Kersten Reich: Die Ordnung der Blicke. Band 1: Kapitel II.3.8

   

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3.8. Realität: Zeichen und Symbol III

Die Grenze der menschlichen Beobachtungen, Handlungen, Produktionen usw. nennen wir das Reale, um damit etwas zu bezeichnen, das wir anerkennen – wir wissen um unsere Grenzen und die Ungewissheit, Unvollständigkeit, Unsichtbarkeit usw. –, ohne es schon über diese bloße Anerkennung hinaus in unsere imaginären und insbesondere symbolischen Zugriffe bekommen zu haben. Aber das Reale ist eben tatsächlich Grenze: Individuell ebenso wie gesellschaftlich (als kollektiv vermittelter oder zumindest erreichbarer Wissen- oder Vorstellungsstand). Immer erst im Nachhinein, wenn wir also unsere Re/De/Konstrukte gefertigt haben, wissen wir vom Realen. Erfahren, erleben, spüren usw. können wir es schon vorher. Aber bis zum Wissen mögen wir Angst haben (vor dem noch gar nicht Erwarteten) oder begründete Furcht (vor dem Vorhersehbar Schrecklichen), das Reale lehrt uns so oder so, dass es Lücken, Brüche, Risse in unseren Vorstellungen, unseren Wünschen und unserem Wissen gibt. Und dies treibt uns zugleich an, unsere Imaginationen und Symbolwelten immer neu, immer erweiterter und rückgekoppelt an die Veränderungen zu re/de/konstruieren, die wir gemacht haben und die wir als gemacht-vorhandene nutzen oder erfahren können.
Blicken wir vor dem Hintergrund dieser Überlegungen noch einmal zurück auf die drei Kränkungsbewegungen, dann erkennen wir nun, dass sich unsere Perspektive immer wieder entscheidend in die Bestimmung dessen einmischt, was für wahr, richtig, angemessen halten. So sind zwar notwendig Begründungs- und Geltungsfragen zu unterscheiden, aber wir müssen immer wieder zugeben, dass die bereits gemachten Geltungsansprüche immer schon unsere Begründungen mit beeinflussen.
Betrachten wir einen gegebenen Stand der Subjekt-Objekt-Vermittlung, wie er z.B. in wissenschaftlichen Experimenten auftritt, so gilt es immer wieder als wesentlich für das wissenschaftliche Selbstverständnis, die bewusste Einstellung des Forschers als möglichst überparteilich, wertfrei, frei von Lust- und Trieblagen und direkten persönlichen Interessen zu bestimmen. Diese Bestimmungsart folgt ganz dem Muster der klassischen Philosophie, der die Bewusstheit als das Wesentliche gilt, um den Menschen als besonderes Wesen aus dem Tierreich herauszuheben. Der gesamte industrielle Objektivismus scheint Beleg für die Richtigkeit dieser Sichtweise zu sein, denn die Vergegenständlichungen, die der Mensch schafft, entspringen bewusster Planung, Organisation und Ausführung. Freud lässt aber nicht nur die Frage aufwerfen, welche Lust der einzelne Planer, Organisator und Handelnde in diesem Prozess empfindet, wie sich das jeweilige Subjekt triebmäßig hier einbringt, sondern auch, inwieweit solches Planen, Organisieren und Handeln Bestimmungsgründen unterliegt, die sich aus der bloßen Beobachtung des Handelns oder Verhaltens nicht ableiten lassen. Dahinter steht ein Begehren, das sich auf unterschiedliche Arten äußert. Für ihn gilt besonders die Sublimation, die aus der Selbstbeherrschungsleistung, die unserem Triebleben gesellschaftlich abverlangt wird, hervorbricht, als Antrieb eines Handelns, das sich immer neue Objektivationen schafft. In diesem Sinne scheint dem Menschen eine prinzipielle Unterdrückung zu eigen, denn kein Mensch kann zu irgendeiner Zeit die in ihm biologisch angelegte Struktur der Triebauslebung (und damit sein Begehren) vollständig befriedigen, obwohl gerade unsere biologische Ausstattung eine ständige Paarung der geschlechtsreifen Mitglieder gestattet. Zwar wechselt in den Zeitaltern die Art und Weise der Triebauslebung, und hier sprechen viele Analysen für eine Zunahme der Selbstbeherrschungspotenziale (vgl. Kapitel I.), aber die grundsätzliche Natur des Menschen benötigt offensichtlich diesen Triebdruck, um in Strategien der Leidverminderung nach Ablenkung, Ersatzbefriedigung, Vergessenszuständen zu suchen.
Herbert Marcuse führt diesen Gedanken in Anschluss an Freud weiter, indem er den umstrittenen Todestrieb problematisiert. Auch dieser Trieb zeigt eine unvermeidliche Unterdrückung, die der Mensch zu kompensieren sucht. Für Marcuse ist besonders der Zusammenhang zur Arbeit wesentlich, den er in der Subjekt-Objekt-Vermittlung als die entscheidende Voraussetzung jeglicher Triebregulierung sieht. Ohne Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur ist es müßig, über Triebstrukturen zu verhandeln. Andererseits aber ist dieser Stoffwechsel eben niemals frei von den Triebstrukturen. Marcuse (1984) arbeitet heraus, dass die darin wurzelnde Unterdrückung zwar dem Inhalt nach von Zeitalter zu Zeitalter wechselt, aber der Form nach erhalten bleibt. Diese ist jedoch sehr wohl von der zusätzlichen Unterdrückung zu unterscheiden, die er als Ausdruck der gesell­schaftlichen Überformbarkeit durch je besondere und zeitgebundene Herrschaftsverhältnisse anführt. Diese Behauptung nimmt einerseits den Biologismus Freuds auf, indem sie eine triebbedingte Natur als Grundlage des menschlichen Seins überhaupt betrachtet. Sie unterscheidet dann kulturell etablierte symbolische Ordnungssysteme als zusätzlich unterdrückende, um eine repressive von einer idealtypischen, repressionsfreien Gesellschaft zu setzen.
Wie aber soll ein Beobachter diese Unterscheidung klar treffen können, wenn er einerseits immer Teil der triebbezogenen Natur ist, andererseits aber auch einen Teil jener Unterdrückung und Entfremdung in einer unterdrückten Gegenwart symbolisiert? Wie kann er jenen letzten Unterschiedsgrund zwischen beiden Ebenen finden, wenn Freud doch andererseits zeigte, dass die Triebe sich auf alle Objekte, auf jede vorhandene Realität werfen, um befriedigt zu werden, ohne je vollständige Befriedigung zu finden?
Deutlich lässt sich dies mit Lacan formulieren: Es ist ja doch nur eine neue symbolische Welt, in der wir Meistersignifikanten und ein scheinbar unfehlbares Wissen errichten, wenn wir eine notwendig biologische und eine herrschaftlich zusätzliche Unterdrückung des Menschen unterscheiden, wenn doch schon die Behauptung unseres biologischen Wesens der Diskurs von a/Anderen ist.
Gleichwohl bleibt das von Marcuse definierte Problem damit nicht unbedeutend. Es ist auch in Lacans Unterscheidungen virulent, wenn wir die Entfremdung des Menschen bezeichnen wollen. Der Mensch ist sich fremd, weil er sich im a/Ande­ren spiegelt, obgleich er darüber zu sich selbst kommt. Er ist bei sich, nur wenn er sich fremd ist. Dieses verwirrende Spiel verlockt natürlich dazu, eine – jeweils bereinigte und eindeutige – symbolische Ordnung einzuführen. Und Lacan betont, dass wir diese Ordnung notwendig brauchen, um uns vor imaginativen Überflutungen zu schützen und nicht in die Löcher der Nicht-Existenz (des Irrealen) abzustürzen.
Im politischen Kampf gegen bestimmte Herrschaftstypen mag dann die symbolische Ordnung Marcuses nützen, obgleich sie das Spiel zwischen biologischem Trieb, der der Beobachtung direkt nicht zugänglich ist, und gesellschaftlich durchaus beobachtbaren Herrschaftsmechanismen nur zu bezeichnen vermag. Wenn wir den Bogen zurück in die erste Kränkungsbewegung schlagen, dann wird hier nochmals deutlich, dass keine symbolische Ordnung ohne Dekonstruktion auskommen kann, weil es keine „wahre“ Konstruktion auf Dauer (zeitlich) oder im Nebeneinander (räumlich, sozial usw.) gibt.
Das Unbewusste selbst erscheint uns in Gestalten der Realitätsvermehrung. Es vermehrt sich zunächst um das noch nicht oder das nicht mehr Gewusste, das eben nicht von allen, sondern nur von wenigen oder einzelnen Gewusste, um alles Versteckte, Verborgene, Vergessene usw. Es erweitert sich dann auf das Verdrängte, ein dunkel Verborgenes, das den Widerspruch zwischen einem einst Begehrten und im Begehren Abgewehrten symbolisiert, ohne in dieser Symbolisierung – die bis zu Krankheitssymptomen reicht – durchschaut zu sein. Und es erzwingt in diesen Vermehrungen, die ich alle nicht noch einmal durchspielen will, eine Beobachter-, Akteurs- und Teilnehmertheorie, die selbst den möglichen Raum und das Zusammenwirken von Symbolik (Zeichen), Interaktionen und Ereignissen aufklärt.
Solche Aufklärungen sind sehr unterschiedlich. Ich habe sie eher metatheoretisch am Beispiel von Hegel und Freud zum Beleg der Weite des Unbewussten angeführt. Für den Strukturalismus habe ich sie als Unmöglichkeit aufgewiesen, eine letzte Lösung über Strukturen zu finden, obgleich Strukturen symbolisch ein Spiel der Unterschiede und der Beobachter erlauben. Für Piaget habe ich sie als Leerstelle in seinem Konstruktivismus markiert, weil er die Motivation für die menschliche Entwicklungslogik, die er konstruiert, vernachlässigt. Für Freud habe ich sie an seiner mythologischen Herleitung kritisiert und für die Übertragung als Konstruktivität herausgestellt. Mit Lacan hat sich die Unterscheidung von Beobachtungsebenen selbst ergeben, die hilfreich bei der Begrenzung solcher Aufklärungsbemühungen sein mögen.
Nach diesem Durchgang stellen sich die ohnehin schon relativierenden Zuschreibungen der vorherigen Kapitel, die das Verhältnis von Realität, Zeichen und Symbolen beschreiben, noch radikaler. Ich wende mich zunächst den Zeichen und Symbolen zu, dann dem Problem der Beobachtung von Realität.

1) Wie sicher sind die Zeichen?
Die Zeichen sind nie der Weisheit letzter Schluss, obwohl sich alle Weisheit in ihnen zu versammeln scheint. Bleibe ich auf der Zeichenebene selbst, dann erscheint eine Unendlichkeit der Variation, der Ergänzung der Zeichen durch Zeichen. So, wie sie einmal konstruiert werden, so lassen sie sich immer de­konstruieren, weil kein Zeichen für sich steht. Aus der ersten Kränkungsbewegung wissen wir, dass auch kein Zeichen mehr an sich steht. Aus der zweiten Kränkungsbewegung wissen wir, dass Zeichen immer in Interaktionen eingebun­den sind, in Verständigungsgemeinschaften, so dass der Diskurs von und mit Zeichen immer ein Diskurs des Anderen ist. In der dritten Kränkungsbewegung aber erscheint dieser Diskurs des Anderen auf dem Hintergrund eines Begehrens, das selbst Zeichen ist und in die Zirkularität von Zeichen und Symbolik eintritt. Lacan dreht unsere bisherige Argumentation um, wenn er aus psychoanalytischer Symbolik heraus auf die Zeichen zurückgreift, um zu zeigen, dass für unterschiedlichste Beobachterzusammenhänge im Spannungsfeld von Lust und Unlust, Begehren und Befriedigung, Geburt und Tod, Mann und Frau usw. neben und hinter den symbolvermittelten Ordnungen immer weitere Zeichen erscheinen, die unsere symbolische Welt ergänzen, verstören, verwirren. Sie zwingen uns zu einer Reflexion-zurück-auf, sie geben uns die Hintergründe von Zeichen zurück, indem sie sie nicht in der Symbolwelt aufgehen lassen.
Als Konsequenz ergibt sich aber aus konstruktivistischer Sicht keine neue Sicherheit irgendwelcher Zeichen, sondern eine Reflexion auf die Unsicherheit der Zeichen selbst. Sie erscheinen nicht nur in der Welt des Symbolischen und der des Imaginären, sondern eben auch in jenen unvorhersehbaren Ereignissen des Realen, die uns Zeichen setzten wie Tod, Krankheit, Freude usw., d.h. singuläre Ereignisse mit lokaler Sinnlichkeit und individuellem Riss, der zugleich, weil wir hiervon nicht allein betroffen sind, als Zeichen kommunikativ mit a/Anderen verhandelt und besprochen werden kann. So erscheinen uns ständig An-Zeichen, die uns an etwas erinnern, gemahnen, erstaunen lassen usw. Indem wir sie bezeichnen werden sie zum Ausgangspunkt für Kommunikation.

2) Was steckt hinter den Symbolen?
Doch sprechen wir schon mit Anderen, dann bleibt es nicht bei jenen Zeichen, die das Andere als Anderes sein lassen, dann formen wir es, wie Levinas uns sagte, in ein Selbes um und sind schon im symbolischen Register, das das Imaginäre begrenzt und das Reale abwehrt. Symbolisches Denken schwankt zwar zwischen Konstruktion und Re- und Dekonstruktion, wie wir gesehen haben, aber angesichts der Symbolvorräte der Wissenschaften und Lebensformen hat die Rekonstruktion Dominanz erlangt. Gehen wir nur von den Symbolen und dem in ihnen vergegenständlichten Wissen aus, dann werden wir als Beobachter, als Subjekte von einer Über-Macht erschlagen, an die wir singulär, lokal und individuell nie werden heranreichen können. Nehmen wir hingegen Wittgensteins These nach der Verwendungsweise solcher Symbolvorräte auf und fragen nach den Umständen, die wir voraussetzen müssen, um uns in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen und Lebensformen mit ihnen zu beschäftigen, dann eröffnet sich eine eigene Mächtigkeit, die Symbolvorräte zu bezwingen. Negativ betrachtet erscheint hierin unsere Halbbildung, die sich immer weiter bis hin zu neuer Naivität partikularisiert; positiv ein bejahender Wille zum glücklichen Über-Blick, der sich an den überschaubaren Symbol-Vorräten erfreut. Es gehört allerdings zu den fundamentalen Angriffen auf diese Eigen-Mächtigkeit im Zeitalter der Massenmedien, diese Vorratshaltung mit Warenfetischen und Konsumhaltungen so zu überfluten, dass unser Begehren nach eigener Mächtigkeit an die Verwendungen der kapitalistischen Warengesellschaft angekoppelt bleibt. Diese Symbolmaschine will uns fressen, damit wir mittels unserer Einbildungskraft und eigener Mächtigkeit nicht etwa sie vernichten. Und welcher Beobachter, wenn nicht ein Maler des Unbekannten, ein Dichter der Ver-rückten, sollte diese Maschine aufhalten? Längst sind die Beobachter als Teil der Kultur Parasiten in diesem symbolischen Spiel (Serres 1987).
Die dritte Kränkungsbewegung hat uns gegenüber der zweiten Bewegung den Begriff des Begehrens hinzugefügt, das zwar nun auch nicht jenes eine Symbol darstellt, an dem sich alles orientieren muss, das jedoch in diesem symbolischen Spiel subversiv immer tätig zu sein scheint. Aber fast nie sehe ich es auf den ersten Blick. Es wuchert in einer Realität, die als Unbewusstes in Frage steht, Realität zu sein.

3) Und was bleibt nach der dritten Kränkungsbewegung als Realität?
Ist sie nur noch jener Punkt des direkt Wahrgenommenen, des sinnlich Gewissen, der momentanen Empfindung, die sich über das Gefühlte in den Moment ihrer sprachlichen Artikulation umsetzt? Dann sind nur die Augen-Zeugen die Bewahrer der Realität. Dann wird die Verständigung solcher Zeugen mit der Gemeinschaft, die sich symbolisch das festhält, was real ist und als real tradiert wird, zum geheimen Antrieb „wahrer“ Wirklichkeitsdefinitionen. Oder ist das Reale als Gegenbehauptung hierzu immer das Widerständige, das Körperliche, das plötzlich als Symptom, als Lust, als Schmerz usw. erscheint, das Ungeheuerliche, nicht Vorhersehbare und zufällig sich dann doch Ereignende?
Beide Positionen erscheinen im Diskurs des Unbewussten. Bei Freud trennt das Realitätsprinzip die Wünsche und die komplizierten Wechselwirkungen in der Psyche des Menschen deutlich von dem, was tatsächlich geschieht, was empirisch bezeugt, was für einen außenstehenden Beobachter gesehen werden kann. Dies ist für klinische Betrachtungen auch sehr wesentlich, denn die reale oder die imaginierte Befriedigung einer Lust können zwei grundverschiedene Realisa­tionen mit unterschiedlichem Zugewinn an körperlichem Spannungsabbau sein. Aber zugleich hat Freud die Kraft der Vorstellungen erkannt. Sie können eben auch Macht über die scheinbar reale Welt gewinnen. Es gibt nicht nur reale Traumata, sondern auch fantasierte. Wünsche und Ängste sind nicht bloße Abbilder tatsächlicher Ereignisse, sie sind nicht auf Reiz und Reaktion zu reduzieren. Wie sollen wir dann aber an einer Konzeption des Realen festhalten, wenn wir als Beobachter Wirkungen sehen, die uns real erscheinen, obwohl sie für den Betroffenen aus imaginären Ängsten resultieren? Wie wirklich ist hier wessen Wirklichkeit?
Bei Lacan erscheint deshalb ein Reales, das uns verwirrt. Es ist das Unmögliche, das Abwesende, das, was erst noch eingreift, von dem wir aber – symbolisch – noch nichts wissen, der Spalt, der Abgrund. Wir ahnen dies Reale: Es kommt als Schicksal, als Tod, aber auch als große Liebe oder kleines Glück.
Lacan-Rezipienten haben sich nun oft geholfen, dieses Reale von der Realität abzugrenzen. Sie sagen: Die Realität ist dann die eigentliche Wirklichkeit, in der die Dinge so sind, wie sie sind. Hier erscheint das Freudsche Realitätsprinzip. Es ist etwas anderes, ob ich meine Lust bloß imaginär befriedige – oder in vorgestellten Objekten –, oder ob es mir gelingt, sie auf reale Objekte, d.h. anwesende und sinnlich erfahrbare zu beziehen und mich damit in einer Realität zu befriedigen.
Wieso aber hat Lacan dann nicht beide Positionen deutlich unterschieden? Juranville interpretiert dies so: „Es gibt auf der einen Seite den Sinn, den wir all den Dingen unserer Welt verleihen, und diesbezüglich wird bei Lacan von der Vorstellung und vom Imaginären die Rede sein; und es gibt auf der anderen Seite die ‚Realität‘ der Welt des Wachseins, und das ist durchaus das ‚Reale‘. Wachsein heißt für Lacan, dem, was trotz allem nicht antizipiert werden kann, dem Realen, ausgesetzt zu sein. Aber das, was aus der realen Welt eine Welt macht, schließt dabei die Anwesenheit des Realen als solches aus.“ (Juranville 1990, 111)
Lacans Definition ist verwirrend, und wir sollten unterstellen, dass dies beabsichtigt ist. Wenn wir aber Realität jene nicht antizipierte, sondern „tatsächlich“ vorhandene Anwesenheit von Welt nennen, dann impliziert diese auch die Möglichkeit des Abwesenden, das sich zur Geltung bringt. Das Reale in dieser Realität führt dann dazu, sie als schwankend und lückenhaft selbst anzusehen.
Gleichwohl denkt Lacan in dieses Konstrukt des Realen aber auch seine Erwartungen hinein, wenn er annimmt, dass dies Reale die geheimste Quelle für das menschlich Unbewusste ist: Aus ihr heraus entstehen Fehlleistungen, keimen Verdrängungen usw. empor. Damit wird das Reale aus der Grenzbedingung gegenüber den konstruierten Beobachterperspektiven des Imaginären und Sym­boli­schen zu einer Konstruktion des Begehrens des Psychoanalytikers, der aus dem Unmöglichen – der Grenze menschlicher Erkenntnis – die Wahrheit seiner Konstruktion selbst emporkriechen sieht.
Ganz anders erscheint diese Grenze bei Levinas, sofern er das Fremde und den Anderen als Anderen belässt, wie er ist. Und wie er ist, das weiß ich nicht. Wenn ich an den Nullpunkt und die Leerstelle etwas setze, dann verfehle ich ihn schon. Nur der Andere kann jetzt setzen, damit ich für mich weiter sehe.
Eine konstruktivistische Beobachtertheorie sollte die Differenz zwischen Lacan und Levinas beachten. Sie muss sich aber auch klar von Lacan absetzen. Wann immer die Realität als eindeutig und – auch optisch – klar strukturiert und offensichtlich erscheint, ist in ihr zugleich das eingeschlossen, was dem Beobachter entgeht. Dies ist ein Grundsatz, den ich mit Lacan teile. Anders als er möchte ich jedoch den Akzent dann so setzen:
Beobachter tendieren dazu, die Wirklichkeit, wie sie für sie ist, 1 zu erfassen und sich dies ordnend – symbolisch – festzuhalten. Entdecken sie nun das, was sie nicht antizipiert hatten, dann suchen sie sofort wieder, es in die Ausschließungsbedingungen ihrer Perspektiven, ihres Fokus, ihrer Konstruktion von Wirklichkeit aufzunehmen. Beobachter tendieren mit anderen Worten zur Schärfe ihrer Beobachtungen und Aussagen hierüber. Die Ereignisse jedoch, die sie beobachten, können je nach dem Grad zugelassener Komplexität des Beobachtens – also Auflösung sehr reduktiver Ausschließungsbedingungen – gar nicht auf Dauer scharf gehalten werden. Ereignisse sind singulär, unendlich in ihren Beobachtungsvorräten, schwierig und problematisch in den Bildern und Vorstellungen über sie. Ein Beobachter wird also niemals in ihnen das Reale im Sinne eben der Antizipation dessen, was immer noch kommen mag, leisten können. Dieses Reale wäre ja auch nur aus einer Beobachterposition zu beschreiben, die gleichsam von außen her uns Menschen als Beobachter einer nicht antizipierbaren Beobachtung zeigt – also aus einer ontologisierenden Perspektive von Existenz, wie sie Lacan nach den Maßgaben psychoanalytischer Orthodoxie annimmt. Genau dies aber sehe ich als Kritik an seinem Begriff des Realen, der uns suggerieren könnte, dass es hierin Wirkungsgesetze gibt, die doch wieder eindeutig das regeln, was wir (noch) nicht sehen können, weil es „an sich“ geregelt ist. Lacan könnte dies zwar nur für jenen schmalen Bereich der psychoanalytischen Beobachterperspektive denken, aus der er durch Erfahrung zu wissen meint, was Patienten gerne übersehen, aber schon diese Versuchung ist eng begrenzt und nur ein möglicher Blick.
Diese Argumentation führt mich dazu, Lacans Begriff des Realen nicht zu übernehmen. Dennoch bleibt das damit bezeichnete Problem, das ich für wesentlich halte. Es gliedert sich wie folgt in meine Überlegungen ein:

  • Beobachten findet immer seine Grenze an den Beobachtungsvorräten, die unerschöpflich und so unendlich sind. Aus diesen heraus konstruiert es sich, wobei allerdings unterschiedliche Ebenen und Orte sowie Zeiträume des Beobachtens selbst entspringen.
  • Zunächst gibt es den Beobachtern gegenüber unbewusste wie bewusste Wirklichkeiten. Beobachter neigen dazu, sich die bewussten zu erschließen und noch nicht bewusste dadurch auszuschließen, dass sie mittels Kriterien ihrem Wachsein von Beobachtung vertrauen. Die sinnliche Gewissheit gilt als Basis eines solchen Vertrauens, aber sie funktioniert nur, wenn sie sich des Blicks des a/Anderen versichert – sie ist also intersubjektiv abgesichert und in ein Verständnis von Wahrnehmung, das der Sozialisation unterliegt, eingebunden. Es ist die unendliche Aufgabe der Selbst- und Fremdreflexion von Beobachtern, sich dieser bewussten wie unbewussten Vorgängigkeiten möglichst weitreichend zu vergewissern, damit alle Rekonstruktionen von Wirklichkeit immer auch zu dekonstruieren.
  • Die symbolische Welt selbst hat sich ungeheuer differenziert. Sie dringt als symbolischer Ballast in die Ontogenese jedes Individuums ein, was bis hin zu einer Entwertung von Sinn und Werten reicht. Denn Sinn und Werte der Lebensform multiplizieren sich durch die symbolische Aufgeladenheit und verlieren ihre schärferen Grenzen und Ränder. Dafür gibt es viele Gründe. Wesentlich scheinen hierin die Massenmedien zu wirken, denn ihre imaginative Überschwemmung mit symbolischen Klischees führt in eine Unübersichtlichkeit des Trivialen, das als Trivialität selbst Sinn und Werte unterläuft, indem es sie als Oberflächenmuster generiert. Darin erweist sich das Sym­bolische aber immer auch als manifeste Realität. Sie wechselt damit hinüber ins Reale, weil sie gegenüber dem Individuum – insbesondere gegenüber Kindern – als jener Mangel erscheint, den das Individuum selbst und nicht die Welt trägt.
  • Das Reale ist in solcher Wendung das Symbolische wie das Imaginäre. Es erscheint in einer Komplizenschaft, die sein Auftreten als Mangel prinzipiell begleitet. Solches Erscheinen wird von Beobachtern, die es bemerken, als Realität bezeichnet. Was ist das – kategorial betrachtet – für eine Realität?
    • Die symbolische Realität ist die bereits codifizierte und tradierte Sym­bolik, die als Schriftsystem, als Denken einer Institution sich in Regeln, Normen, Gesetzen usw. niedergelegt hat und mittels dieser ständig neu reproduziert wird. Sie unterscheidet sich graduell in ihrer Anerkennung durch Verständigungsgemeinschaften, indem sie als solche Realität anerkannt wird. In solcher Anerkennung strebt sie nach Eindeutigkeit, nach Objektivität, die deutlich – mit Grenzsetzungen und Ausschlusstatbestän­den – kommuniziert werden kann. Sie reicht von Codierungen, die eine ganze Kultur bestimmen, bis hin zu sehr individuellen Abweichungen in einer solchen Kultur. Sie ist in jedem Fall die Grenz- bzw. Schnittstelle gegenüber den bloßen Fantasien in einer Kultur, sie stellt das Drängen nach Handlung und Realisierung dar, nach Gerinnung und Festhalten jener Aussagen einer Kultur, die als codifiziertes Gedächtnis an die Nachgeborenen weitergegeben werden. Solche Symbolik bleibt dabei auch nicht Texten vorbehalten, obwohl sie in ihnen besonders akkumuliert wird, sondern erscheint als Architektur, Verkehrs- und Regionalplanung, Ökonomie, Ökologie usw.
    • Ihr steht eine imaginäre Realität gegenüber, die auch in Symbolik erscheint, aber in ihr nicht aufgeht. Es ist eine vorstellende Imagination, die mir als Selbstbeobachter wie eine Realität vorkommt, obwohl ich doch weiß, dass ich Traum und Wirklichkeit auseinanderhalten muss. In der Imagination erscheint eine Bewegung, eine Unendlichkeit von Bewegungsmöglichkeiten in einer und gegenüber einer symbolischen Welt, die eine merkwürdige Grenzbedingung unseres Daseins selbst ist. Solche Imagination treibt uns an und motiviert, sie bleibt nicht bei dem Erreichten stehen, sondern bewältigt es mit sich und öffnet neue Seiten, auch wenn diese nie in die Handlungswirklichkeit reichen mögen. Dies führt zu einer unendlichen Differenzierung der symbolischen Realität selbst, denn jeder Beobachter kann diese aus seiner imaginären Realität anders komponieren. Aber in der imaginären Realität lauert auch der Überschwang, der als frustrierender Kontrast zur „wirklichen“, d.h. symbolischen Welt empfunden werden kann. Dies bemerken wir als Selbstbeobachter immer dann, wenn sich in uns oder von außen der Fremdbeobachter meldet, der schon die symbolischen Leistungen und Erwartungen der Verständigungsgemeinschaften, in denen wir situiert sind, weiß und uns hierüber diszipliniert. Oft wird diese Position so stark, dass wir uns die imaginäre Realität nicht nur beschneiden, sondern überhaupt verbieten wollen.
    • Die symbolische und imaginäre Realität sind bloß Grenzbegriffe, zwischen denen sich Fühlen, Denken und Handeln beobachtend situieren lassen. Was in ihnen nicht erscheint, ist die Grenzbedingung des Realen (des unvorhersehbaren Ereignisses), das immer erst im Nachhinein geschaut werden kann und das wie ein Einbruch aus nicht geahnter Realität wirkt.

Das Reale ist im Zirkel dieser drei Bestimmungen aber immer nur das, was als Reales bei Subjekten ankommt. Es wird z.B. in diesem Text symbolisch manifest, um sich in die Beobachtungen des Lesers einzuschleichen. Es wird im Denken des Lesers manifest als solche Einschreibung, die mit den Imaginationen sich zu einem (Nicht-)Verstehen assoziiert und intuiert, um aus diesem Zirkel als Reales für das Ich des Lesers herauszuspringen. So springt es auf als „Jetzt hab ich‘s“ oder „Das will ich nicht“, um als Symbolisches in die Erinnerungen zurückzufallen, die irgendwann einmal auftauchen und dabei real erscheinen mögen.
Damit ergibt sich eine Multiplizierung der Realität von Beobachtern. Sie spielt sich in folgenden Beobachtungs-Feldern ab:

(1) Symbolische Realität spielt im Spannungsfeld von codifizierter Symbolik mit verschiedenen Allgemeinheitsgraden, die als Realität des menschlichen Lebens selbst vorgängig erscheinen, bis hin zu einer symbolischen Imagination, die immerhin noch Realität für den Imaginierenden selbst sein mag. Für Beobachter sind die Unterschiede in diesem Spannungsfeld wesentlich, wenn sie etwas über den Geltungsraum und damit den symbolischen Anspruch ihrer Beobachterkategorien aussagen wollen. Dabei ist seit der Aufklärungsbewegung das Interesse an dem Aufdecken bewusster symbolischer Ordnungen in der Moderne offensichtlich geworden. Die Zuwendung zu unbewusster symbolischer Ordnung hingegen ist für jene Beobachter strittig geblieben, deren symbolische Ordnung selbst zu Ausschlussgründen tendiert, sich bloß noch das bewusst reflektierte Symbolische festzuhalten. Ihre Krise erscheint in der imaginären Realität.
(2) Imaginäre Realität spielt im Spannungsfeld individuellen Erlebens, das zwischen eigenem Begehren und besetzten anderen schwankt. Es reicht bis zu einem kollektiven Erleben, das vorgestellt wird. Für Selbst- wie Fremdbeobachter sind die Unterschiede in der Wirksamkeit solcher Imaginationen auf Individuen bzw. Kollektive wesentlich, da in ihnen meist unbewusste Spiegelungen und Fantasien, ein Begehren des anderen ersichtlich wird, das den Traum der symbolischen Ordnung und Harmonie durch das Träumen als Ausdruck unendlicher Begehrensmöglichkeiten selbst antreibt oder erschüttert. Solche Imagi­nation kann sofort in Symbolik umschlagen, wenn sie sich formuliert, sei es auch, dass die Motive solcher Formulierung selbst unbewusst bleiben mögen.2
(3) Reale Ereignisse erreichen den Menschen direkt oder vermittelt. Direkt bedeutet, dass er in sinnlicher Gewissheit steht, wahrnehmend und empfindend, als Augen-Zeuge, dessen Zeugnis allerdings schon die Vermittlung ausdrückt: So werden Ereignisse im Spannungsfeld symbolischer und/oder imaginativer Realität festgehalten. Je symbolischer, desto dramatischer fällt ihre gesellschaftlich sanktionierte Rolle aus. Es ist ein Wissen um Gefahren und Katastrophen, das eine ungeheure Codifizierung von Bewältigungsleistungen hervorbringt, die ihrerseits als Symbolik zur Imagination über solche Gefahren verschwimmen und sich als Angst in das Bewusstsein einschleichen.
(4) Ereignisse aber zirkulieren in den Beobachterbereichen, die hier unterschieden sind. Sie zirkulieren in den Beobachterrollen, die ein Ich ihnen gegenüber einnimmt, um sich durch die Unterscheidungen in seiner Realität und im Diskurs des a/Anderen zu situieren.

Was aber drängt mich, eine Aufteilung ins Symbolische, Imaginäre und Reale vorzunehmen?
Es gibt keine eindeutige Regel, weil diese ohnehin nur eine Bevorzugung des Symbolischen ausdrücken würde. Dieses ist ohne bevorzugt: Es lässt sich festhalten, dass für die Moderne insbesondere die empirisch erhobenen Gefahrenzustände, die methodisch analysiert werden können – was der Machbarkeit und Kontrollierbarkeit des Technik- und Industriezeitalters entspricht – bevorzugt ins Symbolische übergeleitet werden und hier ihr Eigenleben entfalten. Solche Symbolvorräte selbst unterliegen dann unterschiedlichen Veralterungsgraden, was überhaupt typisch für das Symbolische ist: Zwar fixieren wir in ihm das, was wir erhalten wollen, aber es gelingt nur dadurch, dass wir große Teile davon vergessen.
Ohne das Imaginäre aber fehlten uns unsere Visionen, unsere vorstellenden Antriebe, ja überhaupt die Bevorzugungen, die wir ausüben. Der Tod einer Kultur wäre es, wenn sie ihre Imaginationen verliert oder zu sehr beschneidet. Es wäre ihr Tod, weil sie dann zu wenig Antrieb hätte.
Reale Ereignisse aber sind immer mehr als symbolische oder imaginierte Wirklichkeiten – zumindest für die, die sie erleben. Sie stellen das Ungeahnte, das Unwahrscheinliche, das Zufällige, die Grenze aller Erkenntnis und Vorstellung dar, die erst im Nachhinein codiert oder imaginiert wird. Sie tritt aber immer ins symbolische Haus als Gegenwart und ins imaginäre Bild als Augen-Blick.
Reale Ereignisse sind für die Augen-Zeugen in sinnlicher Gewissheit verankert. Sie werden erlitten, was mit konkretem Schmerz, mit konkreter Freude usw. verbunden ist. Als Ereignisse sind sie – selbst bei Wiederkehr – singulär, als Beschreibungen von Beobachtungen über solche Ereignisse verwandeln sie sich in Wahrheiten, in Aussagen über „etwas“, in symbolische Ordnungen, die scheinbar etwas Universelles ausdrücken. Solche Universalität besteht zumindest darin, dass (vor-)ausgesagt wird, unter welchen Umständen welches Ereignis eintritt. Doch die Umstände und Ereignisse wechseln.
Solche Eintretenswahrscheinlichkeit ist symbolischer Natur, auch wenn sie das Imaginative beflügeln mag oder durch das Imaginierte beflügelt ist. Die Wirklichkeit solcher Eintretenswahrscheinlichkeit hängt nach dem Eintreten – nach Überleitung in die Zeugenschaft symbolischer Systeme – allein von der Gültigkeit solcher Symbolik in der Verständigungsgemeinschaft ab. Die Verständigungsgemeinschaft entscheidet so immer auch mit darüber, was einzelnen Individuen in der Lebenswelt als real begegnen wird.
Der Gültigkeitsraum von Realität ist eine Verständigungsgemeinschaft; dies wird in allen Sichtweisen, die ich hier erprobe, deutlich. Eine Verständigungsgemeinschaft setzt mindestens zwei Subjekte voraus. Um zu allgemeinen, gesellschaftlich tragfähigen Verständigungen zu kommen, bedarf es größerer Gruppen von Menschen. Leben und Erinnern, aber auch Vernichtung und Vergessen sind eigentümlich für Lebensformen. Dabei ist die Verständigungsgemeinschaft für die menschliche Lebensform keine wählbare, sondern zunächst immer schon vorausgesetzt: Die wechselseitigen Spiegelungen der Blicke, des Körpers mit seinen Bedürfnissen, der Sprache, bedingen den a/Anderen, um selbst sein zu können. Verständigung ist immer schon der Diskurs des a/Anderen. Da ich durch Heranwachsen in einer Kultur aber zugleich Selbst und a/Anderer bin, gehört es zu meiner Möglichkeit und Mächtigkeit, als reales Ereignis in dieser Kultur mich in meinen Wirkungen zu imaginieren und – bei entsprechender Umsetzung – in die Symbolvorräte einzuschleichen. Je mehr Mitmenschen dieses Ereignis bemerken, desto wahrscheinlicher wird die Befriedigung meiner Imagination von Wirksamkeit, die sich symbolisch an meinem Namen festmacht. Dabei gehört es zur besonderen Kunst der Namhaftmachung, all jene Interaktionen in meinen eigenen Imaginationen und Symbolsetzungen vergessen zu machen, die die Spiegelungen anderer in mir erzeugten.3
Das Spiel der Kategorien, das ich hier als Beobachter von Beobachtern betreibe, ohne je eine letzte Position oder Perspektive erreichen zu können, beansprucht bereits eine bestimmte symbolische Vereinbarung, durch die ein Bild von Welt (wenngleich kein geschlossenes Welt-Bild) entsteht. Es ist immerhin so weit offen, dass es zugestehen muss, objektivierbare Ausschließungsgründe für alle anderen verloren zu haben. Trotzdem spricht es von einer zunehmenden Unschärfe, die in den Kränkungsbewegungen erscheint. Nunmehr aber können wird die letzte Kränkungsbewegung gegen die Rede von der Unschärfe selbst kehren. Aus dem Blick des Symbolischen, des Imaginären und der Ereignisse – die allesamt einander durchdringen und an die Grenze ihrer Realität stoßen – lässt sich nun umgekehrt behaupten, dass gar nicht die zunehmende Unschärfe der Erkenntnis das Problem ist, sondern umgekehrt die seit langer Zeit tradierte Versuchung der Schärfe, der Suche nach Eindeutigkeit und Objektivation als Ausdruck einer Illusion erscheint, deren imaginative Basis in jenem Begehren nach Bemächtigung von Welt-Bildern gesehen werden mag, die als symbolische Systeme auf Dauer nie das halten können, was versprochen wird. Aus dieser Sicht ist die Unschärfe der Ausgangspunkt all unseren Schauens, die Schärfe von Erkenntnis nur ein Spezialfall unserer Wünsche, der sich als symbolische Welt immer mehr verselbstständigt hat und nunmehr oft kontraproduktiv auf unseren Alltag zurückschlägt.
Doch damit verwandelt sich die Unschärfe auch in eine neue symbolische Wahrheit, um sich in ein Register des Argumentierens einzuschreiben. Wir sind zirkulär gefangen, wenn wir die Wirklichkeit unserer Wirklichkeit fundieren wollen, weil und insofern der reflektierende Diskurs immer schon der Diskurs der a/Anderen ist, mit denen wir uns hierüber verständigen. Entscheidend für den Gang solcher Verständigung wird nach der dritten Kränkungsbewegung das in uns liegende Begehren, das unseren Drang selbst ausmacht und in Verbindung mit a/Anderen bringt. Aber dies Begehren, das bei Freud in den Trieben wurzelt, bei Lévi-Strauss im unbewussten Geist der Menschheit gesehen wird, bei Piaget die Frage nach den Motiven von Entwicklung aufwerfen lässt, bei Lacan sich als Theorie des Begehrens selbst formuliert, dieses Begehren ist nun auch keine isolierbare Stelle letzter Wahrheit, sondern an all die (unbewussten) Möglichkeiten der imaginativen, symbolischen, ereignisbezogenen Besetzungen geknüpft, mit denen Wirklichkeit assimiliert und akkommodiert wird. Zwar mögen wir hier durchaus relevante Bezugspunkte – etwa die Sexualität nach Freud – erkennen und anerkennen, aber dies verwandelt sich damit doch nicht in ein schlüssiges Bild allgemeiner Weltbeobachtung. Wenn die Psychoanalyse in ihrem Diskurs beschreibt, dass der Psychoanalytiker als Agierender sein Begehren auf den Patienten als Subjekt richtet, um daraus jene Meisteraussagen abzulesen, die das Wissen der Psychoanalyse etablieren, dann ist es zugleich unmöglich, den Anderen als Subjekt in irgendeiner Weise vollständig zu erreichen, denn der Analytiker selbst begegnet diesem Anderen über seine eigenen Spiegelungen als anderer – also auf der imaginären Achse mit all ihren unausgesprochenen oder unaussprechlichen Bestandteilen. Aber dieser andere wird als Anderer doch zu jenem sprechenden Subjekt, aus dessen Worten das Konstrukt der Psychoanalyse abgezogen und als Wissen bewahrt wird.
Sollte Wissenschaft immer diesen analytischen Weg gehen, um sich einzugestehen, dass es unmöglich ist, den Anderen als Subjekt mit einem vollständigen Wissen zu erreichen? Der wissenschaftliche Diskurs richtet das Wissen als Ausgangs- und Endpunkt auf, dessen Begehren in nichts anderem zu bestehen scheint, als mehr Wissen zu erzeugen.4 Es ist ein Begehren nach Wissen selbst, das die Subjekte zu Produzenten von mehr Wissen werden lässt, um sich daraus die Meisteraussagen, die Stimmen und Grenzen der Wahrheit in ihrem Wissen, von dem sie erneut auszugehen haben, festzulegen. Doch die wissenden Subjekte scheitern in der Festlegung der Meisteraussagen, sie können auf Dauer die Festlegung nicht leisten. Es kommen andere Subjekte und zerstören die symbolisch heilen Welten, die für eine Ewigkeit gemacht schienen. Auch der analytische Weg erweist sich nur als eine mögliche, wenngleich sinnvolle Beobachterperspektive.


Fußnoten

1 Das schließt aber bereits Kultur in Form von Verständigungsgemeinschaften ein. Solche Verständigungsgemeinschaften zerfallen ihrerseits in unterschiedliche Gruppierungen mit gemeinsamen Schnittmengen, aber auch mit Trennungen und feinen Unterschieden, wie es Bourdieu (1987) ausdrückt.

2 Die Entwicklung von Religionen ist dafür ein Standardbeispiel.

3 Es gehört nach wie vor zu den Fiktionen der Beobachter, sich Meisterbeobachter zu imaginieren und symbolisch namhaft zu machen, die wie gleichsam aus dem Nichts ihr kreatives Potenzial für Andere bereitstellen. Es handelt sich hierbei offenbar um ein Begehren, das viele kennen, aber nur wenige realisieren können. In der Identifikation mit solchen Realisationen - besonders erkennbar bei Idolisierungen von Sportlern, Künstlern, Genies usw. - erhöht sich das eigene Selbstwertgefühl projektiv dann immer auf Kosten Anderer.

4 Zur konstruktivistischen Diskurstheorie und dem hier angesprochenen Diskurs des Wissens vgl. Band 2, Kapitel IV.4.3.

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