreichen gesellschaftlichen Altersgruppen als geeigneter Ausdruck einer sich ständig wandelnden Lebenshaltung vertreten; autoritäre Abhängigkeiten werden gebrochen oder zumindest verunsichert; das Recht auf Selbstorientierung der Jüngeren findet allgemeine gesellschaftliche Anerkennung;
    ° zwischen den europäischen Gesellschaften und ihren ehemaligen Kolonien bzw. zum Rest der Welt gibt es einschneidende Veränderungen, indem Abhängigkeiten abgeschüttelt wurden und werden (z.T. ersetzt durch die Rolle der Weltmächte);
    ° zwischen Herrschenden und Beherrschten, indem demokratische Gebräu­che  – besonders durch rechtliche Einbindungen – zur Versachlichung von Macht führ­ten, die, sofern demokratische Grundsätze der freien Wahl und Gewal­tenteilung gegeben sind, – mit Einschränkungen – zur Kontrolle von Macht beitrugen;
  • die Veränderung des Machtgefälles, die die strikte Hierarchisierung feudaler oder früher bürgerlicher Lebensformen auflöste, geht aber zugleich mit einer wachsenden Verhaltens- und Statusunsicherheit der Menschen einher; für dynamische Industriegesellschaften stellt damit das Problem von sozialisierenden Maßnahmen, die die Identitätsfindung garantieren, in weit stärkerem Maße eine Verkomplizierung der Sozialisation dar als für überwiegend agrarisch produzierende Gesellschaften, in denen Identitätsfindung noch im relativ überschaubaren Rahmen der Familie erfolgt und wesentlich auf diese beschränkt bleiben kann;
  • hier erscheint auch ein Bewusstseinsproblem, das typisch für den Verlust der Machtgefälle ist: erst durch den Abbau von Macht konnten die Menschen in den Industriegesellschaften überhaupt das Problem erkennen, was Macht zuvor bedeutete und warum sie in ihrem Gebrauch kritisch zu betrachten ist; 45 erst hieraus konnten auch wissenschaftliche Untersuchungen entstehen, die nicht nur das traditionell Überlieferte in Frage stellen, sondern zugleich auch sich selbst, den eigenen Ansatz als einen relativen, im Prozess der Zivilisation nunmehr erkennen.

Der Wandel der Machtbalance in den Industriegesellschaften hatte eine hohe Bedeutung für den Status von Beobachtungsleistungen in diesen Gesellschaften. Er aktivierte gerade die Kultursicht, die die inneren Kräfte des Menschen mehr betont als die Fremdzwänge. So entstand auch hier ein Wandel der Beobachtungsverhältnisse: Da, wo im Entstehen der bürgerlichen Gesellschaft Beobachtung noch als Maxime begriffen wurde, mit der eine reine Wahrheit und ein positives Wissen sich aufbauen lassen, wo die naturwissenschaftlichen Revolutionen geradezu durch Beobachtung erzwungen wurden,46 fand insbesondere im 20. Jahrhundert eine Wendung hin zu einer Beobachtung statt, die Beobachtungsleistungen tendenziell 47 stärker als Bildungsprozess in Selbsttätigkeit und mit Selbstbestimmungsmomenten des Beobachters verstand, als Selbstbewusstwerdung eigener Mächtigkeit (Autonomiepostulat), die den Beobachter vermittelt über die gesellschaftlich herrschenden Normen zu seiner eigenen Entwicklung kommen lassen will.
Konstruktivistische Weltsichten konnten in diesem – ethnozentristisch geprägten – Kontext entstehen. Dies geschah aber weniger als konsistente Theorieschule, sondern vielmehr in unter­schied­lichsten Ansätzen, die sich auch nicht unbedingt den Namen Konstruktivismus gaben. Für sie alle wurde es entscheidend, den eigenen, subjektiven oder subjektiv vermittelten Anteil an der Konstruktion von Wirklich­keit stärker zu berücksichtigen und hin auf die bereits vorliegenden radikalen philosophischen Ansprüche zu untersuchen, inwieweit der Mensch selbst vorgängig jenes projizierende Wesen ist, das sich Mächte und Institutionen schafft, die nur scheinbar unabhängig von ihm walten und sein Schicksal bestimmen. In aller Aufklärungsphilosophie bis hin zum Marxismus wohnte bereits eine Ambivalenz, die sich dadurch ausdrückte, dass spätestens seit der Französischen Revolution der Mensch hatte erkennen können, dass er sein politisches Leben selbst bestimmen kann, was die Maxime der Freiheit ausdrückt. Gleichzeitig aber sollte und musste aus vernünftigen Gründen diese Maxime durch neue Ontologien beschützt werden, weil die Furcht vor dem subjektiven Chaos eine grundlegende Furcht der harten bürgerlichen Wirklichkeit war und ist, auch wenn es ein soziales Netz zur Milderung kapitalistischer Grausamkeiten gibt. Wenn allerdings die Autonomie des Menschen gleichzeitig mit materieller Sicherheit zunimmt, dann kann er sich stärker jener Ambivalenz hingeben, die seine Konstruktionen durchzieht; dann kann er leichter zugeben, dass alle Wirklichkeiten und Nor­men Erfindungen von Menschen sind. Allerdings gehen konstruktivistische Erkenntnisbemühung und gesellschaftliches Interesse dabei immer eine Verbindung ein, die, je nach den Voraussetzungen, auf den Konstrukteur wie auf das, was er je konstruiert, zurückwirken: In einer Gesellschaft, die ihre Arbeitskräfte willkürlich ausbeutet, wäre die konstruktivistische Behauptung, dass alle Erfahrung je subjektiv sei, gewiss anders politisch zu begreifen als in einer Gesellschaft, in der die Ausbeutung nach gewissen gemeinsamen Regeln der Menschlichkeit erfolgt.48
Auch die hier vorgestellte Herleitung nach Elias und eine Interpretation seiner Aussagen im Blick auf Beobachtungsleistungen ist bloß eine Konstruktion. Sie ist aber nicht beliebig, sondern folgt bestimmten re/konstruierten Einsichten und Interpretationen, die für gültig gehalten werden können. Aber wir müssen vorsichtig genug sein, diese Gültigkeit nicht zu überschätzen, da wir die Interessenbedingtheit solcher Konstruktionen im Zeit- und sozialen Wandel selbst mit zu berücksichtigen haben. So wird es gegenwärtig Widerstreit durch jene Interessen geben, denen solche Konstruktionen die Aufgabe ihres Weltbildes wären (z.B. eines religiösen oder auf nur eine Richtigkeit pochenden), so wird es zukünftig nicht nur Widerstreit, sondern Beseitigung oder Umwandlung auch des Konstruktivismus in der einen oder anderen Form geben, weil er als ein Ausdruck unseres gesellschaftlichen Zustandes, unserer Kommunikationsmöglichkeiten, kaum so vermessen sein kann, sich als ewiges Bindeglied zwischenmenschlicher Vernunft-Beziehungen zu begreifen. Es kann sogar sein, dass viele Menschen wegen Unerträglichkeit ihrer Selbstverantwortung durch die Erkenntnis eigener Konstruktionsmächtigkeit zurück zu solchen mythischen Mustern fliehen werden, die ihnen Sicherheit durch Projektion auf scheinbar unumstößliche Gesetze wiedergeben. Angesichts der Wirkungen des kapitalistischen Umgangs mit Wirklichkeit, der dabei entstehenden ökologischen Misere und der Drohungen der Selbstvernichtung der Menschen, mögen solche neuen Konstruktionen durchaus verständlich erscheinen.
Damit tritt – drohend – ein neuer Fremdzwang in den Gedankenkreis, den wir heute noch gerne verdrängen. Schließlich stehen wir auf dem Höhepunkt unser Selbstzwangmechanismen, die allzu oft in menschlicher Gegenseitigkeit auch versagen und in Aggression, Kriminalität, Verletzung von Menschenrechten und allgemein für menschlich gültig gehaltene Normen umschlagen. Der Selbstzwang drückt eine inhärente, selten offen formulierte und meist erst im Nachhinein bestrafte Grenze von Konstruktivität aus, die gesellschaftlich – wenngleich wandelbar – immer auch vorgegeben ist, die sozusagen den selbstreferenten und im Alltag wenig hinterfragten Bezugskreis der Lebensform abgibt. Dabei ist es vor allem die durch Sozialisation angeeignete und verfestigte Beobachtungsleistung, mit der dies von den Gesellschaftsmitgliedern verinnerlicht wird. Allerdings, und darauf macht uns insbesondere wieder Foucault aufmerksam, bedeutet die institutionelle Einbindung dieser Beobachtungsleistung in ein System von Ausschließungen dann auch eine Verselbstständigung von Beobachtungen, die in der Vergangenheit erfunden wurden. Hier erscheint ein zirkuläres Wechselspiel, das dem Geschick des Archäologen und Genealogen es überantwortet, die für die Zeit, in der er lebt, scheinbar gültigen Antworten zu re- und dekonstruieren.
Unter diesen Erfindungen und Blickwinkeln wird eine Idee sowohl von Elias als auch von Foucault immer wieder hervorgehoben: Im Souverän erschien die Verkörperung eines Fremdzwanges, der den Selbstzwang notwendig hervorbrachte. Elias beschreibt die daraus entstehende Verkettung und Wechselwirkung. Er konzentriert seine Betrachtung im „Prozess der Zivilisation“ zunächst auf die Herausbildung der Souveränität, um diese dann in ihren Mechanismen der Rücksichtnahme gegenüber einer Machtbalance mit anderen Ständen und Kräften zu zeigen. Solange die feudale Gesellschaft existierte, so schlussfolgert auch Foucault (1978, 88 ff.), bedeckte das Souveränitätsverhältnis den gesamten sozialen Körper. Im 17. und 18. Jahrhundert hingegen sieht Foucault dieses Verhältnis aufbrechen. Auch er beschreibt, in anderen Begriffen als Elias, die Zunahme der Selbstzwänge, indem er darauf verweist, dass neue Machtmechanismen sich mehr in den Körpern als in äußeren Vereinbarungen, mehr in auf Verinnerlichung abzielenden Überwachungsmechanismen als in äußeren Steuerungssystemen oder zeitlich abgestuften Verpflichtungen äußern. Es ist ein Machtmechanismus, der ein enges Raster von Verpflichtungen ausdrückt, von materiellen Zwängen voraussetzt und nicht mehr so sehr auf einen physisch präsenten Souverän abhebt. Hier entsteht die Kodifizierung einer kontinuierlichen Überwachung, die mit den Selbstzwängen verwoben ist, wobei beide Aspekte einander durchdringen bzw. wir als Beobachter sie als einander durchquerend denken können. „Die Theorie der Souveränität vermag eine absolute Macht in der absoluten Verschwendung der Macht zu begründen“, ein feudaler Typus von Ausbeutung und Luxus, der die Wirkungen der Macht als Herrengesten beschwört, „nicht jedoch die Macht mit einem Minimum an Verschwendung und einem Maximum an Effizienz zu kalkulieren“ (ebd., 90 f.) versteht. Diese Wende bedingt einen Selbstzwang, der das Kalkül der Effizienz verinnerlicht und als Wissen in sich formiert. Es ist dies eine entscheidende Erfindung der bürgerlichen Gesellschaft: die Disziplinarmacht. Diese Disziplinarmacht durchdringt den bürgerlichen sozialen Körper, aber sie hat gleichwohl nicht zum Verschwinden der Theorie der Souveränität geführt, die sich vor allem in den Gesetzbüchern erhalten hat. Mit Elias kann dies deutlich als Wechselwirkung von Fremd- und Selbstzwängen beschrieben werden, die einem Spannungsverhältnis von Fremd- und Selbstsouveränität mit Fremd- und Selbstdisziplinierungen ausgesetzt sind. Foucault sieht dies so, dass in der Gesetzgebung sich ein Recht der Souveränität erhalten hat, wobei andererseits durch die Praktiken der Disziplinarmächte die Realität des sozialen Körpers gewährleistet wird. Dies erklärt auch Spannungen zwischen beiden Bereichen, die sich einem Beobachter darstellen, wenn er zwischen Faktizität und Geltung unterscheidet.49

 

6. Beobachtungszwänge und die Emanzipation des Beobachters

Im Blick auf die Funktionalität des Selbstzwangs soll uns ein kurzer Exkurs in die Erziehungsgeschichte der bürgerlichen (modernen) Gesellschaft überblicksartig helfen, Veränderungen im Konstrukt der Beobachtungen zu veranschaulichen.50
Im Abendland war der Selbstzwang bereits im Frühbürgertum sehr stark individualistisch orientiert. Mit dem Aufkommen der frühbürgerlichen Märkte wurde der Egoismus als Triebkraft der gesellschaftlichen Entwicklung vor allem in philosophisch orientierten Theoriekonstruktionen hervorgehoben. Der Mensch erschien als des Menschen Wolf, der entweder durch die Herrschaft des Staates 51oder durch die innere Aneignung gesellschaftlicher Normen 52 seine Individualität entwickeln konnte, ohne die Mitmenschen dabei gleich zu vernichten. Insgesamt wandelten sich im Prozess der Zivilisation damit auch Fremdbeobachtungen hin zu verstärkten Selbstbeobachtungen. Daraus entstanden vielfältige individualistische, die Singularität des Menschen betonende Sichtweisen ständiger Konkurrenz zwischen gesellschaftlichen Klassen und Schichten, die als Beobachtungsleistungen internalisiert und entäußert werden. Auch wenn diese Vorgänge als ein Konstrukt von Wirklichkeitsentwürfen und Verhaltensweisen betrachtet werden können, so führte dieses dort, wo es gesellschaftliche Konvention wurde, zu Zwängen in der Lebensform. Konstruktivisten betonen, dass solcher Zwang im Laufe der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft immer wieder mit Veränderungen kollidiert. In einer Zeit scheint alles fest, aber aus der Perspektive des Nachher verflüssigen sich die solidesten Konstrukte. Dann bleibt es späteren Beobachtern vorbehalten, sich die Konstrukte selbst archäologisch neu zu erfinden. Solche Rekonstruktionsarbeit gründet sich dann auf Interpretationen von Zeichen, Worten, Begriffen und ganzen Aussagesystemen, von Bildern und Assoziationen zu Erinnerungsspuren, die wie auch immer verdichtet und verschoben nach einem Konstruktionsmaßstab gebildet werden: Zeit. In sie gehen die materialisierten, vergegenständlichten Architekturen, Versteinerungen, Verdinglichungen und schriftlichen Codierungen ein, die für die Ewigkeit gebaut oder geschrieben zu sein scheinen. Zeit ist jene große allgemeine Rekonstruktionsvariable, die die Interessen immer neu zu binden scheint und in der die Konstruktionen variieren. Je nach Interessenlage kann es hier keine Beliebigkeit von gültigen Beobachtungen geben, denn die Beobachtungsleistung selbst soll immer auch auf ein eigenes Handeln für Zukunft orientieren. Gleichwohl wird im Laufe einer generationenübergreifenden Perspektive keine Gültigkeit von Dauer bleiben.53
Beobachten muss ich aus der Sicht solch notwendiger und doch nie hinreichender Rekonstruktion insbesondere alles, was als Vorgegebenes für mich Wissen und Erkenntnis bedeuten soll oder kann. Der Beobachterstatus in seiner beschreibenden, verdinglichenden, verobjektivierenden Beobachterposition wurde deshalb typisch für die moderne Beobachterposition und wird mit dieser oft gleichgesetzt. Denn für den Alltag ist die Illusion übermächtig, dass die wahrgenommenen Dinge auch gleich die Begriffe und die Wahrheit der Sache selbst seien, weil alles Trügerische in einer Waren produzierenden und auf Austausch und Geldverkehr gründenden Gesellschaft nur Angst und Unsicherheit gegenüber dem Leben erzeugt, also Abweichung von der Norm des funktionierenden Teilnehmers am Projekt der Moderne. So ist die Moderne mit einem Januskopf versehen: Sieht sich die eine Seite als Urheber und Konstrukteur ihrer eigenen Wirklichkeit, so schreckt die andere hiervor zurück und sucht nach den Bildnissen der Wahrheit in der verdinglichten Welt. Mitunter erscheint in dieser Janusköpfigkeit der Widerspruch von Wissenschaft und Alltag, wenn wir ein Bild des Misslingens, ein Bild einer technischen Katastrophe, einer Krise in den Vermittlungen, gewinnen. Dies mag zur Wurzel eines Zweifels werden, der jedoch meist schnell distanzierend weggeschoben wird, um das Projekt der Moderne mit all seinen materiellen Vorteilen noch genießen zu können.
Der Fremd- und Selbstzwang als psychische Apparatur des erfolgreich soziali­sierten bürgerlichen Individuums wird beobachtend vor dem Hintergrund der Zeit angeeignet. Langsicht, Abschätzung eigener Handlungsketten und Koordination mit den Ketten Anderer, Wirksamkeitsbeobachtung eigenen Verhaltens, Nachahmung erfolgreichen Verhaltens Anderer, dies alles setzt einen hohen Standard der Beobachtung und eine Einschätzung des „rechten Zeitpunktes“ voraus. Die „aufgeklärte“ bürgerliche Erziehung betonte besonders diesen Punkt, weil sie erwartete, dass durch exakte Naturbeobachtung und Beobachtung „natürlicher“ Vorbilder gleichsam von allein der Selbstzwang als natürlicher, menschlicher Zwang eines guten Verhaltens produziert werde. Hier ist das Robinson-Modell wegweisend für die Wünsche bürgerlicher Erziehung geworden. Mit ihren Wunschbildern differenzierte sich in unterschiedlichen Theorien zugleich das Problem (vgl. Reich 2005, 176 ff.). Auffällig an diesen Formen der Beobachtung ist, dass sie immer eine Autorität benötigen, die richtige, zielorientierte und kontrollierbare Beobachtungen ermöglicht. Zwar ist der erfolgreiche Selbstzwang das Ziel solcher Beobachtungsleistung, aber sie setzt von der Methodik her überwiegend auf den Fremdzwang, den der in Beobachtungen zu unterweisende Zögling erlebt. Dies ist auf dem Hintergrund zu interpretieren, dass die Beobachtungstheorien auf dieser Stufe in der Regel von richtigen Denkannahmen, unfehlbaren Wissenstatbeständen und natürlich klar erscheinenden Verständnisleistungen ausgehen, insgesamt also von einem Wissenschaftsverständnis, das den erreichten Stand stärker betont als die möglichen Veränderungen.

Fremd- und Selbstzwänge erscheinen aus der Sicht des Aufbaus spezifizierter Beobachtungstheorien in diesem verabsolutierten Wahrheitskontext überwiegend als „natürlich“, als selbstverständlich, als durch die gesetzten gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt, sofern diese mit der Vernunftsetzung übereinstimmen.54 Dabei ist es dann auch nicht erstaunlich, dass die spezialisierten Wissenschaften es sich kaum zur Aufgabe machten, eine Theorie des Beobachtens aufzustellen, um die Veränderlichkeit der Beobachtungsperspektive selbst als Bedingung der Möglichkeit ihrer Erkenntnisbehauptungen und damit als deren Relativierung einzuführen. Die damit verbundene Unschärfe wurde allenfalls als Ausnahme der auf positive Erkenntnis abzielenden Vernunft gesehen. Es blieb hingegen die Behauptung einer Schärfe von Wahrheit, die durch die Grenze des Wissens und Unwissens selbst klar definiert schien. Die zivilisierten Gesellschaften definierten sich so als wissende. Der geistige Freiraum des Menschen, sein Künstlertum, seine Ästhetik und Religion erscheinen als Ausdruck dieser, wie selbstverständlich geltenden, in ihrem Zwangscharakter in der Regel unhinterfragten Zivilisation. Aber es ist ein langer Weg der Beobachtung, der diesen Freiraum eröffnet, so dass die Befreiung hin auf Selbstbeobachtung oft zu kurz gehalten wurde – hier wendete sich die bürgerliche Entwicklung auch oft gegen die zu große Selbstentfaltung ihrer Fremd- und Selbstbeobachtungsbezüge, in der Praxis dann auch gegen ihre eigenen Ursprünge, indem zum Beispiel Rousseaus Erziehungsideal einer langsamen, natürlichkeitsbezogenen Erziehung in Vermittlung mit Natur und Sachen durch eine lehrerzentrierte Pädagogik ersetzt wurde. Um frei zu werden, so hieß es im 19. Jahrhundert, muss den Schülern erst einmal das Hören und Sehen vergehen (Hegel);55 der Gang der Abstraktion, der Begriffe in den Vordergrund schiebt, die immer abgehobener von beobachtbarer Wirklichkeit werden, entwickelt sich hier als theoretische Spezialform einer lebensfernen Beobachtungseinstellung. So geraten die Schüler immer wieder in stärkste Abhängigkeit von Lehrern, damit von Fremdzwängen, und die staatliche Erziehung zeigt in ihren Kontrollformen von Lehrern und Schülern das jeweils erwartete Maß beobachtender Übernahme gesellschaftlicher Normen (vgl. ebd., 179 ff.).
Die reformpädagogische Bewegung insbesondere seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat durch die Betonung der Selbsttätigkeit im Lernprozess das Verhältnis von Beobachtung und Beobachter teilweise umgekehrt. John Dewey machte mit seinem Begriff des „experience“ darauf aufmerksam, dass Kinder insbesondere durch Tun, durch Selbsterfahrung und Handeln, durch eigene Interessen- und Motivlagen lernen und behalten, so dass die Selbsttätigkeit Beobachtungen mit der Aktivität des Beobachters verbindet. Dewey radikalisierte dies bis hin zur Erkenntnis, dass hierbei auch Selbstbestimmung der Beobachtenden erforderlich werde, dass also die Lehrerzentriertheit des vorweg richtig Beobachteten fragwürdig und relativierbar wird.56 Dabei entwickelte Dewey bereits ein sehr konstruktivistisches Verständnis von Beobachtung im Verhältnis zum Beobachter. Sein pragmatischer Ansatz geht von „habits“ aus, die wir als spezifische persönliche Konstrukte einer Weltaneignung verstehen können, die je individuell geleistet werden muss, wenn sie überhaupt für Lernprozesse relevant werden will.57 Der Beobachter tritt vor die Beobachtung, die ihm der große Andere, Lehrer und andere Experten, organisieren, denn nur in seinem „experience“ entsteht jenes Konstrukt einer Wahrheit von Beobachtung in Relation zu Bedürfnissen. Die Heraufkunft dieses Beobachters zwingt die Gesellschaft also dazu, über die Bedürfnisse der jeweils Anderen nachzudenken und ihnen hierbei ihren eigenen Raum der Entwicklung eines Selbst zu gewähren. Die bürgerliche Erziehung des 20. Jahrhunderts leistete sich solche radikalisierten Formen allerdings eher in Versuchsschulen und auch hier nur teilweise. Für die Masse der Schüler blieb es bei einer Balance aus Beobachtungslernen eher kontemplativer Art und Selbsttätigkeit, für die didaktische Rezepturen des Ausgleichs von herrschaftsbezogener Passivität und reproduzierend orientierter Aktivität gesucht wurden. Deutlich ist der enorme politische Einfluss auf solcherlei Lernkonstruktion. Im Nationalsozialismus z.B. wurde das Beobachtungslernen im Blick auf Körperlichkeit und blinden Gehorsam gegenüber Führungseliten bis hin zur Selbstvernichtung favorisiert. Die Rassenideologie wurde zu einer scheinbar sachlichen „Autorität“, die als projektive Massenhysterie einen Hintergrund für Führer-Gefolgschaftsprinzipien und eine menschenverachtende Beobachtungsleistung des Fremden und Anderen hergeben konnte. Es sind immer symbolische Systeme, die sich bis hin zu radikaler Geschlossenheit verdichten können, um eine Ordnung der Beobachtung zu sichern. Auch Demokratien sind hiervon nicht frei. Aber wenn im Gegensatz zu den geschlossenen Ideologien offene Konzepte möglich werden, dann verändert sich das Beobachtungslernen leichter in Richtung auf schülerorientierte Lernverfahren, die zu einer Verunsicherung von Autorität führen, sofern Offenheit nicht bloß eine leere Worthülse bleiben soll. Aber auch diese Offenheit kommt nicht ohne symbolische Füllungen aus. Die Konstruktion der Lernwirklichkeiten folgt jeweils dem Grad an Fremd- und Selbstzwängen der Gesellschaft, damit auch dem Maß an Selbst- und Fremdbeobachtungsleistungen, das als Konstruktion der Machthaber oder dominanter gesellschaftlicher Ideologien wünschenswert erscheint. Eben deshalb ist es für eine Beobachtertheorie wesentlich, den politischen und demokratisch abgesicherten Freiraum ihrer Beobachtungsmöglichkeiten über die symbolischen Anforderungen bestehender Herrschaft oder Ideologie hinaus thematisieren und leben zu können – eine Haltung, die wiederum insbesondere von Dewey gefordert wurde.

Im 18. Jahrhundert entstand das Phänomen der Entdeckung der Bevölkerung, die als Gegenstand wissenschaftlicher Beschreibung konstruiert wird. Man begann hier, Geburten und Todesfälle, Bevölkerungsverschiebungen zu beobachten und zu  untersuchen, um eine staatliche Territorialverwaltung und Kontrollmacht zu organisieren, die eigentümlich mit dem Entstehen einer Disziplinarmacht gegenüber den Individuen korrespondierte, die nunmehr in Form von Schulen und Unterricht erschien, um unterwiesene, gelehrte und disziplinierte Schüler zu erzeugen. Hier erscheint in anderer Redeweise das Verhältnis von Fremd- und Selbstzwang in der Entgegensetzung jener Mächte, die den Überblick über allgemeine und individuelle Disziplinierung kontrollieren (Staatsmacht und die Wissenschaft als ihr verlängerter Hebel) und der Individuen, die dies als verinnerlichte Perspektive zum eigenen Selbstzwang erheben. Foucault meint, dass man diese Entwicklung verfehlt, wenn man sie ausschließlich als Repression, als Unterdrückungsmechanismus herausarbeitet. Es ist in der Tat entscheidend zu beobachten, dass hier ein konkreter und präziser Charakter von Machtpraktiken auftritt, der die Realität differenziert und vervielfältigt. An die Stelle oder Seite der Zeichen der Treue, der Rituale und Zeremonien in Form von Abgaben gegenüber Feudalherren, von Steuern, Plünderungen, Jagd, Krieg usw. rückt nunmehr eine Macht, die über Produktion und Dienstleistung sich multipliziert und verkörpert. Dies beschreibt den Selbstzwang als Verinnerlichung von Machtverhältnissen: Die Verkörperung von Macht durchdringt die Individuen bis hin zu ihren Gesten, ihren Einstellungen, bis hinein in ihre alltäglichen Verhaltensweisen (vgl. Foucault 1978, 42 f.). Hier erscheinen deshalb neue Unterrichtsmethoden, die den Körper der Zöglinge disziplinieren und denen Zucht und Ordnung eingewoben wird. Sie bilden die Mikrokörper der Disziplinierung. An ihre Seite tritt der Makrokörper der Disziplinierung und Kontrolle, der durch die Macht des Staates und der Beauftragung von Wissenschaft ausgeführt wird: Probleme wie Demografie, öffentliche Gesundheit und Hygiene, Territorialverwaltungen „wahren" Wissens und faktischer Geltung, Wohnungsdefinitionen und Beschreibungen sittlicher Lebensführung erscheinen als Regelwerk, um die Selbstzwänge anzuleiten und die Fremdzwänge zu rationalisieren und zu verobjektivieren. So erzeugt die Aufklärung, an deren Diskursende wir unsere eigene Mächtigkeit erfahren, zugleich jene Wissensformationen, die unsere Mächtigkeit formieren und begrenzen.
Foucault hat die Verschränkung von Macht und Wissen differenziert untersucht. Die Macht, die uns in Form von Beziehungen, Interessen, Technologien, Institutionen durchquert und dabei konstituiert, ist von spezifischen Formationen von Wissen begleitet, das Wahrheit beansprucht. Dieses Wissen ermöglicht und produziert dann auch erst jene Macht, mit der es verschränkt ist. So wirkt eine Zirkularität, die auch für die Fremd- und Selbstbeobachtungen je nach der Perspektive des Beobachters, den wir stellen, wechseln mag, die aber dem Dilemma nicht entkommen wird, den gültigen Anfang oder das absolut richtige Ende einer Sichtweise verloren zu haben.
Foucault erscheint mir hier als ein Dekonstruktivist. Als dekonstruktiver Archäologe, denn er rekonstruiert nicht nur Machtverhältnisse, sondern hält uns auch solche Macht als unsere Bedingung der Erkenntniserzeugung vor, wird er zu einem Kritiker der Gesellschaft. Um diese Kritikerposition des dekonstruierenden Archäologen zu charakterisieren, möchte ich folgendes Bild gebrauchen: Archäologen reisen zumeist an ferne und abgelegene Orte und müssen sich die Gelder zur Förderung ihrer Blicke mühsam erkämpfen. Sie sind mit Architekten vergleichbar, die, wenn sie sich auf die Singularität ihrer Bauwerke versteifen, zugleich den Erfolg ihrer Arbeit für die breite Masse in Frage stellen. Die erfolgreiche Architektur ist dagegen die Massenbauweise, deren Singularität in der An­erkennung ihrer Vervielfältigung besteht. Sie füllt die Räume des Sichtbaren durch die Muster der Wiederholung, die breite Anerkennung versprechen. Sie baut dort, wo das Land am teuersten ist. Der Konstrukteur des Singulären baut hingegen in der Regel draußen vor der Stadt seinen individuellen Bau. Er muss an allen möglichen Kosten sparen. Die Besonderheit seiner Bauweise verführt dann aber auch eine Minderheit von Menschen, die, wie er, einen wissenschaftlichen Konstruktionsentwurf sich zur Norm gemacht haben, in die Versuchung, dies Singuläre gegenüber dem massenhaft Erfolgreichen zu bevorzugen. Sehen wir als Beobachter solche Architekten am Werk, dann sind wir schon im Dilemma der Zuordnung: so ist beides Architektur, obwohl wir aus subjektiver Zuneigung vielleicht den singulär denkenden Architekten bevorzugen. Aber was sind die Bedingungen solcher Bevorzugung? Auch wir suchen offensichtlich eine Beobach­terposition weit draußen vor oder gar über der Stadt, die uns erlaubt, aus dem Fluss der Dinge und Bauten herauszutreten und über Raum und Zeit zu schauen. Da ist er dann wieder, der Archäologe, von dem wir ausgegangen waren. In dieser Schau erfinden wir Welten, die wir mit der bestehenden vergleichen, um unsere eigenen, festen und sicheren Bauten zu errichten.58
So verliert mit den Dekonstruktionen von Foucault das sichere Wissen seine Wahrheit und zeigt sich selbst als eine neue Konstruktion. Nunmehr müssen wir aufpassen, dass die konstruktiv erzeugte Gefangenschaft nicht zu groß wird. Die Dekonstruktion sollte uns beflügeln, die Wege zu wechselnden Beobachterpositionen leichter und schneller zu gestalten.
Allerdings ist diese mögliche Leichtigkeit immer schon begrenzt, da die Disziplinierungsmechanismen im Projekt der Moderne als ein Panoptismus erscheinen, der auf Anfänge eines Panoptikons zurückgeht, mit dem der moderne Mensch durchblickt, durchleuchtet, durchschaut wird. Die Architektur von Gefängnisbauten ließ Fou­cault auf solchen Panoptismus aufmerksam werden. So war Benthams Entwurf eines Gefängnisses so angelegt, dass die Wächter aus der Mitte des Gebäudes in alle Zellen der Gefangenen hineinsehen können, ohne selbst gesehen zu werden. An der Stelle einer Strafe, die auf roheste Marter und öffentlich zur Schau gestellte Gewalt baut, etabliert sich ein subversives Schauen, das bis in die intimsten Verrichtungen der Individuen blickt, um sich deren Verhalten als Abweichung von Maximen einer unterstellten Normalität und Vernünftigkeit aufzubauen. Hier ist die Beobachtung mit ihren gesellschaftlichen Erwartungen vor den Beobachter geschoben, sie begleitet seine Wahrnehmungen wie eine ständig getragene Brille, durch die allein die Wahr­heit der Individuen geschaut werden kann. Erst eine Rückbesinnung auf die Interaktion der Menschen in ihren wechselseitigen Ordnungen der Blicke kann den Wahn des Panoptismus erschüttern und relativieren, um in der Dominanz des Beobachters vor den vorgängigen Beobachtungen zu einer Emanzipation auch der Beobachtungsmöglichkeiten beizutragen. Hierzu aber muss der Beobachter ein Wissen über seine Beobachtungsmöglichkeiten entwickeln. Ohne Dekonstruktionen aber ist seine Emanzipation verunmöglicht.

 

7. Der Beobachter und seine Blicke auf die Kränkungsbewegungen von Beobachtung

Fremd- und Selbstbeobachtungen verschränken sich, so zeigt dieser Exkurs in die Erziehungsgeschichte, mit Fremd- und Selbstzwängen. Sie beziehen sich auf Aneignungen und Entäußerungen im Prozess der Sozialisation und Individuierung. In ihnen zirkulieren Wissen und Wahrheit als Perspektiven von Beobachtern. Konstruktion wechselt hier eigentümlich ab mit Rekonstruktion, neu Erfundenes mit bereits Erfundenem, was als Entdeckung für jeden neuen Sozialisationsvorgang bereitsteht. Es ist damit auch ein Wechselspiel zwischen Tradition und Innovation. Entscheidend für die Beobachtungsleistungen sind damit die Spannungen, denen sie unterworfen sind: Fremdzwänge, Fremdbeobachtungen tendieren auf das Festhalten und Beharren von vorgezeichneten Positionen, orientieren sich an Führern, leitenden Weltbildern, Sozialisationsinstanzen; Selbstzwänge aber sind mehr als verinnerlichte Fremdzwänge, mehr als bloße Scheren im Kopf, die das auszuführen beabsichtigen, was von Anderen vorgegeben ist. Sie sind auch Ausdruck eines Selbstbewusstseins, einer Selbstbewusstwerdung eigener Mächtigkeit, wie ich es weiter oben genannt habe, damit Möglichkeit zur Innovation. Insoweit ist Selbstbeobachtung auch mehr als Beobachtung einer rekon­struktiven Auf­gabe. Sie ist zugleich Möglichkeit der Selbstkonstruktion, nicht nur Ausdruck einer Selbstkonstruktion als Assimilation von vorgegebener Wirklichkeit, sondern auch Möglichkeit zur Erfindung, Neugestaltung, Kritik. Aber sie ist als diese Möglichkeit nicht willkürlich, nicht bloß freies Erfinden oder rein solipsistisch, sondern immer noch Selbstzwang. Dies wurzelt darin, dass solche kreativen Leistungen in einer Kultur nicht ohne die Merkmale dieser Kultur zu vollziehen sind. Sie sind gebunden an Zeichen, Worte, Bedeutungen, Kontext; sie sind damit in die Langsicht des Individuums eingeschlossen. Kurzsichtige Erfindungen unterliegen der Kritik, Kurzschlüssigkeiten dem Spott, so dass es zur Ambivalenz jeder Innovation gehört, sich als versicherter Selbstzwang den Fremdbeobachtungen und ihrer Kritik zu stellen. Gerade die Veränderungen in den Lernprozessen im Projekt der Moderne verdeutlichen diese Spannung, aber auch die Unsicherheit, die diesem Vorgang selbst entgegengebracht wird. So soll einerseits der erreichte Stand kultureller Errungenschaften tradiert und möglichst ungebrochen in der nachfolgenden Generation abgebildet werden, andererseits gelingt Lernen nur, wenn jede Generation ihren eigenen Lernweg geht, wobei die prinzipielle Konstruktivität von Lern­vorgängen Ausschluss und Neuorientierung bedeutet. Je dynamisierter gesellschaftliche Anforderungen und der kapitalistische Markt werden, desto höher werden die Umschlagzeiten von Wissensvernichtung. Eine Dialektik von alt und neu erzwingt ein Beobachten, das sich seiner eigenen Beobachterposition zumindest als Variable versichert. Diese im Alltag längst übliche Sozialisation schlägt sich in der Wissenschaft als Beobachtertheorie nieder und nennt sich zum Beispiel Konstruktivismus. So müssen wir im Verlaufe der Argumentation auf Bezugspunkte dieser Dialektik öfter ausführlich zu sprechen kommen, denn die Beschreibung zwischen den Polen Selbst- und Fremdbeobachtung bedarf der Erweiterung, weil sie zunächst nur ein grundlegendes Span­nungsverhältnis markiert, in dem sich Beobachtungsvorräte und Modi des Beobachtens selbst spezifizieren. Solche Bestimmung aber wird sich als grundsätzlich paradox erweisen: Immer dann, wenn wir etwas dabei bestimmen – also konstruieren – und zugleich darauf verweisen, dass es von anderen Beobachtern auch anders konstruiert sein könnte, geraten wir in einen erkenntnisbezogenen Widerspruch. Dieser stellt sich, wenn wir immer noch verlangen, etwas zu verallgemeinern. Gut – tun wir dies also nicht. Dann stehen wir vor dem Widerspruch, dass wir nun nur noch schweigen können, denn bereits das erste Wort wird uns eine Verallgemeinerung von Beobachtungen sein, die wir als unser Konstrukt austauschen wollen. Erst wenn wir diese Paradoxie in unsere Beobachtertheorie eingebaut haben, können wir reflektiert fortschreiten. Es gibt keinen Ausweg. Als grundsätzliche Frage ergibt sich dann, ob wir bestimmte Be­obachtungsweisen als besonders entscheidend herausfinden können, also Beobachtungen in bestimmten, gut unterscheidbaren Beobachtungswelten unterscheiden sollten, ob wir sie aus Erfahrungen im Alltag oder der Wissenschaft als ausgewiesene Beobachtungsrichtungen oder erfolgreiche Strategien der Beobachtung ableiten können. Wäre dies möglich, dann ließe sich unter Umständen auch die Unschärfe unserer Konstruktionen näher begrenzen. Solche Mög­lichkeiten der Begrenzung werde ich nachzuweisen versuchen. Aber sie sind niemals Dogma einer sich sicher bleibenden Wissenschaft, denn jedes Rekonstruktive benötigt ein Konstruktives. Und die Wahrheiten, die wir hier fixieren, sind immer nur Ausdruck jener Verständigungsgemeinschaften – auch der konstruktivistischen –, die sie sich bilden.

Vom Mythos zum Logos zeichnet sich ein Weg ab, der scheinbar zwangsläufig in einer aufgeklärten Wissenschaft endet, die sich ihrer selbst sicher ist und ihre Wahrheit immer gewisser weiß. Bedeutung und Sinn scheinen sich anzusammeln, zu steigern und hin zu einem Fortschritt zu verdichten, dessen Zerstörung in der Moderne ein postmodernes Zeitalter als neuen Schein hervorbringt. Die Sicherheiten der Weltbilder unterliegen der Zeit, zivilisatorischer oder kultureller Leistungen von Verständigungsgemeinschaften, deren Konstruktionen im Nach- und Nebeneinander konkurrieren und damit den Sinn von Weltgeschichte relativieren, vermeintlich objektive Erkenntnisse zu zeitbedingten Verständnissen umbiegen. War die Wissenschaft bis auf den Gipfel ihrer Fantasie einer aufgeklärten Moderne noch jener zentrale Ort des Denkens, auf den hin alle zu schauen haben, wenn sie wissen wollen, so vervielfältigt die Arbeitsteilung der Industriegesellschaft, so vertauscht die Unstetigkeit der Konsumgesellschaft die Perspektiven und bringt einen massenhaften Beobachter hervor, der die Wissen­schaft aus der Sicht des Alltags als bloß noch eine Möglichkeit von Sinn- und Bedeutungserschließung in den Lebensformen anerkennt. Zwar sichert sich die Wissenschaft hiergegen mit mannigfaltigen Fluchtperspektiven ab, indem sie in ihren Beziehungsgeflechten lange Wege des Selbstzwangs einbaut, um sich vor allzu großer Überbevölkerung zu schützen, indem sie selektiv ihre organisatorischen Schemata und elitär ihre Selbstrekrutierung vorbei an Erfordernissen möglicher Praxis ausprägt, aber statt sich als Ort der Aufklärung zum stetigen Berater jeglicher Politik und Weltbildsuche erheben zu können, statt die Universalität ihrer Ansprüche bis in den Alltag durchsetzen zu können, muss sie in ihren Krisen seit Ende des 20. Jahrhunderts selbst zunehmend mehr vom Alltag der Lebenswelt lernen. Je eindeutiger ihre Konzepte technisch geraten sind, desto weniger hat sie die Netzwerke des Zusammenwirkens bedenken können, je reduzierter ihr Laborapparat an Formeln webte, desto erschrockener musste sie erkennen, dass ihre vermeintlich zunächst nur positiven Eingriffe in den Gang der Natur auch negativ erscheinende Wirkungen produzierten, die nicht absehbar waren oder sind. Und dennoch vertraut der Alltagsmensch noch allzu oft jener Beobachtungskonstanz, die als Wahrscheinlichkeit und statistisches Urteilen ihm eine wissenschaftliche Sicherheit des Allgemeinen behauptet, die im Nachhinein immer öfter erschüttert wird.
In ihrem Erkenntnisdrang ist Wissenschaft gegenüber der eigenen Sinnentleerung nicht unkritisch geblieben. Die Heraufkunft konstruktivistischer Ideen ist hierfür einer der vielen Indikatoren. Der Wissenschaftler, sofern er zum Beobachter seiner  eigenen Beobachtungen wird, bemerkt den Sinn, den er in seine Versuche der Erfassung von Welt einflicht; er bemerkt auch, dass Sinn sein absolutes Maß verliert. So liefert sich Wissenschaft an eine Alltagswelt aus, die als Lebenswelt nicht von ihr ohne Reduktion von Ansprüchen abgegrenzt werden kann. Umgekehrt bleibt der Alltag aber auch einer Wissenschaft ausgeliefert, die in Formen von Vergegenständlichungen, in materiellen oder geistigen Konstruktionen auf den Alltag bestimmend einwirkt.

In diesem Spannungsfeld ist eine Theorie des Beobachters und der Beobachtung zu situieren. Mit der Heraufkunft des Beobachters unterstützt sie seine Emanzipation von traditionellen Beobachtungskonzepten, indem sie zunächst die Kränkungen an wissenschaftlichen Beobachtungen als Spitze einer normierten Beobachtung zu beschreiben versucht (Kapitel II.). Im nächsten Kapitel will ich daher, nach dieser hier zunächst allgemeinen Situierung von Konstruktion und Rekonstruktion, von Fremd- und Selbstbeobachtung, möglichen Wegen einer Differenzierung von Beobachtung selbst nachgehen. Ich habe bisher zwar über Beobachtung gesprochen, diese jedoch noch zu wenig differen­ziert. Es wird sich dabei der eigentümliche Umstand ergeben, dass die Differenzierung ein Nachvollzug von Kränkungen sein wird, die unsere Hoffnung auf „wahre“ Beobachtungen erschüttern. Aus solcher Erschütterung heraus werde ich Grenzen und Möglichkeiten des Beobachtens ableiten. An deren Ende erscheint der Beobachter als ein Anfang. Von ihm aus gedacht (Band 2, Kapitel III.) zeigen sich Beobachter als Menschen, die in Beziehungen stehen, kehrt sich der Alltag gegen das Wissen, das sich in ungekränktem Zustand wähnt und gegen die unscharfen Lebensumstände illusorisch abzugrenzen versucht. Im Alltag stellt sich gegen die Beobachtungswelt der Wissenschaft eine Welt der Beziehungen von Menschen. Leben wir nicht in einer eigentümlichen Spannung verschiedener Beobachtungswelten, in denen wir einmal wissende und kalkulierende Beobachter materieller, technischer, bürokratischer und anderer Systeme sind, andererseits aber unseren Alltag in seinen Beziehungen, Emotionen, Widersprüchlichkeiten nach ganz anderen Perspektiven ausrichten? Aber auch der in der Beziehungswirklichkeit dominant werdende Beobachter hindert nicht, dass über die Welt und Produktion (Kapitel IV.) die Beobachtung in sein Denken zurückkehrt und ihn niemals ganz von vorne anfangen lässt. Wenn sich darin erweist, dass es weder einen eindeutigen Anfang noch ein klares Ende gibt, dann sind weitere Schlüsse für die Ordnung der Blicke zu ziehen. Ich werde sie – Schritt um Schritt – argumentativ vortragen. Zum Schluss werden äußere Beobachter dieses Vortrags mir Fragen zum Verständnis dieser Argumentation stellen (Kapitel V.).

 

Fußnoten

1 Vgl. zu einer ausführlicheren Interpretation auch Reich in Reich/Wild/Sehnbruch (2005, 5 ff.).

2 Auch in Repräsentationen mögen dann allerdings Zeichen eingeschlossen sein. Aber sie stehen nicht „an sich“, sondern für etwas, sie lösen sich aus der absoluten Verfügung der Zeichen durch ein von vornherein perspektivisch festgelegtes Sehen. Vgl. dazu auch die Analysen von Pape (1997) insbesondere über Leibniz, Berkeley und Reid. Den Versuch, eine Ontologie des Visuellen zu begründen, den Pape unternimmt, teile ich aus konstruktivistischer Sicht allerdings nicht.

3 Vgl. dazu insbesondere Feuerbach (1841). Feuerbach sieht nicht nur den Missbrauch des Menschen durch Religion, um ihn unmündig zu machen, sondern entwirft auch eine Anthropologie des Menschen, in der dieser seinen Gott konstruiert. Indem Feuerbach den Aberglauben der Unsterblichkeitslehren bekämpft, klärt er den Menschen über sich selbst auf. Zur Weiterführung vgl. insbesondere Marx Thesen zu Feuerbach (in Marx-Engels-Werke, Bd. 3).

4 So naiv die Betrugstheorien erscheinen mögen, weil sie nichts erklären, sondern nur das Phänomen oberflächlich beschreiben, so sind solche naiven Erklärungsverhältnisse immer wieder Teil der ökonomischen Ausbildung der wirtschaftlichen Eliten bis heute. Wie sollte auch die Umverteilung als Erklärungsmuster mit kritischer Intention interessieren, wenn man selbst an der Umverteilung mit eigenen Interessen partizipiert? Dann genügen Erklärungsmuster, die auf das allgemein menschliche Verhalten spekulieren und den ökonomischen Mechanismus verschleiern.

5Die sozialistischen Gesellschaften, die sich auf Marx beriefen, konnten dem ökonomischen Erklärungsmodell auch nicht entkommen, weil auch sie den Mehrwert der produzierten Waren aneigneten und umverteilten. Das Erklärungsmodell rekonstruiert ein Verhältnis praktischer Aneignungen von produzierten Werten, aber nicht mögliche Wege zur Aufhebung dieses Verhältnisses. Hierzu konnten Marx und Engels zwar auch ein Modell des politischen Kampfes für eine Umverteilung vorlegen, aber deren gerechtfertigte Behauptbarkeit konnte historisch nicht durch eine erfolgreiche sozialistische oder kommunistische Praxis belegt werden.

6 Später wird zu erkennen sein, dass diese Paradoxie nicht zufällig ist, sondern menschlichen Beziehungen überhaupt innewohnt.

7 Dies werde ich weiter unten ausführlicher z.B. mit John Deweys Theorie der „warranted assertibility“ diskutieren. Vgl. Kapitel II. 1.2 und 1.3.

8 So etwa auch der Anspruch bei Deleuze/Guattari (1992, Vorwort S. II).

9Über den Ursprung solcher Konstruktivität erfahren wir viel bei Vico. Vgl. dazu problematisierend weiter unten Kapitel II. 1.5.

10 Vgl. dazu z.B. Reich in url: http://www.uni-koeln.de/hf/konstrukt/reich_works/aufsatze/ Nr. 34.

11 Engels betont, dass der radikale Konstruktivismus bei der Konstruktion des Wirklichen nur den Prozess betont, wohingegen die evolutionäre Erkenntnistheorie nur das Produkt sieht (vgl. Engels 1989, 292 f.) Viele der Kritikpunkte, die Engels gegenüber der evolutionären Erkenntnistheorie herausgearbeitet hat, lassen sich auch auf den radikalen Konstruktivismus beziehen.

12 Und dies, obwohl die vermeintlich objektivistische Herleitung sich bei näherem Hinsehen nur als eine Möglichkeit der Perspektive von spezifischen Beobachtern erweist. Nur weil Maturana den Beobachter als Kategorie in sein Modell einführt, ist damit ja noch nicht gesichert, dass seine Beobachtungstheorie die schlüssigere gegenüber anderen sein muss. Insbesondere wenn mit diesem Vorgehen die gesamte bisherige Geistesgeschichte in zu einfacher Form entwertet wird, sollte die Reduktivität dieses Vorgehens selbst problematisiert werden. Genau dies schafft aber Maturana nicht. Vgl. die Auseinandersetzung mit Maturana in Kapitel II. 1.5.1.1.

13 So werden dann Gegenangriffe erzeugt, wie etwa die von Nüse u.a. (1991), die das wechselseitige Missverstehen systemisch eskalieren lassen.

14 Vgl. einführend insbesondere Rusch (1987), Schmidt (1987, 1992 a).

15 Eine solche Befragung wird insbesondere das Kapitel II. vornehmen, das der Begründung bzw. Herleitung der Unschärfe des sozialen Erkennens gewidmet sein wird. Im Band 2, Kapitel IV., wird dies im Blick auf die Lebenswelt fortgeführt.

16 In Kapitel III. und IV. werden diese hier nur einführenden Bestimmungen systematisch und differenziert entfaltet.

17 Es zeichnet gerade die Grundbegriffe unserer Kultur aus, dass sie eben nicht solitär für sich stehen, sondern, weil sie verwickelte Zusammenhänge bezeichnen, weil und insofern sie mit anderen Begriffen verbunden sind, die etwas Übergreifendes ausdrücken, als Grundbegriffe erscheinen.

18 Vgl. dazu insbesondere Kapitel II. 1.3.4.3.

19 Dies unterscheidet meinen Ansatz klar von dem Luhmanns, der auch der Paradoxie einer Konstruktion, die sich selbst konstruiert, nachspürt. Vgl. dazu auch abgrenzend Kapitel II. 2.5.

20 Und diese Stimmen treten gewiss nicht nur am Ende des 20. Jahrhunderts auf, sondern haben ihre Vorläufer. Aus konstruktivistischer Sicht ist hier aus der Vielzahl der Stimmen insbesondere John Dewey interessant, weil seine pragmatische Theorie nicht nur nach einer Kritik der Metaphysik sucht, sondern vor allem praktische Lösungen zu einem neuen Verständnis ausprobieren will, die als Konstruktionen aufgefasst und in den Strom möglicher Veränderungen hineingeworfen sind. Vgl. z.B. Neubert (1998). Siehe ferner Reich in url: http://www.uni-koeln.de/hf/konstrukt/reich_works meine diversen Arbeiten zu diesen Kontexten.

21 Vgl. hierzu insbes. Schnädelbach (1983).

22 Vgl. hierzu auch erweiternd Habermas (1992 b, 1997).

23 Habermas verweist insbesondere auf Foucaults Schlusskapitel aus „Die Ordnung der Dinge“ (1993 a), um darauf hinzuweisen, dass die Humanwissenschaften in eine hilflose transzendentalempirische Doppelperspektive geraten, wenn sie einerseits in der Wirklichkeit schon symbolisch geron­nene Gebilde mit scheinbar transzendentaler Geltung vorfinden, andererseits eine rein empirische Analyse betreiben wollen. Vgl. Habermas (1992 a, S.48).

24 Diesen Aspekt bezeichnen Habermas (ebd., 52 ff.), Apel und andere auch als linguistisch-pragmatische Wende. Auch diese weist ihre eigenen Probleme auf. Für Habermas entfallen die falschen Perspektiven der Transzendentalisierung von Erkenntnis oder einer reduziert verfahrenden Linguistik (oder ihrer Folgetheorien) erst mit dem pragmatisch orientierten Übergang zum neuen Paradigma der Verständigung. Vgl. dazu genauer weiter unten die erste und zweite Kränkungsbewegung.

25 „Der Pragmatismus von Peirce bis Quine, die philosophische Hermeneutik von Dilthey bis Gadamer, auch Schelers Wissenssoziologie, Husserls Lebensweltanalyse, die Erkenntnisanthropologie von Merleau-Ponty bis Apel und die postempirische Wissenschaftstheorie seit Kuhn haben solche internen Zusammenhänge zwischen Genesis und Geltung aufgedeckt. Noch die esoterischen Erkenntnisleistungen haben Wurzeln in der Praxis des vorwissenschaftlichen Umgangs mit Dingen und Personen. Damit ist der klassische Vorrang einer Theorie vor der Praxis erschüttert.“ (Habermas 1992 a, 57 f.)

26 Habermas weist darauf hin, dass allerdings solcherart nachmetaphysisches Denken Religion, die als „normalisierender Umgang mit dem Außeralltäglichen im Alltag“ ihre Funktion behält, weder ersetzen noch verdrängen kann. (Ebd.,  60) Es kommt hinzu, dass metaphysisches Denken in solchen Funktionen Ersatz für den Verlust, den Habermas herausgearbeitet hat, sein kann oder werden möchte. Im Alltag selbst zeigt sich die Differenz einer Analyse als konstruierender, verstehender Blick gegenüber den unter diesen Blick genommenen Funktionalisierungen. Es hängt von unserer Verständigungsleistung ab, ob wir diesen Blick annehmen wollen.

27 Norbert Elias beschreibt diese zivilisatorische Voraussetzung vor allem unter den Per­spektiven von Fremdzwängen, die sich in Selbstzwänge verwandeln­. Dies wird im nächsten Abschnitt dieses Kapitels ausführlicher dargestellt.

28 Zur Auseinandersetzung mit Habermas vgl. bes. Kapitel II. 2.4. und II. 3.6. Zu lebensweltlichen Problemen insbesondere Band 2, Kapitel III. 2.4. und IV. 3.2. und 3.3.2.2.

29„Der Andere, der uns als Anderer außen gegenübersteht, wird bei mir stets groß geschrieben, als anderer, wie er vermittelt über innere Bilder und mein Begehren erscheint, stets klein. Ein Beispiel mag die Unterscheidung verdeutlichen helfen: Wenn ich meiner Partnerin gegenübertrete, dann sehe ich sie immer durch einen Horizont meiner Vorstellungen (Imaginationen), die mit Begehren, Wünschen, Erwartungen verbunden sind. Ich sehe sie als andere (vermittelt über ein imaginäres a). Äußert sie sich hingegen als Partnerin, dann bemerke ich die Differenz zwischen meinem Bild von ihr (a) und ihren Äußerungen (A), sie erscheint dann als Andere, die unabhängig von mir existiert und ein eigenes Wesen ist. Als große Andere kann sie mein imaginäres Bild (a) beeinflussen und verändern.“ (Reich 1997, X) Weiter unten wird in Kapitel II. 3.5. die Unterscheidung ausführlich hergeleitet und begründet.

30 Auch Habermas könnte uns einige nachmetaphysische Speisen auf unserem Boot anrichten. Doch ich will, wie spätere Auseinandersetzungen zeigen sollen, dabei nicht auf den ausschließlichen Flusslauf seines „kommunikativen Handelns“ abbiegen. Dahlmanns (2008) geht dem Verhältnis von Elias und Foucault aus der Sicht des interaktionistischen Konstruktivismus näher nach.

31 So beschrieb vor allem Rousseau den ursprünglichsten Naturzustand als isolierten Zustand, um auf die Grundtriebe Selbstliebe und Mitleid des Menschen als Grundeigenschaften zu kommen. Dieses Verfahren ist instruktiv, um zu erkennen, dass bei Abzug aller gesellschaftlicher Komponenten des Menschen als Konstrukt keineswegs ein isolierter Mensch herauskommt, sondern ein Konstrukt, das Interessen des Konstrukteurs im Beweis seiner Annahmen spiegelt. Auffallend an bürgerlichen Naturrechtstheorien ist in der Tat, dass sie überwiegend die sozialen Prämissen ihres Interessenstandes in die Urgeschichte der Menschen projizieren, um sich daraus Gültigkeit für ihre Konstruktionen abzulesen. Eine anschauliche Analyse bietet hierzu z.B. Macpherson (1973); vgl. auch Reich (1997, 146 ff.).

32 Unterscheidungen bezeichnen für mich solche Ereignisse, die sowohl aus der Perspektive ihrer Gemeinsamkeiten als auch in ihren beobachtbaren Unterschieden sinnvoll betrachtet werden können. Bei Trennungen ist der Sinn des Gemeinsamen von vornherein problematisch. Allerdings können Perspektivwechsel durchaus dazu führen, dass vormals Getrenntes in einer neuen Theorie auf einmal unterschieden wird, um die beobachtenden Bezugspunkte zu erweitern.

33 Der Begriff Dialektik wird von mir nachfolgend gebraucht, um die Wechselwirkungen zwischen zwei Ereignissen, die auf ein gemeinsames Drittes verweisen, zu bezeichnen. Allerdings ist dieser Gebrauch bereits durch die Analyse von Zirkularität, wie sie weiter unter beschrieben wird, geprägt. Dialektische Vorgänge werden von einem Beobachter in Prozessen der Wechselwirkung mit anderen Beobachtern (Zirkularität) konstruiert, um Entwicklungen in einer Zeitperspektive als Verständigung in einer Beobachtung (= Perspektive einer Verständigungsgemeinschaft) festzuhalten. Die hinter der Dialektik ausgedrückte Sachgesetzlichkeit ist eine des Konstrukteurs und nicht unabhängig von diesem. Inwieweit dabei Kausalität und Zirkularität in einen Widerspruch des Beobachters geraten können, wird noch zu diskutieren sein.

34 Seit John Locke war dies das immer wieder variierte Thema bürgerlicher Normen in der Erziehungsgeschichte. Davon gibt es viele versteckte Varianten. Neben der Selbstbeherrschung brechen sie vor allem in den damit zusammenhängenden Zuschreibungen von normal und anormal (Devereux 1974), von gesund und krank, sozial und asozial usw. auf.

35 Vgl. dazu z.B. Eribon (1993).

36 Sigmund Freud spricht in diesem Zusammenhang von Sublimationsleistungen; vgl. z.B. Freud (1974, 1975); vgl. weiterführend bes. Marcuse (1984), der neben der biologisch notwendig erschei­nenden Unterdrückung durch das Zusammentreffen von Trieben und Realitätsprinzip, das diesen Widerstände entgegensetzt, noch die zusätzliche Unterdrückung unterscheidet, die durch die Lebenswelt und die in ihr implizierten Herrschaftsverhältnisse selbst in mehr oder minder starker Form hervorgebracht wird.

37 Und diese Zwänge mögen sogar in ritualisierten Gesellschaften als viel strenger gelten, so dass der Fremd- und Selbstzwang sich hier in sehr gesteigerter Form nachweisen lässt. So gehört z.B. in indianischen Gesellschaften ein enormer Selbstzwang dazu, sich die Stunde des Todes als alter Mensch selbst zu wählen und dem Leben bewusst zu entsagen. Insoweit ist Duerrs Angriff gegen Elias berechtigt, wenn er Beispiele beibringt, die die Fiktion der bürgerlichen Gesellschaft, allein auf Selbstzwängen sich kultiviert zu haben, relativieren, obwohl Elias durchaus im Blick hatte, dass der Unterschied zu solchen Kulturen in der gleichmäßigeren Durchdringung der Zivilisation mit Selbstzwängen liegt. Und hier kann Duerr nicht die allgemeine Tendenz der kapitalistischen Gesellschaft widerlegen, den Selbstzwang in umfassenden, insbesondere individuellen Formen zu entwickeln. Vgl. zu Duerrs Kritik z.B. (1988).

38 Diesen Prozess analysierte Norbert Elias in mehreren Studien „Über den Prozess der Zivilisation“ (1976) und über die „höfische Gesellschaft“ (1983). Es mag erstaunen, dass die bürgerliche Höflichkeit durchaus auf eine Übernahme höfischer Sitten und Gebräuche zurückgeht. Im Kampf um Selbstständigkeit gegenüber dem Adel orientierte sich das Bürgertum stark an den Konventionen des Hofes, die es in eigenes Verhalten überführte.

39 In seiner Schrift „Über die Zeit“ macht Elias (1988 b) auf den Zusammenhang von gesellschaftlichen Zwängen und einer immer perfekteren Zeiterfassung in der Neuzeit aufmerksam.

40 Zu Foucault vgl. genauer Kapitel II. 1.3.4.2., Kapitel IV. 3.3.2.1. und 3.3.3.2.

41 Die Definition folgt insofern abgesetzt von Elias (1989, 47 f.), als dessen zusätzliche Unterscheidung der natürlichen Zwänge in allgemein menschliche und durch die Natur gesetzte nicht übernommen wird.

42 Vgl. dazu auch Sigmund Freuds Begriff des Über-Ichs; in Freud (1978); ferner auch bes. Freud (1977).

43 Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, könnten wir über solche „frühen“ Kulturen auch sagen: als besonders stark, starr und übermächtig. Sie sind durch und durch ritualisiert, um die soziale Kohärenz gegenüber den Fluchtmöglichkeiten des Individuums zu betonen. Dass es dabei aber zu sehr intensiven inneren Erlebnissen und imaginierten Erscheinungen als Ausdruck der Selbstbeherrschung kommen kann, darf nicht übersehen werden. Solche Erscheinungen und Ereignisse können in bestimmtem Rahmen durchaus auf die Gemeinschaft – etwa durch Schamanen – zurückwirken. Aber sie radikalisieren Subjektivität kaum so durchgehend wie die bürgerliche Gesellschaft.

44 Hier nach Elias (1989, 33 ff.) und um einige Punkte erweitert.

45 Elias gibt dafür folgendes Beispiel: „Wir sind uns heute stärker als je zuvor bewusst, dass ein überwältigend großer Teil der Menschheit durch das ganze Leben hin an der Hungergrenze lebt... Ganz gewiss ist das kein neues Problem. Mit wenigen Ausnahmen gehören Hungersnöte zu den immer wiederkehrenden Erscheinungen der Menschheit. Aber es ist eine Eigentümlichkeit unserer Zeit, dass man Armut und hohe Sterblichkeitsraten nicht mehr als selbstverständlich und als eine gott­gegebene Bedingung des menschlichen Lebens hinnimmt.“ (Elias 1990, 37 f.) Menschen der Industrieländer empfinden es nunmehr als Pflicht, etwas dagegen zu tun. Tatsächlich wird zu wenig getan, aber das Mitverantwortungsgefühl ist verglichen mit früheren Zeiten gewachsen. Hier liegt ein Zusammenhang mit der neuen Statusunsicherheit vor: Sie schärft den Blick für das mögliche Leid, das man selbst erfahren könnte und öffnet so den Blick für das Leid Anderer. Daraus entstehen allerdings auch psychische Mechanismen der Verdrängung oder Abwehr.

46 An die Stelle der ersten, mehr oder minder direkten Beobachtungen der Wissenschaft rückten nach und nach immer mehr gezielte Laborexperimente, die das freie – unscharfe – Schauen der Beobachter in die Schranken der Beobachtungsmittel verwies. In den Naturwissenschaften konnte so materieller Fortschritt schneller vergegenständlicht werden; in den Human- und Verhaltenswissenschaften führte dies hin zu Entstellungen von Verhalten durch übertriebene Vereinfachung, wie es z.B. Devereux (1967) sehr eindringlich markiert.

47 Dies gewiss nicht durchgängig und überall, sondern teilweise und mit widersprüchlichen gesellschaftlichen bzw. individuellen Kämpfen verbunden.

48 Vergessen werden sollte nicht, dass solche Regeln keineswegs freiwillig entstehen, sondern ihrerseits Kampfprodukt gesellschaftlicher Interessengruppen sind. Konstruktionen von Wirklichkeit sind ohne Berücksichtigung dieser Interessenzusammenhänge bloß idealtypisch isolierte Erkenntnisversuche und verkümmern schnell zu technischen Regelwerken. Ein Teil der konstruktivistischen Ursprungsschulen zeigt in ihrer naturwissenschaftlichen und geradezu antihistorischen Haltung diesen Mangel ganz deutlich.

49 Diesem Aspekt hat Habermas (1992 b) besonders herauszuarbeiten versucht.

50 Die Geschichte solcher Spannungen kann hier nicht dargestellt werden.

51 Dies war die Lösung von Thomas Hobbes: Mittels eines Herrschaftsvertrages sollten sich die Menschen der Gewalt des Staates unterwerfen, um ihre egoistischen Interessen zu zügeln. Erziehung blieb ansonsten Privatsache. Ziel der Erziehung war die Anerkennung der Notwendigkeit des Fremdzwangs. Vgl. Reich (1988, 130 ff.).

52 Diese Lösung schlug besonders John Locke vor, der in der Erziehung des Menschen die Möglichkeit zur vernunftorientierten Unterwerfung unter die Bedingungen eines auf Gegenseitigkeit beruhenden Gesellschaftsvertrages – mit gewählten Herrschern auf Zeit – erblickte. Oberstes Ziel der Erziehung wurde damit die Selbstbeherrschung mittels Vernunft. Vgl. Reich (1988, 147 ff.).

53 Für die Inhaltsseite einer dinglichen Welt wird dies angesichts des schnellen Wechsels der Waren und symbolischen Angebote meist schnell zugestanden. Es gilt aber auch für die Verfahrensseite bis hin zu den Verfahren der Erkenntniskritik. Es gibt keine beständige oder sichere Erkenntnistheorie, auch wenn dies bis heute etliche ihrer Vertreter noch wünschen. Gegen diese grenzt sich der Dekonstruktivismus, der immer Teil einer interaktionistisch-konstruktiven Erkenntniskritik ist, deutlich ab, wie ich insbesondere in Kapitel II. 1.3.4.3. und Kapitel IV. erörtern werde.

54 Dabei gibt es bewusste und unbewusste Seiten dieses Zwangs. Dies ist z.B. in einem Land wie China, das wegen seiner Selbstbeherrschungsleistungen berühmt ist, wohlbekannt. Shen du (Vor­sicht beim Alleinsein) bezeichnet z.B. im Chinesischen einen Selbstzwang verbotenen Dingen gegenüber, der auch dann ausgeübt werden muss, wenn man unbeobachtet ist. Zuo huai bu luan (im übertragenen Sinne: eine Frau im dunklen Zimmer sitzt auf meinem Schoß) ist hiervon eine Steigerungsform: Der Selbstzwang hindert als verinnerlichtes Gebot schon die Vorstellung einer möglichen Annäherung an dieses verführerische Wesen. Die Dominanz der Selbstbeobachtungsleistung ist in diesem Bild augenfällig. Wei (1993) verdeutlicht Selbstzwangleistungen bei Rousseau und Konfuzius. Ausführlicher zum beziehungsorientierten Hintergrund vgl. Reich/Wei (1997).

55 Immerhin hob Hegel den Schüler nach dieser Selbstbeherrschung dann auf die für ihn „wahre“ Ebene gedanklicher Freiheit.

56 Vgl. zu dieser Problematik einer Pädagogik zwischen Selbstbestimmung und Selbsttätigkeit insbes. die Analysen von Bohnsack (1976) und Neubert (1998). Vgl. dazu ferner meine Arbeiten zu Dewey unter http://www.uni-koeln.de/hf/konstrukt/reich_works/index.html

57 Kelly (1986) gründet bereits in den 50er Jahren auf dieser pragmatischen Ausgangsposition seinen heute im Konstruktivismus wieder diskutierten Ansatz „persönlicher Konstrukte“.

58 Der Werdegang von Foucault wie auch von anderen französischen Denkern, die sich einem sehr harten Auslese– und Ausschließungsverfahren zu stellen hatten, scheint mir symptomatisch für die errichteten Festungen von Wissenschaft zu sein, die zwar von Land zu Land die Gestalt wechseln mögen, aber fast immer derselben Intention des isolierenden Blickes, den sie suchen, unterliegen.

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