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BEMERKUNGEN ZUR BESTIMMUNG DES GEGENSTANDES
Abgrenzung Auch wenn es in den Geschichtswissenschaften nicht - wie etwa in den Philologien oder der Musikwissenschaft - eine eigenständige Editionswissenschaft gibt, gehören Fragen der Quellenerschließung und der Editionstechnik doch zum erweiterten Kanon der Historischen Hilfswissenschaften.
Mit dem Übergang zu einer digitalen Informations- und Kommunikationskultur vollzieht sich auch im Bereich der historischen Editionstechniken ein grundlegender Wandel. Dieser bezieht sich nicht nur auf die Form der Publikation historischer Quellen, sondern auf alle Bereiche der Quellenkritik und Quellenerschließung. Die - vor allem durch neue Möglichkeiten bedingten - Veränderungen betreffen z.B.:
  • Die Auswahl der zu erschließenden Dokumenten
  • Die Ziele einer Edition
  • Die Organisation und Durchführung von Editionsprojekten
  • Die Inhalte einer Edition
  • (dabei u.a. ...) Die Repräsentationsformen historischer Dokumente
    • in verschiedenen medialen Formen (Text, Bild, Ton)
    • in multipler Tiefe (z.B. in Stufen von diplomatischen Abschriften zu Editionstexten und Lesetexten)
  • Die Delinearisierung der Editionsinhalte (bzw. den Wegfall des Zwangs zur Linearisierung)
  • Die neuerdings scharfe Trennung von Erschließung und Publikation
  • Die neuen und multiplen Publikationsformen jeweils einer Edition

Damit sind nicht nur grundlegende theoretische und methodologische Fragen neu zu beantworten, sondern auch der Gehalt des Begriffes Edition und seine Position im geisteswissenschaftlichen Fächerkanon neu zu bestimmen.
Die selbst schon in den Geschichtswissenschaften höchst unterschiedlichen Vorstellungen von Edition sollen zunächst ganz allgemein gefaßt werden, um einen Ansatzpunkt für eine übergreifende Methodik zu gewinnen. Edition soll deshalb hier begriffen werden, als "erschließende Wiedergabe von historischen Dokumenten", wobei es noch einer zweiten Bestimmung bedarf, um sie von (flachen) Erschließungsprojekten oder reinen Faksimiles abzugrenzen. Mit dieser Bestimmung der Erschließungstiefe, wie der Wiedergabeformen kommt man zu einem allgemeinen Arbeitsbegriff von der Edition als "erschließender Wiedergabe historischer Dokumente mit einer gewissen Mindesttiefe der Dokumenten-Erschließung und der Dokumenten-Repräsentation".

Diese Definition deckt sich auch mit den bisherigen gedruckten Editionen. Der Unterschied besteht zunächst in der veränderten Publikationsform (nämlich in digitalen Medien), womit auch eine notwendige Bedingung für digitale Editionen gegeben wäre. Wichtiger ist aber der grundsätzliche Unterschied in der potentiellen Informationsstruktur gedruckter und digitaler Editionen, womit ich als hinreichende Bedingung für digitale Editionen formulieren würde, daß solche "digitalen Editionen sich nicht ohne wesentliche Informations- und Funktionalitätsverluste in gedruckte Editionen überführen lassen".
Ausgehend von der These, daß es mit dem Medienwandel zu einem fundamentalen Theorie- und Methodenwandel kommt, dürfte auch klar sein, daß elektronische Hilfsmittel zur Erstellung gedruckter Editionen mit dem hier zu behandelnden Gegenstand nichts zu tun haben, wie auch in elektronische Publikationsformen überführte gedruckte (oder auf deren traditionelle Perspektive beruhende) Editionen oder Sammlungen von (Editions-)Texten dazu wenig beitragen.

Andererseits ist es notwendig, den Blick auch für andere Fachrichtungen und Berufsfelder zu öffnen, die wegen ähnlicher Entwicklungen in ihrem Bereich wichtige Beiträge auch für die Editionstheorie in den historischen Fächern liefern können. Dies betrifft vor allem die philologischen Fächer, aber auch die Bibliothekare, Archivare und Dokumentare, die in ihren Aufgabenfeldern Veränderungen ihrer Erschließungsmethoden erkennen lassen, die zu Überschneidungen mit den Vorgehensweisen bei geschichtswissenschaftlichen Quellenerschließungen führen.

Ob ein bestimmtes Projekt, ein Text oder eine andere "Datenquelle" in dieser Sektion der Virtuell Library referenziert wird, hängt folglich nicht davon ab, welchem Fachbereich es entspringt, sondern davon, ob es einen Beitrag zur Entwicklung von Theorie und Methodologie auch der historischen Editionstechnik im digitalen Zeitalter leisten kann. Je weniger historische Beiträge es am Anfang dieser Entwicklung noch gibt, umso offener muß der Blick auf scheinbar fachfremde Quellen sein. Je weiter die Ausbildung einer eigenen Editionsmethodik fortschreitet, umso mehr wird man sich in Zukunft auf originär geschichtswissenschaftliche Beiträge konzentrieren können.

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Patrick Sahle, 10.Januar 2000