4. Diskussion

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Zunächst ist festzuhalten: Die Betrachtung der Verteilung der kodierten Analyseeinheiten im Hinblick auf die Oberkategorien unseres Kategoriensystems zeigt, dass die Validitätskriterien der Exklusion, Erschöpfung und Saturiertheit des Kategoriensystems erfüllt sind; die Analyseeinheiten sind nur jeweils einer Kategorie zugeordnet, alle Textteile werden durch das Kategoriensystem abgedeckt (wobei die Restkategorie mit 8% der Nennungen nicht überproportional besetzt ist); und in jeder Oberkategorie liegen mehrfache Nennungen vor. Die Kodierer/innen-Übereinstimmung kann immerhin als moderat bezeichnet werden.
Allerdings muss bezüglich der Validität unserer Ergebnisse aus methodischer Sicht die Einschränkung gemacht werden, dass sowohl die Festlegung der zur Kodierung herangezogenen Analyseeinheiten als auch die Kodierung selbst aus Praktikabilitätsgründen nicht von unabhängigen Kodierern/innen geleistet werden konnte, sondern durch die Untersuchungsleiter/innen selbst durchgeführt wurde.
Von dieser Grundlage aus belegen die Ergebnisse der statistischen Überprüfungen in allen Fällen, dass unsere Forschungshypothese - Politiker/innen beurteilen eine Affäre in der eigenen Partei nach niedrigeren Kategorien moralischen Urteilens als eine Affäre in einer konkurrierenden Partei - an den untersuchten Affären bestätigt wird. Damit muss auch die unserer Untersuchung zu Grunde liegende Fragestellung, ob mit zweierlei Maß gemessen wird, wenn Politiker/innen sich zu einer politischen Affäre äußern - je nachdem, ob es sich um die Beurteilung einer Affäre in der eigenen oder in einer konkurrierenden Partei handelt - bejaht werden. Die Art dieser Maßstäbe haben wir in unserer Untersuchung durch die Zusammenfassung der Kategorien 1 - 3 zu den ,niedrigeren' Kategorien einer Orientierung an Beziehungen und den ,höheren` Kategorien (4 - 6) einer Orientierung an Prinzipien bestimmt. Von hier aus bedeutet das vorliegende Ergebnis, dass Politiker/innen anscheinend für andere die Prinzipientreue, für sich selbst lediglich die Beziehungstreue fordern.
Daraus ergeben sich für uns relativ weitreichende hypothetische Fragen (die durch weitere politisch-psychologische Studien geklärt werden sollten): z.B. die Frage, ob diese Doppelmoral nicht einer der Gründe für die in der Bevölkerung vorhandene Politikverdrossenheit darstellt, weil der Wechsel der Argumentationsstufen von den Hörern- bzw. Lesern/innen intuitiv wahrgenommen wird und damit auch, dass an andere (Parteien) ein höherer moralischer Anspruch gestellt wird als an sich selbst. Ein solches Verhalten berührt u.U. das Unrechtsbewusstsein der Menschen, was kaum dazu beitragen dürfte, das Vertrauen in die Integrität der Politiker/innen und damit der ,Politik an sich` zu fördern. Außerdem wird der Bevölkerung indirekt deutlich, dass zumindest die in unserer Untersuchung berücksichtigten ,großen` Parteien (SPD, CDU, Grüne, FDP) insgesamt solch ein fragwürdiges Verhalten an den Tag legen. Eine mögliche Folge könnte die Abwendung von der Politik insgesamt sein, was sich z.B. in Wahlverweigerung äußern kann. Betrachtet man die abnehmende Wahlbeteiligung der letzten Jahre, drängt sich in Anbetracht der Ergebnisse unserer Untersuchung die Möglichkeit auf, dass für geringe Wahlbeteiligung nicht die Bequemlichkeit der Wähler/innen oder das zu gute oder zu schlechte Wetter als Begründungen herangezogen werden sollten, sondern der Glaubwürdigkeitsverlust der Politiker/innen insgesamt, den sie selber durch ein solches Verhalten, nämlich in Form einer Doppelmoral zu argumentieren, hervorrufen.

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R.Mohseni