Allerdings gibt das Aufkommen der Neuen Medien Anlaß, sich erneut Gedanken zu machen über Quellen und Quelleneditionen, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen werden uns die horrenden Druckkostenzuschüsse für herkömmliche Quelleneditionen zwingen, nach preisgünstigeren Veröffentlichungsmöglichkeiten zu suchen. Zum anderen eröffnen sich ungeahnte Möglichkeiten, wenn man Quellen virtuell veröffentlicht. Wenn wir unseren Beruf ernst nehmen, dann sollten wir regelrecht darauf brennen, uns mit jedweder Möglichkeit auseinanderzusetzen, unsere Forschungsarbeit schneller und besser zu machen.
Vielfach übersieht man, daß Hypertexteditionen eigentlich eine Erfindung des Mittelalters sind: die Kombination von normativem Text mit Erläuterungen, die sich auf eine bestimmte Stelle im Text beziehen, begann mit volkssprachigen Glossierungen im frühen Mittelalter und wurde spätestens im Zuge der Kommentare zum Decretum Gratiani in höchstem Maße systematisiert. Auch heute verbindet jeder Wissenschaftler Texte unterschiedlichen, aber verwandten Inhalts miteinander, z.B. den Text einer Abhandlung und die Fußnoten, Bilder, Karten, Personen-, Orts- und Sachverzeichnisse, die zum Verständnis bzw. zur Vertiefung des Textes dienen oder ihn erschließen. Es gibt allerdings drei wichtige Unterschiede zwischen virtuellem und herkömmlichem Text:
1859 begannen die Bemühungen um eine angemessene Edition der Hanserezesse. In jenem Jahr schlug Lappenberg der Münchener Historischen Kommission die Herausgabe einer Sammlung hansischer Dokumente vor, die alles umfassen sollte, was "die Hanse als Ganzes betraf oder für ihre Geschichte Bedeutung hatte".1 Kern dieser Quellenausgabe, deren Umfang Lappenberg mit drei bis vier Quartbänden veranschlagte, sollten die Hanserezesse seit dem Jahre 1370 bilden. Das war der Schlußpunkt von Lappenbergs Urkundliche Geschichte der Hanse, die somit zeitlich fortgesetzt werden sollte. Junghans, den die Münchener Kommission mit dem Projekt beauftragte, hegte ursprünglich die Absicht, lediglich die Rezesse "mit den nächst verwandten und unmittelbar dazu gehörigen Urkunden" zum Druck zu bringen,2 aber die Konzeption änderte sich nach seinem frühem Tode, denn kurz vor der Ernennung Karl Koppmanns zum Herausgeber i.J. 1868 war der erste Band der Deutschen Reichstagsakten erschienen (1867). Dieses Quellenwerk hat die Konzeption der Hanserezesse nachhaltig beeinflußt, zumal Koppmanns Doktorvater, Georg Waitz, als Mitglied der Münchener Kommission an beiden Unternehmen führend beteiligt war. Nach Waitz' Vorstellung sollten beide Quellenwerke die Akten der jeweiligen Versammlung möglichst vollständig sammeln, und zwar unter Einschluß aller "vorbereitenden und sich daran schließenden Verhandlungen".3 Allerdings zwang eine Etatkürzung die Münchener Kommission, Abstand von Lappenbergs umfassender Konzeption zu nehmen, sich auf die Herausgabe der Hanserezesse bis 1430 zu konzentrieren und die Publikation ergänzender Urkunden anderen zu überlassen.4
Diese Überlegungen und Sachzwänge führten zu einer Aufteilung der hansischen Quelleneditionen. Zum einen beabsichtigten Koppmann und seine Nachfolger, im Rahmen der Hanserezesse alle Dokumente zusammenzutragen, die mit der "Geschichte der Hanse als eines Städtevereins, als eines politischen Gemeinwesens zu tun haben".5 Zum anderen fiel einem weiteren Waitz-Schüler, Konstantin Höhlbaum, und seinen Nachfolgern die Doppelaufgabe zu, im Rahmen des Hansischen Urkundenbuchs das Zusammenwachsen des "hansischen Bundes" in der Zeit vor der ersten Versammlung im Jahre 1256 zu erhellen und daneben alle für die Handelsgeschichte der Hanse relevanten Quellen zusammenzutragen.6 Schließlich sollten im Rahmen der Hansischen Geschichtsquellen die nichturkundlichen Zeugnisse der hansischen Geschichte städtische Akten wie Kämmereirechnungen, Burspraken usw. herausgebracht werden. Eine ähnliche Aufteilung des Materials ist auch bei der preußischen Geschichte zu beobachten, wo Toeppen und seine Nachfolger die Akten der Städte- und Ständetage herausgegeben haben, das urkundliche Material in das Preußische Urkundenbuch eingeflossen ist, und die nichturkundlichen Quellen von Sattler und den Editoren der TNT-Reihe herausgebracht worden sind.7
Diese Aufteilung ist aus mehreren Gründen problematisch.
Durch die Herausgabe der hansischen Quellen in digitaler Form überwindet man zunächst den Konflikt zwischen der chronologischen Anordnung der Unterlagen, die bei Urkundenbüchern üblich ist, und dem Sachbezugsprinzip, das die Hanserezesse sowie die RTA bevorzugen, die die Dokumente zu einer Versammlung unter die Rubriken 'Vorakten', 'Korrespondenz', 'nachträgliche Verhandlungen' usw. einteilen, um ihre Funktion in bezug auf die Versammlung selbst zu verdeutlichen. Bei einer virtuellen Edition jedoch kann die Anordnung der Dokumente gegenüber dem Benutzer je nach Fragestellung eigens generiert werden. So kann man z.B. alle Elemente eines Vorgangs in chronologischer Reihenfolge einsehen und alle Entwürfe, Instruktionen und Debatten, die zu einem Beschluß geführt haben, ebenso wie alle späteren Bestätigungen und Modifizierungen zusammenfügen.
Zudem bieten Hypertexteditionen den Vorteil der Dynamik.
Hinzu kommt, daß der Benutzer viel gezielter suchen kann. Alle modernen Suchprogramme bieten die Möglichkeit einer komplexen Suche, die die logischen Operatoren UND, ODER, NICHT zu Hilfe nimmt, so daß die Rückmeldung der Suchmaschine nur die Stücke nennt, die etwa die Begriffe 'Danzig' UND 'Münze' enthalten. Benutzt man das Tübinger Programm TUSTEP als Grundlage für eine Datenbank, so sind wesentlich komplexere Suchmöglichkeiten gegeben.11 Allerdings funktioniert die automatische Indizierung durch TUSTEP nur, wenn die Grunddaten völlig einheitlich eingegeben worden sind, so daß eine Zeichenkette eindeutig als Indizierungselement identifizierbar ist. So muß um ein Beispiel aus dem Repertorium Germanicum anzuführen "klein-s, gefolgt von einer Leertaste, gefolgt von einem Großbuchstaben, gefolgt von beliebig vielen Kleinbuchstaben" immer ein Patrozinium bezeichnen und darf unter gar keinen Umständen "siehe" bedeuten. Immerhin kann man mit TUSTEP kollosale Datenmengen automatisch und schnell indizieren das Repertorium Germanicum für die Zeit Eugens IV. umfaßt eine halbe Million Datensätze, die in weniger als eine Stunde indiziert werden können. In diesem Datenbestand kann man komplexe Suchen durchführen, um beispielsweise eine chronologisch und nach Diözesen geordnete Liste aller Nikolaus-Patrozinien im Reichsgebiet zu generieren. TUSTEP ermöglicht auch ein hohes Maß an Flexibilität. Dies wäre von unschätzbarem Wert für die Forschung, haben wir doch alle die Erfahrung gemacht, daß man mit einer Fragestellung beginnt und die dazu passenden Quellen sucht, dann merkt, daß man eigentlich auf etwas hätte achten sollen, was man zunächst für irrelevant gehalten hatte. Während man früher alle bereits aufgearbeiteten Quellen noch einmal gezielt durchsuchen mußte, erlaubt es TUSTEP, zwischenzeitlich als einschlägig erkannte Informationen mühelos abzufordern. Die Datenbank hält Schritt mit der sich entwickelnden Fragestellung.
Darüber hinaus kann man die Quellen sowohl lokal als auch zentral verschlagworten. Bereits jetzt kann der Benutzer der CD-ROM der Regesta Imperii für die Zeit Friedrichs III.12 eigene Notizen eintragen, die lokal auf der Festplatte gespeichert werden und jedes Mal erscheinen, wenn das Regest eingesehen wird. Ein dynamisches, benutzergetriebenes Modell der zentralen Quellenverschlagwortung könnte so funktionieren: Am Anfang der Sitzung gibt der Benutzer seinen Namen und sein momentanes Forschungsanliegen mit einigen Stichworten an. Beim Verlassen einer jeden Datei, wird er gefragt, ob sie unter einem der von ihm genannten Schlagwörter indiziert werden sollte.13 So könnte man nach und nach einen Index selbst zu sehr umfangreichen Quellenbeständen aufbauen. Durch den Austausch der Indizierungsdaten wäre es möglich, einen Gesamtindex zu sämtlichen mittelalterlichen Beständen in Europa zu generieren.
All diesen Gefahren kann man jedoch durch eine behutsame Dezentralisierung der Bestände vorbeugen, ohne daß die Vorzüge des universalen Zugriffs verloren gehen. Zur Textsicherung muß eine begrenzten Anzahl von Ausdrücken hinterlegt werden. Für den tagtäglichen wissenschaftlichen Gebrauch genügen CD-ROMs, die eine Lebensdauer von ca. 30-50 Jahren haben (wie Fotokopien, die auch allmählich unlesbar werden) und nicht manipulierbar sind. Angesichts ihrer niedrigen Kosten könnten sie leicht neu aufgelegt werden und verlören somit nicht den Anschluß an den aktuellen Stand der technischen Entwicklung. Für das Problem der dauerhaften Sicherung virtueller Veröffentlichungen gibt es zur Zeit keine wirklich befriedigende Lösung, zumal die Schwierigkeit doppelter Natur ist: Erforderlich ist nicht nur ein langlebiger Datenträger für die dauerhafte physikalische Sicherung der Daten, sondern auch eine langfristig lesbare Speichersprache, damit die Texte trotz aller Techniksprünge lesbar bleiben.
Aus erartigen Erwägungen muß sich der Entschluß ergeben, sowohl in der Auswahl der Unterlagen als auch in ihre Anordnung eine quellen- und gattungsgerechtere Form der Wiedergabe zu erreichen. Jede Quelle und jede Quellengattung hat ihre Eigenart, die durch die bisherige Editionstechnik nur unvollkommen wiedergegeben wird und die man dem Leser effektiver verdeutlichen möchte. So beginnt man, die Gestaltungsmöglichkeiten von HTML auszuloten. Man kann sich z.B. fragen, ob etwa durch Hierarchisierung der Informationen eine Form der Quellenwiedergabe erreichen wird, die der Quelle gerechter ist und zudem leichter zu benutzen ist.
Als konkretes Beispiel habe ich den Hansetag gewählt, der vom 20. Mai bis zum 28. Juli 1417 tagte.18 Ich möchte zunächst auf die Tektonik der virtuellen Edition hinweisen.
Tektonik der virtuellen Edition des Hansetages vom 20. Mai bis zum 28. Juli 1417 | |||
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Einsprungseite: Inhaltsverzeichnis des Gesamtbandes HR 1.6. (unterteilt in Jahren) dort eingelinkt ============> | ==>Chronologische Auflistung aller Einzelstücke ==>Namensverzeichnis ==>Ortsverzeichnis ==>Sachverzeichnis | ||
A. Vorakten B. Rezeß C. Beilagen D. Korrespondenz der Versammlung E. Korrespondenz der Ratssendeboten F. Nachträgliche Verhandlungen G. Anhang Einzelstücke mit Regest, Text, textkritischen Anmerkungen | (Querverweise elektronisch) |
2) Im Rezeß selbst zeigt der Wegweiser die Druckseiten und Paragraphen von Koppmanns Edition an, so daß man ohne zu blättern rasch zu einer Seite oder einem Paragraphen kommt. Die textkritischen Anmerkungen und inhaltlichen Fußnoten erscheinen auf Mausklick im unteren Fenster. Die Briefe, die der Hansetag erhalten oder weggeschickt hat und die Bestandteil des Rezesses bilden, jedoch von Koppmann ausgegliedert worden sind, habe ich ebenfalls eingelinkt, so daß sie leicht einsehbar sind.
Nun könnte man sehr wohl einwenden, daß ich der Konzeption von Waitz und Koppmann zu treu geblieben bin. Insbesondere habe ich einige Ungereimtheiten von Koppmanns Ausgabe unverändert belassen, so z.B. die Einordnung der Belege über die vorbereitenden Gespräche der Zuiderzeestädte im Vorfeld des Hansetags (Nr. 442, 443), die eigentlich zu den 'Vorakten' gehören müßten, unter Koppmanns Rubrik 'Anhang'. Zudem habe ich vorerst keine bessere sachliche Erschließung des Materials angeboten als Koppmann selbst. Ein Stichwortverzeichnis und eine Freitextsuche stellen hier nur den Anfang dar: man könnte darüber hinaus an übergeordnete Seiten denken, die das gesamte Material zu Flandern oder zum dänisch-holsteinischen Krieg zusammenbringen. Außerdem scheinen mir Ergänzungen des Materials etwa um die von Koppmann als nur landständisch unterschlagenen preußischen Unterlagen dringend geboten. Wie dem auch sei: ich hoffe, in diesem Vortrag deutlich gemacht zu haben, daß uns die Neuen Medien eine einmalige Möglichkeit bieten, unsere Forschungsarbeit zu verbessern.
CD-ROM | 51/4" Scheibe, auf der die Daten als physikalische Höhen und Tiefen eingebrannt werden, die von einem Laserstrahl abgelesen werden: Speicherkapazität: 650 MB (ca. 220.000 Druckseiten) |
Computerviren | Programme, die der Benutzer nicht wissentlich auf seinen PC lädt und die schädliche Funktionen (Löschen von Daten usw.) ausführen |
Datenträger | alles, worauf Daten gespeichert werden können (Diskette, Festplatte, CD-ROM, Magnetband usw.) |
Freitextsuche | die Möglichkeit, jedes beliebige Wort bzw. ganze Wortgruppen in einer oder mehreren Dateien zu suchen |
HTML | Formattierungs-'Sprache' für Netzdateien mit einfachsten Mitteln, die von jedem PC dieser Welt eingelesen werden kann (also 'plattformunabhängig' ist) |
Hypertext | Kombination verschiedener, miteinander elektronisch verbundener Texte, Bilder, Geräusche, Videos usw. |
Link | Verbindung zwischen zwei Dateien: das Stichwort wird andersfarbig und unterstrichen dargestellt; wenn man mit der Maus darauf klickt, wird die Zieldatei geholt |
MB | Megabyte (gut 1 Mio. Anschläge) |
modulare Editionsform | Mitarbeiter (u.U. an mehreren Standorten) edieren selbständig, speichern die Ergebnisse lokal ab und melden das Ergebnis (z.B. mit Regest) an eine zentrale Stelle |
Formattierungs-'Sprache' mit eindeutiger Seiten- und Zeileneinteilung, jedoch mit vielen Gestaltungsmöglichkeiten (u.a. Links, jedoch auch Indizierung); Lektüre von PDF-Dateien erfordert ein besonderes Programm (PDF-Reader), das aber kostenlos ist | |
Suchmaschine | ein Programm zur Indizierung von Netzdateien, die eine Freitextsuche ermöglicht |
TUSTEP | Tübinger Programm für Texterfassung, Statistik und Indizierung: TUSTEP-Homepage |
Virtueller Text | ungedruckter, nur auf Datenträgern existierender Text; heute normalerweise in HTML oder PDF geschrieben |
Zeichenkette | beliebige Kombination von Buchstaben und/oder Zahlen |
Datum der Erstanlage: 19. Oktober 1999 Letzte Änderung: 27. Oktober 1999 von Stuart Jenks (für ein korrekt adressiertes E-Post-Formular meinen Namen mit der Maus anklicken!)