Studienbibliographie zur neueren
skandinavistischen und fennistischen Literaturwissenschaft

2.3.1 Prosa und Erzähltheorie

Die Entwicklung ist verwickelt: Strukturalisten und Semiologen, Narratologen und Formalisten oder einfach nur Erzählforscher haben mit der Zeit ein Instrumentarium nebst zugehöriger Terminologie produziert, welches gelegentlich sehr ähnlich klingt und doch mitunter (fast) das Gegenteil meint (Beispiel: die unterschiedliche Verwendung der Begriffe Sujet/Fabel im russischen Formalismus und in der deutschen Erzähltheorie bzw. entsprechend plot/story im englischen Sprachraum). Einen wirklichen Einblick verschafft allein die Lektüre verschiedener Modelle; für den groben Durchblick genügen aber beispielsweise die folgenden beiden Titel:


Martinez, Matias, u. Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie

9., erw. u. aktual. Aufl. München: C.H. Beck, 2012.

Martinez und Scheffel bieten mit ihrer Einführung eine übersichtliche und verständliche Darstellung erzähltheoretischer Ansätze und Terminologien, wobei sie auf zahlreiche Beispiele aus verschiedenen Literaturen und Epochen verweisen. Mit einem Lexikon und Register erzähltheoretischer Begriffe sowie Hinweisen zur Forschungsliteratur. [KaP]


Vogt, Jochen: Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie

11., aktual. Aufl. Opladen: Westdeutscher, 2014 (= WV studium; 145).

Vogt beschreibt selbst am besten die Zielsetzung seines Ansatzes (und dessen Beschränkungen): »Unter dem Aspekt der Didaktik der Erzähltheorie […] scheint mir […] der Wert des älteren Paradigmas, das man einmal augenzwinkernd den ›niederen Strukturalismus‹ deutscher Provenienz genannt hat, nach wie vor unbezweifelbar. Es hält anders als manche kommunikationstheoretischen Ansätze den begrifflichen Aufwand in Grenzen; es bleibt, im Gegensatz zu manchen strukturalistischen Analysen, nahe genug am Text, um auch komplexe Prosaformen und eigenwillige Schreibweisen zu erfassen, ohne den Text wiederum […] in ein Spiel konnotativer Beliebigkeiten aufzulösen.« Als Einführung genau das Richtige (abgesehen von den störend langen Anmerkungen). [TFS]


Fludernik, Monika: Erzähltheorie. Eine Einführung

4., durchges. Aufl. Darmstadt: Wiss. Buchges., 2013.

Flüssiger zu lesen als Vogt. Fludernik hat selbst den Anspruch, [Vorwort:] »komplexe Sachverhalte so zu durchdenken, dass sie realtiv simpel dargelegt werden konnten.« Dies ist ihr in diesem empfehlenswerten Einführungswerk gelungen. Das Buch enthält zudem eine deutschsprachige Zusammenfassung ihres eigenen Erzähltheoretischen Modells Towards a ›Natural‹ Narratology. Im letzten Teil des Buches gibt Fludernik drei Interpretationsbeispiele und ein hilfreiches Kapitel »Dos und Don'ts«. [ChB]


Kahrmann, Cordula, Gunter Reiß u. Manfred Schluchter: Erzähltextanalyse. Eine Einführung mit Studien- und Übungstexten

4. Aufl. der überarbeiteten Neuausgabe des früher zweibändigen Taschenbuchs. Bodenheim: Beltz Athenäum, 1996 (= Athenäum Studienbuch: Literaturwissenschaft).

Dieser kommunikationstheoretisch begründete Ansatz definiert literarische Texte als »Texte in kommunikativer Funktion«. Auf dieser Grundlage entwickeln die Autoren ein Kommunikationsmodell des Erzählens, das – bei einer Grobdifferenzierung in einen textinternen und einen textexternen Bereich – insgesamt fünf verschiedene Niveaus unterscheidet. Textextern sind z.B. der reale Autor und der intendierte Leser, textintern der fiktive Erzähler, die Figuren, der implizite Autor und der fiktive Adressat. Auf diese Weise ermöglicht das Modell eine Auffächerung der Annäherung an den Text je nach ›Erkenntnisinteresse‹, wobei der neu eingeführte Begriff der ›Textintentionalität‹ immer einen ›Überschuss‹ annimmt, der über jede Autorintention hinausgehe. Didaktisch gut aufgebaut und am Beispiel eines Textes von Friedrich Hebbel durchexerziert beschließen den Band einige ähnlich gelagerte Ansätze anderer Autoren (in Auszügen) sowie eine Reihe von Übungstexten. [TFS]


Nielsen, Erik A., u. Svend Skriver: Dansk litterær analyse. Grundbog med antologi

3. Aufl. Kbh: Akademisk Forlag, 2005.

[Werbetext:] »En indføring i tekstanalysens grundbegreber med et sammenhængende overblik over de mange teksttyper, man møder i sin omgang med litteratur fra mange århundreder. I den fyldige antologi finder man mange af de tekster, der tages under behandling i bogens første, analytiske del. En guldgrube for den læselystne, der kunne tænke sig at trænge dybere ind i litteraturen. En opdatert udgave af bøgerne ›Livsbilleder‹ fra 1991.«


Aarseth, Asbjørn: Episke Strukturer. Innføring i anvendt fortellingsteori

2. Ausg., 3. Aufl. Bergen, Tromsø u. Oslo: Universitetsforlaget, 1991.

Eine norwegische Einführung in die Narratologie, wobei im ersten Teil eine Definition des Gattungsbegriffes ›Epik‹ versucht wird, während im zweiten Teil auf vier Untergattungen (Saga, Märchen, Erzählung und Roman) sowie ihre Analyse näher eingegangen wird. Teil 3 behandelt schließlich noch einzelne Problemstellungen, die über die epische Gattung hinausreichen. Obwohl nicht mehr auf dem neuesten Stand der Forschung doch recht interessant, weil skandinavische Forschungsbeiträge zur Narratologie einbezogen und vorwiegend nordische bzw. norwegische Primärtexte zur Exemplifizierung herangezogen werden. Mit einem Glossar zur Narratologie, Abdruck einiger Beispieltexte sowie Werk- und Autorenregister. [TFS]


Steinecke, Hartmut, u. Fritz Wahrenburg (Hg.): Romantheorie. Texte vom Barock bis zur Gegenwart

Stuttgart: Reclam, 1999.

Nach knapper Einführung in die Gattungsgeschichte enthält die Anthologie 118 Grundlagentexte zur Romantheorie mit jeweils einem (von Reclam-Büchern gewohnt) knappen Einführungsabsatz, der den Text kontextualisiert und gelegentlich auf weitere romantheoretische Überlegungen des Autors eingeht. Die Zeitspanne wird von den Herausgebern selbst auf »400 Jahre deutschsprachiger Romandiskussion« eingegrenzt. In der Regel handelt es sich um die Originaltexte (Erstdrucke). Enthält Literaturverzeichnis, Autoren- und Werkregister. [ChB]


Lämmert, Eberhard: Bauformen des Erzählens

9., unveränd. Aufl. Stuttgart: Metzler, 2004 [1. Aufl. 1955].

Zentral für Lämmerts Ansatz ist die Zeitlichkeit des Erzählens und deren Besonderheit(en). Ausgehend von der im Grunde dichotomischen Unterscheidung zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit untersucht Lämmert gewissermaßen ›morphologisch‹ einzelne Phänomene wie Raffung und Aussparung, Auswahl und Andeutung, Rückgriff und Vorausschau, in einem weiteren Sinne das Gefüge der Handlungsstränge, den Ablauf der Handlungsphasen sowie die Mehrschichtigkeit und das Ineinandergreifen von Aktion und Rede. Anders als so vieles aus den fünfziger Jahren hat sich diese typisierende Darstellung von Erzählformen bis heute gehalten und wird auch von gegenwärtigen Forschern (z.B. Genette) gelten gelassen. [TFS]


Genette, Gerard: Die Erzählung

[Discours du récit; 1972, u.: Nouveau discours du récit; 1983.] Übers. v. Andreas Knop. 3., durchges. u. korr. Aufl. München: Fink, 2010 (= utb; 8083).

In einer Weiterentwicklung strukturalistischer Modelle versucht Genette, einerseits Regeln und Strukturen des Erzählens, andererseits eine brauchbare Analysemethode sowie ein präzises Instrumentarium zu entwickeln. Dazu unterscheidet er drei Aspekte: die Erzählung selbst als narrative Äußerung (récit), die Folge der Ereignisse bzw. die Geschichte (histoire) und das Erzählen als Ereignis (narration). Es sind vor allem deren Beziehungen untereinander, die Genette interessieren: zwischen Erzählung und Geschichte zum einen (récit/histoire), zum anderen zwischen Erzählung und Erzählen (récit/narration). In einer weiteren Differenzierung, die er sodann in zahlreiche Figuren auffächert, unterscheidet Genette noch einmal Zeit, Modus und Stimme als zusätzliche konstitutive Elemente des Erzählens und bringt diese ihrerseits in Relation zu den drei genannten Aspekten. Bei soviel Komplexität wundert das gewählte Beispiel niemanden mehr: Es handelt sich um Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. [TFS]


Booth, Wayne C[layson]: Die Rhetorik der Erzählkunst

[The Rhetoric of Fiction; 1961.]. Übers. v. Alexander Polzin. 2 Bde. Heidelberg: Quelle & Meyer, 1974 (= utb; 384/85).

»The Rhetoric of Fiction« ist nach wie vor ein Klassiker der Erzähltheorie, vor allem wegen seiner grundsätzlichen Feststellung, dass alle Literatur rhetorisch sei, also Überredungscharakter besitze (und damit ein moralisches Ziel verfolge), aber auch, weil Booth auf der Anwesenheit des Autors im Werk insistiert, die sich in Normen und Werturteilen äußere. Auf den von Booth entwickelten und nach wie vor gebräuchlichen Termini des ›implizierten Autors‹, des ›unzuverlässigen Erzählers‹ oder des ›postulierten Lesers‹ fußen wiederum andere Modelle, z.B. dasjenige von Kahrmann, Reiß und Schluchter. Während Booth vor allem für seine Ansicht eines ›moralischen Zwecks‹ von Literatur viel Kritik einstecken musste, ist seine Annahme des Rhetorischen äußerst virulent (vgl. ›Dekonstruktion‹ in Abschnitt 2.3.4 (vor allem de Man und Derrida) sowie Abschnitt 2.4). [TFS]



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