Der moralische Impuls - Beispiel 2

Der französische Lyriker Réne Char legte 1946 Zeugnis über seine Erfahrungen während des Widerstandes - er war Leiter einer Résistancegruppe - gegen die verbrecherische nationalsozialistische Besatzung Frankreichs ab. In seinem Buch "Hypnos - Aufzeichnungen aus dem Marquis 1943-1944" schreibt er: "Entsetzlicher Tag! Ich habe, aus wenigen hundert Metern Entfernung, der Hinrichtung von B. zugesehen. Ein Druck auf den Abzug meiner Maschinenpistole, und er hätte gerettet werden können! Wir waren auf der Anhöhe von Céreste, die Büsche strotzten von Waffen, an Zahl waren wir der SS mindestens ebenbürtig. Die zudem nichts von unserem Vorhandensein ahnte. Den Augen ringsrum, die um das Signal, das Feuer zu eröffnen, flehten, antwortete ich mit einem Kopfschütteln ... Die Junisonne fuhr mir eisig in die Knochen. Er fiel, als habe er seine Mörder gar nicht gesehen; und so leicht, schien mir, als hätte der leiseste Hauch ihn vom Boden hinwegheben können. Ich habe das Signal nicht gegeben, weil das Dorf um jeden Preis verschont bleiben mußte. Ein Dorf - was ist das? Ein Dorf wie jedes andere auch? Vielleicht hat er das gewußt in diesem letzten Augenblick?" (Char 1990: 57; Fragment 138) Der "moralische Impuls" drückt sich in Chars Erfahrung so aus: Char steht der Hinrichtung seines Gefährten ohnmächtig gegenüber; nicht weil eine Rettung ohne Erfolgsaussichten oder ungerechtfertigt - falls dieses Wort hier überhaupt zutrifft - gewesen wäre, sondern aus Verantwortung: Das Dorf wäre wahrscheinlich bei einer Befreiungsaktion der Partisanen aus "Rache" von den Faschisten vernichtet worden.

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